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Ist Glaube nur psychologisch erklärbar?


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Rolf

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Ist Glaube nur psychologisch erklärbar?




Psychologie im Wandel:
Von der Religionskritik zur Glaubensvertiefung



MICHAEL UTSCH

Im Gefolge des beindruckenden wissenschaftlichen Fortschritts hat sich bei vielen der Glaube eingenistet, bald auch alle Motive und Ursachen menschlichen Verhaltens erklären und vorhersagen zu können. Analog zur technischen Machbarkeit wird die Psychologie häufig mit dem Anspruch belegt, diese moderne Sozial- und Verhaltenswissenschaft könne Regulations- und Kontrollmöglichkeiten für die Seele zur Verfügung stellen. Ausgehend von den technischen Errungenschaften werden in der Regel hohe Erwartungen an psychologische Maßnahmen und Behandlungen geknüpft. Die wissenschaftliche Psychologie müsse doch in der Lage sein, seelische Probleme wie Ängste, Unsicherheiten oder Zwangsvorstellungen nachhaltig zu beseitigen oder erwünschtes Verhalten gezielt hervorzurufen. Analog den umwälzenden Fortschritten in den Informationstechnologien (Telefon, Fernsehen, Computer, Internet), der Fahrzeugtechnik (Auto, Flugzeug, Eisenbahn) oder der Medizin (Ultraschall, Operationstechnik) werden ähnliche Gestaltungs- und Veränderungsmöglichkeiten auch von der Psychologie erwartet.

Besonders der medizintechnische Fortschritt nährt die Hoffnung, dass es bald möglich sein könnte, durch Medikamente erwünschte Seelenzustände nach Belieben herzustellen - Glück auf Rezept. Analog der Bio- und Medizintechnik ist die Vorstellung weit verbreitet, dass sich der Mensch mit Hilfe geeigneter Psychotechniken umfassend ändern und von lästigen Schwächen und Fehlern befreien könne.

Der Psychologie fällt heute eine imposante Deutungsmacht zu. Aber gibt es wirklich eine Art psychologischen Bypass für die dunklen Seiten der Seele? Schon Blaise Pascal wusste: « Le coeur a ses raisons que la raison ne connaît point »1. Das menschliche Herz steht in besonderen Begründungszusammenhängen, die sich einer logischen Erklärung entziehen. Das Seelenleben folgt eigenen Regeln und Gesetzen. Die verbreitete populärwissenschaftliche Meinung, mittels sozialwissenschaftlicher Methoden sei die "Psycho-Logik" des Menschen bald gänzlich zu entschlüsseln, muss als unangemessene Überheblichkeit entlarvt werden. Das umgangssprachliche Wissen, das vom "bon sens" spricht, weiß hier mehr. Der gesunde Menschenverstand ist eben viel mehr als der analysierende Intellekt, speist er sich doch hauptsächlich aus intuitivem Gespür. Nach Pascal erkennen wir die Wahrheit "nicht allein mit der Vernunft, sondern auch und vor allem mit dem Herzen".2

Im Hinblick auf den religiösen Glauben, spirituelle Erfahrungen und religiöses Verhalten steht die Psychologie vor der Frage, ob sie derartige Berichte als pathologisch abtut, oder ob sie darin eine Bewältigungshilfe und Ressource sehen kann. Schaut man sich darauf hin die gut hundertjährige Geschichte der Psychologie an, stellt man dort eine erstaunliche Kehrtwende fest. Nachdem zu Beginn dieser neuartigen Forschungsrichtung die Religionskritik in Mittelpunkt stand - besonders gefördert durch die klassische Psychoanalyse, tragen heute manche psychologischen Richtungen gerade dazu bei, die persönliche Glaubensvertiefung zu fördern.3 Dieser Richtungswechsel wird im folgenden Text in fünf Schritten nachgezeichnet und mit den folgenden Schwerpunkten untersucht:

1. Psychologie - eine moderne Heilslehre
2. Theologie und Psychologie im Streit um die Seele
3. Drei psychologische Religionsmodelle
a. Sehnsucht nach dem Vater: Die Psychoanalyse
b. Lebensziel Selbstverwirklichung: Die Humanistische Psychologie
c. Einheit mit dem Kosmos: Die Transpersonale Psychologie
4. Psychologische Anfragen an den christlichen Glauben
5. Psychologische Hilfen zur Glaubensvertiefung



1. Psychologie - eine moderne Heilslehre

Psychologische Deutungen haben Konjunktur. Ihr Rat ist in der Wirtschaft, den Medien, der Konfliktberatung und selbst in den Kirchen geschätzt und gefragt. In allen persönlichen Lebensbereichen, aber auch in der Politik, der Unternehmensführung und dem Sport sind heute psychologische Erklärungen maßgeblich und entscheidend. Psychologische Faktoren beeinflussen die Partnerwahl und das Bewerbungsgespräch, die Aktienkurse und den Wahlkampfausgang. An der mentalen Haltung vor dem Sportwettkampf wird intensiv gearbeitet, Manager buchen Selbsterfahrungsgruppen, und sowohl Versicherungsmakler als auch Pfarrer lassen sich psychologisch schulen. Ohne Coaching, Finanzberatung und Organisationsentwicklung scheint keine Firma mehr auszukommen. Psychologische Ratgeber für alle möglichen Lebenslagen sind eine der wenigen Wachstumsnischen auf dem angeschlagenen Buchmarkt. Wie Talkshows ohne psychologische Experten oder Zeitschriften ohne die einschlägige Ratgeberkolumne undenkbar geworden sind, kommen auch viele persönliche Gespräche nicht mehr ohne psychologisierende Deutungen aus. Soziologen haben diesen Trend zutreffend als eine "Therapeutisierung der Lebenswelt" bezeichnet. Beratung ist zu einem Zauberwort geworden, und manche rufen gar nach einem "Lifecoach", der in allen Lebenslagen Orientierung geben und Entscheidungshilfe leisten soll.4

Psychologische Einsichten und Erklärungen haben unser Bild vom Menschen verändert. Freud sprach von drei Demütigungen für die Menschheit - Galileis Entdeckung der Erdumlaufbahn um die Sonne, Darwins Evolutionstheorie und seine eigene Psychologie des Unbewussten. Demnach sei nicht das Ich Herr im Hause, sondern alles Denken, Fühlen und Handeln hänge mit unbewussten Wünschen und Motiven zusammen. In der Tat hat die Psychologie die Gegenwart nachhaltig geprägt. Psychologische Termini zählen heute wie selbstverständlich zum allgemeinen Sprachgut, vielfach ohne dass ihre Herkunft und genaue Bedeutung bekannt wäre. Frustration, unbewusst, Depression, neurotisch, Verdrängung, narzisstisch und viele weitere (tiefen-)psychologische Fachbegriffe gehören zur Umgangssprache. Damit ist ihre Sichtweise und in ihr transportierte Ideale - auch wenn sie vielfältig und widersprüchlich sind - zum Allgemeingut geworden.

Im Zeitalter der Individualisierung und Pluralisierung kommt der Psychologie, die als eigenständige Wissenschafts-Disziplin gerade einmal etwas mehr als hundert Jahre existiert, eine wachsende Bedeutung zu. Denn viele erhoffen sich von Psychologie eine Orientierung, um unter den verwirrend vielen, gleich gültigen Lebensstil-Optionen die individuell passende Variante herauszufinden. Von allen wissenschaftlichen Unternehmungen besitze die Psychologie die größte Tragweite, meint der amerikanische Wissenschaftspublizist John Horgan: "Selbst pseudowissenschaftliche Erklärungen der menschlichen Natur haben die Macht, den Lauf der Geschichte zu verändern. Die Bewegungen, die von Karl Marx und Sigmund Freud ins Leben gerufen wurden und die implizite Theorien über die menschliche Natur enthalten, haben dies gezeigt".5

Weil die Psychologie als Lehre vom menschlichen Erleben und Verhalten bei Laien häufig die Hoffnung weckt, bald jegliche seelische Regung erklären, kontrollieren und verändern zu können, wird ihr häufig ehrfürchtig gegenüber getreten. Dagegen sind die Fachleute hinsichtlich der Vorhersag- und Steuerbarkeit seelischer Reaktionen skeptischer und bescheidener. Aus heutiger Sicht besitzt das komplexe Zusammenwirken von Anlage und Umwelt, Person und Situation, Genen und Gewohnheiten eine relativ stabile Eigendynamik und lässt sich psychologisch viel weniger beeinflussen, als man früher noch dachte.

Dennoch scheint das Vertrauen in das psychologische Gestaltungsvermögen ungebrochen. Mit einem populärpsychologisch (halb-)gebildeten Blick nach innen suchen viele Trost, Hoffnung, Halt und Orientierung bei psychologischen Erklärungen. Im Zuge dieses Wechsels werden für das Seelenheil der Menschen immer weniger die Pfarrer und Priester und immer mehr die Ärzte und Psychotherapeuten zu Rate gezogen. Die Psychologie übernimmt damit Aufgaben, die früher dem religiösen Glauben zufielen und vom kirchlichen Gemeindeleben übernommen wurden - viele sprechen ihr weltanschauliche Orientierungskompetenz zu.

Experten prognostizieren einen weiter wachsenden Bedarf auf dem Gebiet der Beratung, Psychotherapie und besonders der Personal- und Managementschulung. Nach Recherchen sind in den letzten Jahren weltweit die meisten neuen Arbeitsplätze im Gesundheitswesen und in den Bereichen der psychologischen Fort- und Weiterbildung entstanden. In Deutschland bieten ein gutes halbes Jahrhundert nach dem Kriegsdesaster und dem Wiederaufbau - gemessen an der Bevölkerungszahl - hier weltweit die meisten Psychotherapeuten ihre Dienste an. Bedarf und Nachwuchs erscheinen unerschöpflich zu sein. Wenn damit wirklich der spätmodernen Erkrankung einer "neurotischen Störung" begegnet werden soll, müsste sie sich allerdings epidemieartig verbreitet haben. Vielleicht ist die enorme Nachfrage nach psychotherapeutischer Behandlung eher ein Hinweis auf das "Zeitalter des Narzissmus'", zu dessen Ausbreitung und Verfestigung die Psychotherapie mit ihren Angeboten ungewollt beiträgt.

Die Psychologie übernahm ihr Leitbild vom Humanismus, der großen Aufklärungs- und Befreiungsbewegung des 18. Jahrhunderts. In dieser Zeit vollzog sich ein bemerkenswerter Wandel von der Magie zur Wissenschaft.6 Für die Heilkunde hatte das zur Folge, dass sie ihre traditionellen mystischen und okkulten Anteile aufgab. Der "akademisch ausgebildete Arzt verdrängte den Heiler, der Operateur den Bader, die Bestrahlung das Brenneisen und das Gespräch die Beschwörung".7 Selbstbestimmung, Transparenz der Methoden und Theorien sowie die rationale Kontrolle über das unberechenbare Seelenleben waren die Leitbilder, mit denen auch die Psychotherapie angetreten ist. Diese Auffassung ist geprägt vom positivistischen Glauben an die Lebenskraft von Naturwissenschaft und Technik. In der modernen Gesellschaft ist also die Gesundheit an die Stelle des Heils getreten, und das Medikament ersetzt die Teilnahme am Abendmahl.

Fast scheint es so, als sei die Psychologie als weltanschauliche Ersatzbildung an die Stelle früher dominierender Sinndeutungen getreten. Neben der Religion und der Naturwissenschaft ist nämlich "das psychosoziale System ein Grundbestandteil unserer Gesellschaft geworden, dessen Bedeutung und Ausdehnung eher wachsen als abnehmen wird: eine dritte Kirche". 8

Besonders gefragt sind heutzutage Seminarangebote, die der individualisierten sowie spaß- und karriereorientierten Lebenswelt dienen. Dazu zählen psychologisch verbrämte Seminarangebote mit utopischen Erfolgsversprechen. Keine ambitionierte Firma verzichtet mehr auf Coaching, Personalentwicklung und Persönlichkeitstrainings. Beurteilungskriterien für diesen unübersichtlichen Markt sind Mangelware. Die Aussicht auf individuelle Wunschverwirklichung mit Hilfe psychologischer "Tricks" hat sich zu einem lukrativen Geschäft entwickelt. Durch die hohe Nachfrage sind manche unqualifizierte Geschäftemacher auf diesem Weiterbildungssektor tätig, die zu blenden verstehen. Wellness-Wochenenden liegen ganz im Trend, die sowohl Muskelentspannung, Maniküre als auch Meditatives im Programm führen. Immer wieder wird die Ganzheitlichkeit beschworen - was immer das auch sein mag. Zahlreiche Varianten des Positiven Denkens verheißen das Erreichen kindlicher Träume und Sehnsüchte. Mit Versprechen wie "Lebe deine Träume" oder "Mit vierzig Millionär" wird die Seminarkundschaft gelockt. Bei Misserfolg hat man noch nicht in der richtigen Weise daran geglaubt, und der Zusatzkurs "Mentales Zieltraining" soll Abhilfe schaffen. Im Rahmen seiner "Power-Seminare" vermittelt deshalb zum Beispiel Anthony Robbins, der auch in den eigenen Reihen umstrittene NLP-Trainer und Star-Coach, in einer speziellen Trainingseinheit die "Psychologie der Erfolgskonditionierung".9

War früher die Einübung religiöser Praktiken für viele selbstverständlich und kirchliche Bindungen normal, hat heutzutage diese Aufgaben der Lebens- und Selbstvergewisserung die Psychologie übernommen. Dabei ist der Trend von psychologischer Heilbehandlung zu spiritueller Heilsvermittlung unübersehbar: Mit Therapie, Coaching und pseudopsychologischen Einsichten sollen existentielle Lebensfragen beantwortet werden. Derartige Behandlungen bekommen den Charakter einer Weltanschauung und treten in den Status einer "Säkularreligion".

Viele Psychotherapeuten verwenden Schulenmeinungen, in denen sie ausgebildet wurden, als "Muster der Lebenserklärung, quasireligiöse Wahrheitsdiskurse ... und bringen sie für sich selbst und ihre eigenen Probleme zur Anwendung: sie haben vielleicht mit einer Psychoanalyse begonnen, und als diese zur Lebenserklärung und Problembewältigung nicht ausreichte, suchten sie nach einer neuen Konfession und rituellen Praxis".10

In dem Maß, wie der persönliche Glaube und die Kirche an Bedeutung verloren, nahm der Einfluss psychologischer Erklärungen mit dem Anspruch auf Lebensdeutung und Sinngebung zu. Zu dieser Bedeutungsverschiebung haben die Kirchen leider selbst mit beigetragen. Der markante Begriff der "Selbstsäkularisierung" (W. Huber) bringt den Verlust seelsorgerischer und spiritueller Kompetenz der Kirchen treffend auf den Punkt.

Gesundheit und Heilung

Viele Gesundheitsexperten können sich nicht vorstellen, dass Religion etwas mit seelischer und körperlicher Gesundheit zu tun haben könnte, was jedoch neuere Forschungsergebnisse belegen. Umfragen zufolge sind Psychiater und Psychotherapeuten eher Menschen, die selber wenig Beziehungen zu einer Religion oder einem persönlichen Glauben haben. Vielleicht liegt es daran, dass sie durch ihren Beruf versuchen müssen, Erklärungen für unverständliche und ungewöhnliche Verhaltensweisen zu finden. Im Rückgriff auf eine Krankheitsmodell und eine Theorie der Gesundung versuchen sie als Experten, das Erleben und Verhalten eines Patienten verständlich und erklärbar zu machen. Religiös-spirituelle Erfahrungen entziehen sich dagegen einer rationalen Erklärung, weil ein wesentlicher Bestandteil dieser Erfahrungen - Gott oder eine übermenschliche Wirklichkeit - der wissenschaftlichen Betrachtungsweise nicht zugänglich ist.

Deshalb ist der Versuch einer Verbindung von Psychologie und Religion brisant und eine Gratwanderung. Wie ist Religion aus psychologischer Sicht überwiegend zu bewerten? Als ein Krankheitsherd, den man bekämpfen und ausrotten sollte, oder als ein Gesundheitspotential, das man entdecken und entwickeln sollte? Ist mit dem bekannten Psychoanalytiker Tilmann Moser eher von der "Gottesvergiftung" zu sprechen - Gott als ein gewalttätiger und unbarmherziger Patriarch, der über den absoluten Gehorsam seiner Untergebenen wacht?11 Gerade Psychiater und Psychotherapeuten reagieren hierzulande häufig noch mit Misstrauen und Skepsis gegenüber einer persönlichen Religiosität. Offensichtlich keimt in ihnen schnell der Neuroseverdacht. Oder kann Religion auch so etwas sein wie eine Heilmethode oder Gottestherapie, die persönliche Mängel, Ängste, Schwächen und Fehler ausgleichen und wettmachen kann?12

2. Theologie und Psychologie im Streit um die Seele

Das Thema ist brisant, weil die ausgeprägte Rivalität zwischen Psychologie und Theologie einen gemeinsamen Dialog bisher erschwert haben. Das umworbene Streitobjekt von Psychologie und Theologie ist die Seele - ihr Wesen, ihre Bestimmung und den Weg zu ihrer bestmöglichen Entfaltung. Häufig werden die Erkenntnisse der Gegenseite nur selektiv wahrgenommen und aktuelle Entwicklungen ignoriert. Beide Sichtweisen gingen mit ihren Interpretationen und Erklärungen an den Einsichten des Gegenübers vorbei, herrscht doch "in einem Paradigma ein theologisches, im anderen ein therapeutisches Deutungsmonopol".13 Auch dadurch wurde ein konstruktives Miteinander verhindert.

Die Psychologie hat seit ihrer Begründung als eigenständige Wissenschaft der Theologie die Deutungsmacht über die Natur des Menschen streitig gemacht. Empirisch gewonnene Einsichten aus Fragebogenuntersuchungen und psychologische Datenberechnungen und -interpretationen haben die philosophische Anthropologie und theologische Exegese und Hermeneutik abgelöst und neue Menschenbilder hervorgebracht.14 Dabei sind auch utopische Idealbilder und ideologisch aufgeladene Modelle entstanden.15

Nach der Einschätzung einiger Kulturkritiker haben psychologische Deutungen deshalb einen derartig durchschlagenden Erfolg und enorme Prägekraft entwickelt, weil dort die Entzauberung der äußeren Natur durch die Technik durch eine Verzauberung der inneren Natur ersetzt werde. Unübersehbar ist die westliche Kultur von einer weitreichenden Psychologisierung der Lebenswelt geprägt, deren Schattenseiten häufig übersehen werden.16 Im Alleingang ließ die Psychologie das Korrektiv philosophischer und theologischer Reflexionen und Einsichten beiseite, wodurch besonders grundlegende Fragen hinsichtlich des Menschenbildes vernachlässigt wurden.17

Die fundamentale Frage nach dem Wesen des Menschseins - seiner Besonderheit, seinen Entwicklungsmöglichkeiten und seinem Gestaltungspotential - ist bis heute nicht beantwortet. Einige sehen den Menschen nach wie vor mit Goethe als ‚edel, hilfreich und gut' an, andere mit Darwin als eine Bestie, ein menschelndes Tier an, das seinen Artgenossen zum Wolf werden kann. In der Pädagogik existiert seit Jahrzehnten ein Richtungsstreit zwischen Strenge und "Laissez-faire" - das Kind als ein zu zähmender Tyrann oder als kleiner Gott. Welches Menschenbild ist zutreffend?

Was der Mensch ist oder werden kann, hängt von den perspektivischen Voraus-Setzungen ab. Sieht er (oder sie) sich unter theologischen Vorzeichen als Ebenbild Gottes eingeladen zu einer Partnerschaft mit dem Schöpfer, nur "wenig geringer als Gott"18 verortet und mit Verwaltungskompetenz betraut? Oder werden aus psychologischer Sicht die Umwelteinflüsse betont, Sozialisation und Gene problematisiert und der Mensch als "Triebschicksal" entworfen, der seinen Bedürfnissen ausgeliefert scheint? Diese überzeichnete Gegenüberstellung verdeutlicht, wie unterschiedliche Menschenbilder die Entwürfe der menschlichen Person geprägt haben. Das Gebiet der Lebenshilfe und -beratung - gleichgültig, ob sie in einem psychotherapeutischen oder einem seelsorgerlichen Zusammenhang stattfindet - befindet sich auf einem enormen "Spannungsfeld, (weil) gleiche praktische Absichten, aber unterschiedliche Menschenbilder" vorliegen.19.

Immer schon war die menschliche "Seele" geheimnisvoll verschlossen und ein spannendes Rätsel, für erstaunliche Überraschungen gut. Theologische und psychologische Modelle haben in immer wieder neuen Anläufen den Versuch unternommen, zutreffende und allgemeingültige Aussagen über die "wahre Wirklichkeit" des Menschseins oder den "Personkern" hinter den Erscheinungen und Ausprägungen seiner Verhaltensäußerungen zu entschlüsseln: ist dieser eher theologisch mit "Identität des Sünders"20 zu begreifen oder besser psychologisch mit "Entwicklungsstufen des Selbst"21 zu beschreiben?

Verdächtigungen der Psychologie gegenüber der theologischen Personlehre könnten dahingehend lauten, dass die theologische Perspektive die Sinnlichkeit und Körperlichkeit der Seele gering achte und mit rigiden und weltfremden Moralvorstellungen Zwangserkrankungen provoziere.22 Verdächtigungen der Theologie gegenüber der Psychologie wurden beispielsweise dahingehend formuliert, dass dort systematisch ein Kult um das eigene Ich betrieben werde.23 Selbstverwirklichung um jeden Preis und narzisstische Selbstverliebtheit verfehlt aber aus theologischer Perspektive die eigentliche Bestimmung des Menschen, sich selbst im anderen zu finden.

Religiöse Funktionen der Psychologie

Neben den verschiedenen Menschenbildern gestaltet sich das Verhältnis zwischen Psychologie und Theologie auch deshalb so konfliktträchtig, weil beide Disziplinen für die konkrete Lebensgestaltung Hinweise und Anregungen geben. Die hohe Anzahl populärwissenschaftlicher Veröffentlichungen mit psychologisch-religiösen Themen belegen dies - spirituelle Lebenshilfe in Form von Ratgeberliteratur findet seit Jahren eine wachsende Leserschaft.

Abgesehen von den zahlreichen, undifferenzierten und beliebigen Mischkonzeptionen spiritueller Ratgeberbücher hat sich fachlich ein Konkurrenzverhältnis zwischen Psychologie und Theologie etabliert, das von einer latenten Rivalität um die Deutungsmacht für gelingendes Leben geprägt ist.24 War zu früheren Zeiten das Primat des Spirituellen alltagsprägend - der Mensch wähnte sich geborgen im "Schoß" der Kirche -, hat heutzutage diese Aufgabe der "Lebensvergewisserung" die Psychologie übernommen. An die Stelle der religiösen Gemeinschaft ist das Individuum getreten, das um seine bestmögliche Entfaltung kämpft. Unterstützung findet es durch die zahllosen Angebote von Lebenshilfe, die Unterstützung und Wegweisung zur angeblich vollkommenen Harmonie und Freiheit versprechen. Die häufig aufwühlenden Gefühlszustände als Folge von Selbsterfahrungs-Seminaren haben bei allem Risiko zumindest den positiven Effekt, sich über die eigene Lebendigkeit zu versichern. Die oft genug verzweifelte Suche nach dem Selbst wird durch die Erfolgsversprechen und Lösungsaussichten der Psychoszene genährt. Dass Psychotherapie nicht die Grundbedingungen des Menschseins ändern und eine neuen Menschen schaffen kann, wird hier verkannt oder bewusst geleugnet.

Für viele Nutzer psychologischer Beratung und Therapie übernimmt ein psychologisches Denk- und Deutungssystem häufig die religiöse Funktion der Selbstvergewisserung. Das Gefühl der inneren Kongruenz und eines verlässlichen Sinnzusammenhangs scheint heute, wo der rasche Wandel und große soziale und gesellschaftliche Veränderungen an der Tagesordnung sind, Orientierung und Halt zu vermitteln. Psychologische Reflexionen und Deutungen dienen dazu, um Bastelbiographien plausibel zu machen und einer ‚Patchwork-Identität' ein inneres Gerüst und Stimmigkeit zu verleihen.

Eine Sinnstiftung durch psychologische Verknüpfungen von Motiven, Befindlichkeiten und Prägungen kann im Einzelfall hilfreich und notwendig sein. Dennoch liegt die Gefahr auf der Hand, damit auch falsche Entscheidungen im Nachhinein zu erklären und zu rechtfertigen. Wenn alles Verhalten beliebig geworden ist, weil es mit Sicherheit irgendeine (pseudo-) psychologische Erklärung dafür gibt, ist der Willkür Tür und Tor geöffnet. Insofern passt eine das fragmentarische Selbst vergewissernde Psycholehre zur Epoche der so genannten Postmoderne, die durch Unbestimmtheit, Auflösung des Kanons, Verlust von Ich und Tiefe, durch Ironie und Gleichgültigkeit gekennzeichnet wird. Der früher häufig formulierten Anspruch, Psychotherapie könne zur Bildung stabiler Ich-Strukturen beitragen und die Konfliktfähigkeit und Frustrationstoleranz fördern, erscheint vielen heute unerreichbar und - zum Glück (?) - auch unzeitgemäß.

Das Verhältnis zwischen Psychologie und Theologie gestaltet sich deshalb so konfliktreich, weil es dabei um die Vormachtstellung hinsichtlich der Deutungs- und Erklärungsbedürftigkeit des Alltags geht: Wird ein Ereignis innerweltlich-psychologisch oder im weitesten Sinne überweltlich-religiös gedeutet? Es ist nachvollziehbar, dass besonders Freuds Atheismus das Vorurteil von der glaubenszerstörenden Psychoanalyse genährt hat, obwohl seit einigen Jahren Glaube und Frömmigkeit von Psychoanalytikern viel positiver eingeschätzt wird als früher.

Der Gesinnungswechsel eines bekannten Psychoanalytikers belegt die veränderte Haltung der Psychologie und Psychotherapie zur Religion exemplarisch. 1976 veröffentlichte Tilmann Moser seinen Bestseller "Gottesvergiftung", in dem er mit dem strafenden Richtergott seiner Kindheit abrechnete. Sein damaliges Gottesbild stellte ihn als einen gewalttätigen und unbarmherzigen Patriarchen vor, der über den absoluten Gehorsam seiner Untergebenen wacht. Ein grundlegender Einstellungswechsel geschah, als Moser die unmissverständlichen empirischen Befunde eines positiven Einflusses des Glaubens auf die Gesundheit zur Kenntnis nahm. Heute kann er bestimmte religiöse Glaubenshaltungen als eine Quelle von Kraft und seelischem Reichtum würdigen.25


Exkurs 1: Die Zusammenarbeit zwischen Theologie und Psychologie

Die Verhältnisbestimmung zwischen Psychologie und Theologie auf der Modellebene und zwischen der Psychotherapie und Seelsorge in Bezug auf ihre praktische Anwendung hat eine lange Geschichte, die bei weitem noch nicht systematisch aufgearbeitet und dargestellt wurde.26 Dennoch wird ihre gegenwärtige Situation von verschiedenen Seiten als Umbruchsphase gekennzeichnet. Verfolgt man ihre markanten Entwicklungslinien, fällt eine analoge Dynamik auf. Während Teile der Psychotherapie unverkennbar eine Spiritualisierung erlebten, wurden viele Seelsorge-Angebote durch eine Psychologisierung ihrer Inhalte geprägt.27 Paradoxerweise scheint es fast so, als ob die Psychoanalyse, die "mit ihrer Religionskritik den Seelsorgern das Fürchten beibrachte",28 nun zum neuen Leitbild pastoralpsychologischer Kompetenz besonders in der evangelischen Kirche wurde.29

Etwa zeitgleich erschienen Ende der siebziger Jahr zwei Werke, die den Richtungswechsel in der jeweiligen Profession markierten: Die Zunahme alternativer Therapiemethoden wurde im Titel eines einschlägigen Werkes als "Psychoboom" bezeichnet, der in seiner modischen Ausrichtung an die Protestbewegung des "Human Potential Movements" anknüpfte.30 Die Autoren warnen hier vor den teilweise gefährlichen Abwegen therapeutischer Versprechungen und Gruppentechniken. Schon damals wurde auf die "Vergötzung des Selbst" als eine Folge der Humanistischen Psychologie hingewiesen und auf Risiken und Gefahren aufmerksam gemacht.31 Heilen "mit Hilfe von übersinnlichen Kräften" sei damals "so etwas wie der letzte Schrei im ‚Psychoboom'" gewesen.32 Obwohl der Begriff Spiritualität damals noch nicht so verbreitet und populär war wie heute, dokumentieren die Autoren durch die Beschreibung der Seminare, an denen sie teilgenommen haben, vielfältig eine spirituelle Verwurzlung und Ausrichtung der Anbieter.

Die psychotherapeutische Angebotspalette hat sich seitdem von aufklärungsorientierten und emanzipatorischen Ansätzen zur Bewusstseinserweiterung und "Erleuchtungswissen-schaft"33 hin erweitert. Diesbezügliche Ansätze werden heute als "New-Age-Therapien"34, "Esoterische Therapien"35, als "alternative Gesundheitskultur"36, "transpersonale Psycho-therapie"37 oder schlicht als "Psychoszene"38 bezeichnet.

In der Pastoralpsychologie wurde der Richtungswechsel vom biblisch-verkündigenden zum beratenden-therapeutischen Paradigma durch Stollbergs Darstellung der amerikanischen Seelsorgebewegung eingeleitet und im Curriculum der KSA (klinische Seelsorgeausbildung) festgeschrieben.39 Hier werden nach wie vor primär interpersonale Fähigkeiten geschult, die auf der einen Seite unverzichtbar und notwendig sind. Psychologisches Wissen und ausreichende Selbsterfahrung stellen wichtige Voraussetzungen und Handwerkszeuge des pastoralen Dienstes dar, können aber die geistlich-spirituellen Übungen, Erfahrungen und Prägungen auf keinerlei Weise ersetzen.

Seit Beginn der eigenständigen Disziplin "Psychotherapie" wird um ein angemessenes Verhältnis zwischen Therapie und Seelsorge gerungen. Immer wieder ging es darum, ein spezifisches Terrain vor Übergriffen der jeweils gegnerischen Disziplin im "Streit um die Seele" abzugrenzen und auf besondere Methoden hinzuweisen, die entweder Seelsorger oder Psychotherapeuten als alleinige Spezialisten für seelische Konflikte ausweisen sollen. Wenn nach C.G. Jung alle Lebenskonflikte, die im Alter von über 35 Jahren auftauchen, letztlich auf ungelöste religiös-spirituelle Fragen zurückzuführen sind, wäre doch die Seelsorge das Mittel der Wahl! Wenn religiöse Sehnsüchte letztlich aber als kindlich-regressives Wunschdenken verstanden werden, dann wäre die Psychotherapie gefragt, Menschen mit ihrer unbehausten Lebenssituation vertraut zu machen und ihre Endlichkeit und die Schicksalhaftigkeit des Daseins annehmen und aushalten zu lernen.

Lange Zeit wurde von Psychotherapeuten und Seelsorgern sorgfältig darauf geachtet, das eigene Arbeitsgebiet genau einzuhalten und nicht "in fremden Wassern zu fischen". Deshalb enthält beispielsweise eine klassische Textsammlung über "Psychotherapie und Seelsorge" in einem Abschnitt Beispiele für eine "Grenzüberschreitung".40 Hier wird an konkreten Personen deutlich gemacht, dass sehr wohl begehbare Brücken und konstruktive Verbindungen zwischen Therapeuten und Seelsorgern möglich sind. Allerdings werden diese Vertreter als Ausnahmen dargestellt und erhalten den Touch des Exotischen. "Sich wirklich auf einen Dialog einzulassen, überschreitet freilich das Modell der schiedlich-friedlichen "Arbeitsteilung". Theologie und Psychologie, Seelsorge und Therapie kommen sich erst gar nicht ins Gehege, solange man beiderseits die Warnungen von unerlaubten "Grenzüberschreitungen" beherzigt. Das Kreative von Grenzen und der Arbeit an und mit ihnen kommt so gar nicht ins Spiel".41

Noch weiter geht ein neuerer Seelsorge-Entwurf, der ganz bewußt von einer "Spiritualität der Grenzüberschreitung" spricht.42 Für Josuttis führt eine Pfarrerin oder ein Pfarrer in die "verborgenen und verbotenen Zonen des Heiligen". Mit diesem Motto begründet er ein Pastoraltheologie, die auf Einsichten der Phänomenologie aufbaut und in einer persönlichen spirituellen Praxis mündet.

Weil der Glaube auch eine menschliche Seite hat - das individuelle Erleben von Gottes Reden und Handeln sowie die persönliche Beziehungsgestaltung zu Gott, haben psychologische Überlegungen ihre Berechtigung und machen Sinn. Psychologie und Theologie dabei können dabei ihre jeweils ausschnitthafte Sichtweise vervollständigen. Beide verfolgen auf verschiedenen Wegen das Ziel, ein ganzer Mensch - als Gegenüber Gottes - sein zu können. Die Psychologie bringt vor allem die Bedeutung der Gefühle, der Erinnerung, der Vorstellungskraft und der Beziehungsqualität ein, der Glaube das Wissen und die Erfahrung um die Wirklichkeit und Wirksamkeit des dreieinigen Gottes. Für die Theologie kann sich bei einer Kooperation mit der Psychologie ihr therapeutisches Potential neu und vertieft erschließen, für die Psychologie der Umgang mit religiösen Fragen verbessern.


Exkurs 2: Das Verhältnis von Psychologie und Religion

Ursprünglich wurde der Psychologie einmal eine bevorzugte Position bei der Bestimmung des Religionsbegriffs zugewiesen. Denn der neuzeitliche Religionsbegriff wurde von seinem psychologischen Gehalt her entwickelt. Damit schien zunächst die Relevanz der Psychologie für dieses Thema gegeben zu sein. Allgemein wurde Religion dargestellt als ein individuelles emotionales Erleben, sei es als "Gefühl des Unendlichen" und "schlechthinniger Abhängigkeit",43 als "numinose Gemütsgestimmtheit" in der Ergriffenheit durch das Heilige44 oder als "erlebnishafte Begegnung mit heiliger Wirklichkeit".45 Diese psychologischen Sichtweisen der Religion wurde noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts von bedeutenden protestantischen Theologen wie Ernst Troeltsch oder Paul Tillich zugestimmt. Durch die von Karl Barth begründete Dialektische Theologie und ihrer Wirkungsgeschichte wurde jedoch der psychologische Religionsbegriff zurückgedrängt.
Die von Barth konzipierte "Dialektische Theologie" fasst die Wirklichkeit Gottes diametral entgegengesetzt zur Wirklichkeit des Menschen auf. Dem menschlichen Phänomen der Religion stellt Barth die göttliche Offenbarung entgegen, die nicht rational erfasst, sondern nur geglaubt werden könne. Barth proklamierte Gottes Offenbarung als Aufhebung von Religion und versuchte mit Erfolg, den Religionsbegriff zu disqualifizieren. Statt sich auf das religiöse Bewusstsein und die spirituelle Natur des Menschen zu gründen, dessen subjektive Überprüfung jedem möglich ist, "wird die Theologie exklusiv auf den geoffenbarten Glauben der Kirche verwiesen".46

Damit wurde der Glaube von der psychologischen Erfahrungsebene abgekoppelt, worunter insbesondere der Protestantismus bis heute leidet. Weil Barths Verhältnisbestimmung zwischen Religion und christlichem Glauben die protestantische Theologie nachhaltig beeinflusste, sind naheliegende gemeinsame Bemühungen und Projekte - beispielsweise zur Glaubenserfahrung und -entwicklung - selten.47


Die Dialektische Theologie hat - neben anderen Faktoren - eine psychologische Erforschung des religiösen Seelenlebens behindert. Damit stellt die menschliche Spiritualität heute eines der letzten psychologischen Geheimnisse und eine der wenigen unbekannten Größen des ansonsten gründlich durchanalysierten und strukturell erfassten Seelenlebens dar. Der bekannte Theologe Hans Küng hat die Religion als das letzte Tabu der Psychologie bezeichnet, dessen Bedeutung immer noch verdrängt werde.48 Diese Einschätzung scheint zuzutreffen, denn von psychologischen Fachleuten werden "religiöse Bindungen bzw. weltanschauliche Einstellungen ... trotz der vorhandenen psychoanalytischen Erklärungsmodelle des Phänomens ‚Religion' mit einer auffälligen Unsicherheit behandelt".49 Bis heute "besteht bei vielen Psychotherapeuten eine spürbare Zurückhaltung, religiöse Themen vorbehaltlos aufzugreifen, wenn ihre Patienten darüber reden".50


Ein renommierter Narzissmusforscher bestätigt diese Einschätzung: "Mich beschäftigt seit dreißig Jahren psychoanalytischer Praxis die Beobachtung, dass selbst in Langzeitanalysen von religiösen Erfahrungen beziehungsweise religiösem Erleben sehr selten und wenn, dann sehr wenig die Rede ist".51 Einen möglichen Erklärungsansatz liefert der bekannte Psychoanalytiker Tilmann Moser, indem er darauf hinweist, dass die meisten Kolleginnen und Kollegen kaum die Voraussetzungen zu einem angemessenen Umgang mit dem religiösen Erleben eines Patienten hätten. Um eine Enttäuschung zu vermeiden, würden religiös-spirituelle Themen in der Beratung und Therapie ausgeklammert. Das sei möglicherweise auch gar nicht die schlechteste Lösung weil eine "Zurückweisung oder der Mißbrauch von 'heiligen' Gefühlen ein Schmerz und eine Scham ... hinterlassen, die es heutzutage viel schwieriger machen, über solche Probleme zu sprechen als über Sexualität oder Beziehungsstörungen".52

Exkurs 3: Schwierigkeiten deutschsprachiger Religionspsychologie

Als ein weiterer Grund für die bis heute nur zaghafte Entwicklung der Religionspsychologie in Deutschland ist die breite theologische Rezeption der Psychoanalyse zu nennen. Freud und Jung waren zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts die ersten, die umfassende Modelle der religiösen Entwicklung aus psychologischer Sicht vorgelegt haben. Deshalb können sie mit Recht als "grand theorists of religion" bezeichnet werden.53 Allerdings haben sie der empirischen Religionspsychologie einen Bärendienst erwiesen, weil sie kaum etwas zur überprüfbaren Theoriebildung beitragen konnten.54
Der Dialog zwischen Evangelischer Theologie und Psychologie ist vorbelastet und hat nicht eine eher konstruktive Richtung eingeschlagen, wie sie beispielsweise in der katholischen Tradition festzustellen ist, die ein unbefangeneres Verhältnis zur natürlichen Gotteserkenntnis hat.55

Als sich die Psychologie Ende des 19. Jahrhunderts als eigenständige Disziplin herausbildete, beschäftigten sich ihre Gründerväter und wegweisenden Wissenschaftler fast alle wie selbstverständlich mit der Religion als einem wichtigen Lebensbereich. War es beispielweise "für einen Spranger noch naheliegend, einen religiösen Typus als Hauptkategorie in seiner Persönlichkeitslehre zu unterscheiden, so muss in den Jahren des größten quantitativen Wachstums der Psychologie, in den sechziger und siebziger Jahren, den Psychologen erst wieder umständlich und meistens ohne viel Erfolg erklärt werden, dass Religion für Menschen wichtig sein kann, eine wesentliche Verhaltensdeterminante darstellt und durchaus psychologisch erforscht werden kann".56

Während also einflussreiche Psychologen wie Fechner, Galton, Wundt, Piaget oder eben genannter Spranger im Rahmen ihrer Wissenschaftlertätigkeit auch religionspsychologisch aktiv waren,57 haben ihre Nachfolger seit der Nachkriegszeit zu religiösen Fragen geschwiegen. Interessanterweise erlebte die Religionspsychologie ihren initialen Aufschwung zeitgleich ab etwa 1880 in Europa und den USA, wobei die "europäische und besonders die deutsche Entwicklung die eigentliche Triebkraft waren".58 Einerseits hängt das mit dem Verstehenshorizont sowohl phänomenologisch-geisteswissenschaftlicher als auch psychoanalytischer Entwürfe zusammen, die damals sehr verbreitet waren und mit ihrer Vorgehensweise wichtige religionspsychologische Erkenntnisse liefern konnten. Aber auch die sich stark ausbreitende Experimentpsychologie - insbesondere die "Dorpater Schule" mit ihren Gedächtnisexperimenten mittels der Reizwortmethode - verhalf der Religionspsychologie zu einem eigenständigeren Profil.

Religiöse Fragen rufen offenbar bei vielen Psychologen zwiespältige Gefühle hervor. Das entspricht ganz ihren Auswirkungen, denn zweifellos ist Religion eine zweischneidige Sache. Durch einen gelebten Glauben kann der Mensch reifen, ein tiefes, dauerhaftes Gefühl des Geliebt-Werdens empfinden, an Selbstsicherheit gewinnen und gelassen seine Alltagskonflikte bewältigen. Religion kann einen Menschen aber auch unterdrücken - er kann auf einem kindlichen und abhängigen Entwicklungsniveau stehen bleiben oder dorthin zurückfallen. Manche religiöse Menschen sind in ängstliche Projektionen und Zwangsvorstellungen verstrickt und können ihren Alltag nur sehr gehemmt und eingeschränkt gestalten.59 Fundamentalistische Gesinnungen werden theoriekonform (und am wirksamsten!) durch eine strenge religiöse Sozialisation weitergegeben.60 Religiös aufgeladene Symbolsysteme und Rituale eignet sich vorzüglich zur Machtausübung.61 Religiös inszenierte Selbsterfahrungs- und Therapieangebote des alternativen Psychomarkts entwickeln bisweilen sektenähnliche Strukturen und haben zahlreichen Menschen mehr geschadet als genutzt. Insgesamt gilt es, das Missbrauchspotential der Religion nicht zu unterschätzen, aber auch nicht überzubewerten.

Diese und andere spannenden und drängenden Fragen können bis heute nur sehr subjektiv beantwortet werden, weil die Religiosität aus psychologischer Sicht kaum erforscht ist. Was sind die Gründe für das auffällig geringe psychologische Interesse an der Religiosität?

Gründe für das psychologische Desinteresse an Religion

* "Psychologie ohne Seele": Die seelische Funktionen wurden unter dem Einfluss des rasanten Technologie-Fortschritts zunehmend mechanisiert und technisch verstanden - Geistiges erschien suspekt. Dadurch verlor ein geisteswissenschaftlich-hermeneutisches Vorgehen und die qualitative Forschung an Bedeutung, während naturwissenschaftlich-empiristische und quantifizierende Studien gefragt waren. Neuere Überlegungen weisen jedoch auf die Einseitigkeit solcher Ansätze hin und plädieren für einen umfassenderen, ganzheitlichen psychologischen Zugang zum Menschen. Kürzlich hat ein bekannter Psychiater in seiner Disziplin gar einen regelrechten "Seelenhunger" diagnostiziert.62
* Schon seit Anbeginn psychologischer Religionsforschung steht der schier unlösbare Methodenkonflikt zwischen geistes- und naturwissenschaftlichem Vorgehen und die Überprüfbarkeit der Wahrheitsfrage als die beiden größten Hindernisse im Weg.63 So führte die sechste internationale Tagung europäischer Religionspsychologen, die 1909 in Genf stattfand, in der Diskussion um den Geltungsbereich des religiösen Wahrheitsanspruchs zu einem Bruch. Einige Teilnehmer forderten, "dass die eigenen Bekehrung für den Religionspsychologen genauso wichtig wäre wie das Reagenzglas für den Chemiker. Dem gegenüber vertrat neben anderen Leuba die Ansicht, dass man nicht selbst kriminell sein müsse, um Kriminelle zu studieren".64

Gerade Psychiater und Psychotherapeuten reagieren hierzulande häufig noch mit Misstrauen und Skepsis gegenüber einer persönlichen Religiosität. Offensichtlich keimt in ihnen schnell der Neuroseverdacht. In einer renommierten amerikanischen Fachzeitschrift erklärte ein Religionspsychologe die beschränkte Akzeptanz seines Forschungsgebiets mit der verbreiteten "objektiven", naturwissenschaftlich orientierten Forschungshaltung. Darüber hinaus wies er auf die Gefahr von infantilem Wunschdenken und regressiven Tendenzen bei jeder religiösen Orientierung als mögliche Gründe für die bislang vorherrschende Distanzierung vieler Fachkollegen zu diesem Thema hin.65 Deutschsprachige Religionspsychologen fürchten gar, bei diesbezüglichen Aktivitäten ihre wissenschaftliche Reputation zu gefährden, weil sie "von Fachkollegen voreilig als Vertreter einer Religionsapologetik missverstanden und in die Nähe der methodischen Tradition der theologischen Religionspsychologie oder der Psychoanalyse gerückt" werden könnten.66


Exkurs 4: Zur amerikanischen Religionsforschung

In den USA haben die Religion und persönliche Glaubensüberzeugungen einen völlig anderen Stellenwert als im "alten Europa". Ein kürzlich erschienener Übersichtsartikel in einer renommieren psychologischen Fachzeitschrift stellt für die amerikanische Religionspsychologie einen rasanten Aufschwung fest, der mit den bekannten Studien zum Vorurteil und der Totalitarismusforschung Mitte der fünfziger Jahre eingesetzt hat.67 Seit einem viertel Jahrhundert habe sich die Religionspsychologie gar zu einer "voll ausgereiften und führenden Forschungsdisziplin entwickelt, deren Ergebnisse neue Fakten, Einsichten und stimulierende Impulse für andere psychologische Bereiche liefern".68 Die Fakten sprechen hier eine klare Sprache: Eine Literaturrecherche in der psychologischen Forschungsdatenbank "PsychInfo" ergab für den Zeitraum zwischen 1988 und 2001 1198 Verweise für den Begriff Religion und 777 Verweise für den Begriff Spiritualität. Während drei amerikanische Einführungsbücher zur Religionspsychologie in den letzten Jahren schon in der zweiten Auflage erscheinen mussten,69 existieren derartige Einführungen aus europäischer Perspektive nur vereinzelt.70

Zwei vielbeachtete Aufsätze in renommierten Fachzeitschriften dokumentieren, dass heute religiöse und spirituellen Fragen in der professionellen Psychologie zumindest in den USA sehr ernst genommen werden.71 Andere psychologische Journale haben umfangreiche Themenhefte herausgegeben, in denen Einfluss und Zusammenhänge des religiösen Glaubens, Erlebens und Verhaltens aus der Perspektive ihrer jeweiligen Teildisziplin detailliert dargestellt werden: der Klinischen Psychologie,72 der Persönlichkeitsforschung,73 der Sozialpsychologie,74 der Entwicklungspsychologie75 und der Familienpsychologie.76

Für die meisten deutschsprachigen Psychologen scheint die Religionspsychologie hingegen eine nach wie vor dubiose Angelegenheit zu sein. Von einer empirischen Sozialwissenschaft erhofft man sich klare Fakten über innerseelische und zwischenmenschliche Beziehungen. Weil aber die Beziehung zu einer übermenschlichen, göttlichen Wirklichkeit höchst spekulativ erscheint, wird religiösen Fragen nach wie vor häufig ausgewichen - besonders im vernunftbetonten Deutschland. Diese signifikante Abweichung gegenüber den USA erstaunt auch deshalb, weil die amerikanische Psychologie in vielen Bereichen tonangebend ist - man denken nur an den Diagnoseschlüssel für psychische und psychiatrische Erkrankungen oder die einflussreichen Theorien der gelernten Hilflosigkeit (Seligman) oder der Stressbewältigung (Lazarus). Fast könnte man meinen, dass die hartnäckigen Vorbehalte deutschsprachiger Psychologen gegenüber Glaubensüberzeugungen und religiösen Fragen etwas mit Schamgefühlen angesichts der nationalsozialistischen Vergangenheit und der nachhaltigen Traumatisierung durch ideologische Verführung zu tun haben könnten.

Unübersehbar herrschen jedenfalls große kulturelle Differenzen zwischen den USA und Deutschland, die sich gerade bei der Religionsforschung massiv auswirken. Ein großer Unterschied zwischen der amerikanischen und deutschen Sichtweise hinsichtlich des Stellenwerts der Religionspsychologie liegt darin, dass mit religiösem Erleben und Verhalten in den Vereinigten Staaten sehr viel unbefangender und pragmatischer umgegangen wird. Amerikanische Religionspsychologen interessieren sich weniger für extreme Bewusstseinszustände als für die Auswirkungen einer alltäglichen spirituellen Praxis.

Hierzulande wird eine religiöse Erfahrung aus psychologischer Perspektive immer noch eher als ein extravagantes Phänomen verbucht. Offenbar werden damit zunächst spektakuläre Erscheinungen wie außersinnliche Wahrnehmungen, paranormale Erfahrungen oder transpersonale Bewusstseinszustände in Verbindung gebracht, kaum aber gewöhnliches seelisches Erleben. Amerikanische Religionspsychologen scheinen sich viel stärker dafür zu interessieren, welchen Einfluss traditionell als religiös empfundene Gefühle auf die alltägliche Lebens- und Beziehungsgestaltung nehmen. Und hier tritt - mit aller Vorsicht - Erstaunliches aus amerikanischen Forschungsergebnissen zutage. So fördern "moralische" Charaktereigenschaften wie Demut und Bescheidenheit das gesundheitliche Wohlbefinden. Der Prozess des Verzeihens wird zunehmend als ein wichtiger Schlüssel für eine gelingende Partnerschaft angesehen und als ein psychotherapeutischer Wirkfaktor untersucht. Und dankbare Menschen fühlen sich - neuen Studien zufolge - im Alltag wohler und können besser mit einer chronischen Erkrankung umgehen.77

Die Religionspsychologie versucht, mit bewährten psychologischen Theorien religiöses Erleben und Verhalten besser zu verstehen oder es mit neuen Theorien zu beschreiben. Beispielsweise wurde die Stress-Bewältigungstheorie von Aaron Lazarus von dem amerikanischen Religionspsychologen Kenneth Pargament zu einem umfassenden religionspsychologischen Erklärungsmodell weiterentwickelt.78 Er kam nach vielen Untersuchungen zu dem Schluss, dass Gläubige, die in der Furcht leben, für ihre Sünden von einem strengen Gott bestraft zu werden, und die diese Strenge auch in ihrer Glaubensgemeinschaft als «emotionales Klima» erleben, stärker zu Depressionen, Ängsten und psychosomatischen Störungen neigen als Nichtreligiöse. Umgekehrt fördert der Glaube an einem freundlichen Gott, der menschliche Schwächen nachsichtig beurteilt, in Verbindung mit emotionaler Geborgenheit in einer Glaubensgemeinschaft das psychische und körperliche Wohlbefinden deutlich.

Auch andere psychologische Erklärungsansätze wurden zur Erhellung religionspsychologischer Sachverhalte verwendet - etwa das Gesundheitsmodell der Salutogenese des israelischen Medizin-soziologen Antonovsky.79 Als zentrale Widerstandsressource gegen Erkrankung und damit als Schlüssel zur Gesundheit definierte Antonovsky das "Kohärenzgefühl". Damit umschrieb er ein grundlegendes, tief verankertes Vertrauen darauf , dass
* die Ereignisse des Lebens vorhersehbar und erklärbar sind,
* sich Lebensprobleme im Prinzip handhaben lassen,
* die Welt es Wert ist, sich zu engagieren.
Weil ein religiös-spirituelles Weltbild ein derartiges Vertrauen stiften kann, liegt eine religionspsychologische Interpretation nahe.80


4. Religiosität - eine psychologische Kategorie?

Die durchgängige gesellschaftliche Präsenz der Religion und ihr Vorhandensein zu allen Zeiten und in allen Kulturen veranlasst heute Wissenschaftler zu der Hypothese, die religiöse Dimension als einen unabhängigen und eigenständigen Persönlichkeitsfaktor des Menschen aufzufassen. Damit kann die Religiosität auch psychologisch beschrieben und erforscht werden. In der amerikanischen Persönlichkeitsforschung wird derzeit überprüft, ob Spiritualität das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit ("big five") um eine sechste Dimension ergänzt. Zu den fünf Basisdimensionen Extroversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, emotionale Stabilität und Offenheit für Erfahrungen wird der mutmaßliche Faktor "spirituelle Transzendenz" hinzugefügt. Er wir als die menschliche Fähigkeit aufgefasst, sich außerhalb des unmittelbaren Raum- und Zeitempfindens zu begeben und das Leben von einer höheren, mehr objektiven Warte zu betrachten.

Nachdem die Psychologie sich jahrzehntelang hauptsächlich mit den dunklen Seiten der Seele - mit Ängsten und Ärger, Aggression und Frustration, mit Depression und Neurosen beschäftigt hat, entdeckt die Forschungsrichtung der "Positiven Psychologie" das konstruktive Potential von Werten und moralischen Tugenden, wie sie die Religionen sei jeher betonen und fördern.81 Die amerikanischen Forschungsergebnisse berichten Erstaunliches - auch wenn sich eine direkte Übertragung auf europäische Verhältnisse aufgrund der kulturellen Unterschiede verbietet. So fördern "moralische" Charaktereigenschaften wie Demut und Bescheidenheit das gesundheitliche Wohlbefinden. Erste Studien deuten darauf hin, dass Stolz, Narzissmus und der tägliche Kampf um Anerkennung dem Selbstbewusstsein eher schaden als nutzen. Personen, die eine hohe Meinung von sich hatten, reagierten am aggressivsten auf Kritik auf einen von ihnen verfassten Essay.

Die psychosomatische Herzforschung konnte zeigen, dass Ärger, Wut und Bitterkeit dem Herzen gefährlich werden können, das hingegen Vergebenkönnen zu den wichtigsten Schutzfaktoren gezählt werden muss. Studien zeigten, dass allein die Erinnerung, unfair und ungerecht behandelt worden zu sein, den Blutdruck teilweise dramatisch steigen ließ, während diejenigen sich am besten erholen, die versöhnlich reagieren konnten. Der Prozess des Verzeihens wird auch als ein wichtiger Schlüssel für eine gelingende Partnerschaft angesehen und mittlerweile als ein psychotherapeutischer Wirkfaktor untersucht. Die Fähigkeit, Hoffnung zu entwickeln, wird als eine wichtige Persönlichkeitseigenschaft angesehen, um den eigenen Lebenswillen vor allem gegen Not, Unglück und anderen Widrigkeiten zu mobilisieren. Dankbare Menschen fühlen sich - neuen Studien zufolge - im Alltag wohler und können besser mit einer chronischen Erkrankung umgehen. Weisheit im Sinne einer "spirituellen Intelligenz" wird als eine komplexe Fähigkeit aufgefasst,
* veränderte Bewusstseinszustände zu erfahren,
* die alltägliche Erfahrung zu einer heiligen zu machen,
* spirituelle Ressourcen zur Problemlösung einzusetzen,
* Entscheidungen und Handlungen wertorientiert vorzunehmen.


5. Psychologische Funktionen der Religion

Weil die persönliche Religiosität nur unter Berücksichtigung ihrer spezifischen kulturellen Kontexte richtig verstanden und gedeutet werden kann, helfen für Europa die amerikanischen Erkenntnisse nur bedingt weiter. Einige wenige deutschsprachige Psychologen haben aus ihrer Perspektive die Aufgabe der Religion gedeutet. Eine wesentliche Funktion der Religion besteht nach Einsichten des Schweizer Entwicklungspsychologen Flammer darin, eine Lebensdeutung oder Weltanschauung zu konstruieren, mit der das Schicksalhafte und Zufällige menschlicher Existenz überwunden werden kann. Je mehr Unwägbarkeiten der eigenen Umwelt und besonders der eigenen Person bekannt sind und kontrollierbar erscheinen, desto größere Lebenssicherheit - im Sinne von Vertrauen in die eigenen und die sozialen Ressourcen - könne entstehen. In ähnlicher Weise fand der Gesprächspsychotherapeut Reinhard Tausch in seinen Untersuchungen bei Probanden mit einem positiven Gottesbild heraus, dass ihr religiöser Glauben sich primär als stressreduzierend erwies.
Neben der funktionalen Untersuchung der Religion haben Psychologen aber auch substantielle Deutungen vorgenommen. Dabei treten die Grenzen psychologischer Forschung und die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit mit der Theologie und der Religionswissenschaft deutlich hervor: "Religiöse Erfahrung ist nicht innerseelisch auflösbar, sondern entscheidend durch die Begegnung mit dem ‚Überweltlichen' bestimmt. Religiöse Erfahrung verweist auf Transzendenz und ist nicht aus der Immanenz der Psyche allein psychologisch abzuleiten".82

Besonders in existentiellen Krisensituationen und Situationen extremer Hilflosigkeit, so belegen Erfahrungen in der Trauma-Therapie, ist der Mensch auf religiöse Glaubensüberzeugungen angewiesen. Allgemeiner gefasst können mit Hilfe einer persönlichen "Wirklichkeitskonstruktion" die grundlegenden Menschheitsfragen wie Zufall, Schuld, Leiden, Gerechtigkeit, Wahrheit und Tod subjektiv beantwortet werden.


Religiosität und Krankheitsbewältigung

157 Patienten mit lebensbedrohlichen Erkrankungen wurden daraufhin untersucht, welchen Einfluss eine positive religiöse Einstellung auf die Krankheitsverarbeitung nimmt.83 Je positiver die Religiosität getönt war, so lautet ein zentrales Ergebnis dieser Studie, um so besser konnten sich die Patienten aktiv mit ihrer Situation auseinandersetzen und Sinn darin zu finden, und um so weniger versuchten sie sich abzulenken oder zogen sich sozial zurück. In einer weiteren Untersuchung berichteten 135 von 251 Patienten auf einer onkologischen Station von einer besonderen spirituellen Erfahrung angesichts ihrer schweren Erkrankung. Bei allen veränderte sich dadurch ihre Befindlichkeit stark: "Anders im Körper, anders in Raum und Zeit, anders in Bezug auf ihre krankheitsbedingte Situation, frei, weit, intensiv, entspannt, liebend, versöhnt mit sich selbst".84

Weil aller (beeindruckende) technische Fortschritt die drängenden Existenzfragen nicht beantworten kann, bleibt die Tür zur Transzendenz offen. Während dabei christliche Überzeugungen an Bedeutung verloren, nahm das Interesse an anderen Religionen und Weltanschauungen zu. Asiatische Bewusstseinskonzepte, buddhistische Meditationstechniken sowie schamanische und esoterische Praktiken boomen - besonders auf dem freien Markt der Lebenshilfe. Gemeinsam ist spirituellen Lebenshilfe-Angeboten, dass sie mit Hilfe eines klar definierten Weltbildes, spezifischen Glaubensüberzeugungen und davon abgeleiteten Techniken und Ritualen arbeiten und als Sinngeber fungieren.85


3. Drei psychologische Religionsmodelle

1. Sehnsucht nach dem perfekten Vater: Die klassische Psychoanalyse
2. Lebensstil Selbstverwirklichung: Die Humanistische Psychologie
3. Einheit mit dem Kosmos: Die Transpersonale Psychologie

3.1 Sehnsucht nach dem perfekten Vater: Die klassische Psychoanalyse

Die Psychologie tritt in ihrer klinischen Anwendung als Psychotherapie mit dem Anspruch auf, mehr Licht in die Abgründe des Seelenlebens zu bringen und dem einzelnen zu helfen, besser mit bedrohlichen Gefühlen wie Angst, Trauer oder Wut umgehen zu können. Auch Sigmund Freuds Grundanliegen lassen sich auf diese beiden Motive zurückführen. Durch seine "Archäologie der Seele" wollte er menschliches Wünschen und Fürchten verstehen und die Person nicht mehr als Opfer seiner unbewusste Impulse wissen, sondern sie aufgrund rationaler Analyse zu selbstbestimmtem Handeln befähigen. Aus wissenschaftsskeptischer Sicht kann man mit Peter Sloterdijk folgern: "Der moderne Mensch will die höhere Gewalt nicht erleiden, sondern sein ... Modern ist, wer glaubt, dass man bis ins Äußerste etwas anderes tun kann, als sich an Gott und höhere Gewalten hinzugeben".86

Neben der großen Chance, das Individuum über seine (unbewussten) Motive aufzuklären und es von unbewussten (Wiederholungs-) Zwängen zu befreien, sah Freud in der von ihm entwickelten psychoanalytischen Behandlungsmethode einen großen gesellschaftliche Segen: die Psychoanalyse als Kultur- und Gesellschaftskritik. Besonders die religiöse Prägung der Gesellschaft missfiel dem "gottlosen Juden" Freud.87 Er knüpfte an die Einsichten seiner atheistischen "Vordenker" Marx und Nietzsche an und befand die Religion für hohl und bedeutungsleer, für die meisten Menschen gar schädlich und unterdrückend. Darum könne sie nach seiner Einschätzung ihre frühere Aufgabe der "Versöhnung des Menschen mit der Kultur"88, nicht mehr leisten. Freud plädierte deshalb dafür, die Religion als Kulturmacht abzulösen und durch eine "rein rationelle Begründung der Kulturvorschriften" zu ersetzen.89

In der psychoanalytischen Religionspsychologie spielen die beiden Erklärungsmodelle der Projektion und der Illusion eine zentrale Rolle, die deshalb hier kurz erläutert werden. Freuds erste wichtige, frühe religionspsychologische Studie "Totem und Tabu" fragt nach den Wurzeln des religiösen Denkens.90 Dazu greift er damals geläufige ethnologische Erklärungen auf und analysiert sie mit Hilfe seiner Neurosenlehre. Er verwendet die religionsgeschichtliche Dreigliederung Magie - Religion - Wissenschaft und deutet sie psychoanalytisch: Die animistische Phase entspräche dem frühkindlichen Narzissmus, die religiöse Phase den kindlichen Objektbeziehungen, und die wissenschaftliche dem libidonösen Reifezustand, der das Lustprinzip zugunsten des Realitätsprinzips zurückstelle.

Nach Freuds Überlegungen entwickelte sich die christliche Gottesvorstellung "auf einer späteren Stufe des religiösen Fühlens" aus der Verehrung eines Opfertieres, des Totems.91 Psychoanalytisch folgert Freud: Die "Wurzel aller Religionsbildung (entspringt) der Vatersehnsucht".92 Gott ist aus der klassisch-psychoanalytischen Perspektive der idealisierte, erhöhte Vater. Das Wunschbild oder die "Projektion" eines warmherzigen, gütigen und allmächtigen Vaters vermittelt dem hilflosen und ohnmächtigen Menschen nach Freud Schutz und Geborgenheit.93

In der späteren Schrift "Die Zukunft einer Illusion" fragt Freud nicht nach dem Woher sondern nach dem Wesen der Religion. Dort fordert er in Bezug auf Kultur und Religion eine gründliche Revision ein: "Religion ist durch Wissenschaft und Vernunft zu ersetzen".94 Dazu gehöre die Suche nach der hinter allen religiösen Vorstellungen liegenden Wahrheit, wie es die Psychoanalyse beispielsweise an der Sehnsucht nach dem perfekten Vater verdeutlicht habe.
Freud geht es in erster Linie um eine Erziehung zur Realität. Erwachsen zu werden bedeutet demnach, kindliche Wunschvorstellungen aufzugeben, sich dem eigenen Schicksal zu stellen und mit Hilfe der Wissenschaft die Wirklichkeit der Alltagsherausforderungen zu bewältigen. Die Religionskritik Freud wendet sich in erster Linie gegen die naive Übernahme dogmatischer Lehren. Für ihn ist die Religion eine Illusion, die kritisches Denken verbiete und damit zur Verarmung der Vernunft beitrage.

Der dogmatische Atheismus Freuds wurde von den einigen seiner Nachfolgern schnell erkannt und in Frage gestellt. Freuds aufklärerischer Optimismus, der sich an Vernunft und Wissenschaft orientierte - "unser Gott Logos"95 - wurde schon damals von einigen Analytikern kritisiert. Manche erblickten gar in Freuds Religionskritik "weit eher ein Bekenntnis als die Frucht wissenschaftlicher Erkenntnis".96 Während Freud selber dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal einer "wissenschaftlichen Weltanschauung" verpflichtet war, konnten manche seiner Schüler diese Einseitigkeit rasch korrigieren. Schon die beiden klassischen Antipoden der tiefenpsychologischen Tradition, Carl Gustav Jung und Alfred Adler, wiesen der Religiosität einen völlig anderen Stellenwert als Freud zu.97

Carl Gustav Jungs Psychologie rückt - ganz im Gegensatz zu Freud - religiöse Symbole ins Zentrum seiner Überlegungen. lauten: Indem sie große Aufmerksamkeit auf die religiöse Dimension richtet, kann die jungiansche Perspektive den christlichen Glauben fördern - wenn sie ihn nicht esoterisch prägen will (was bei manchen Jungianern vorkommt). In der Betonung der "Synchronizität" sucht die Komplexe Psychologie Jungs nach kausalen Verknüpfungen "zufälliger" Ereignisse und bezieht dadurch ausdrücklich die verborgene Wirklichkeit Gottes mit ein. Auf weitere Schwerpunkte der jungianischen Perspektive wie die religiöse Botschaft der Träume oder Bedeutung der Emotionen und der Intuition kann hier nur verwiesen werden.h

Neben allen Nutzen darf aber auch die deutliche Kritik an der junginanischer Psychologie nicht verschwiegen werden: "Echte religiöse Erlebnisse, die vom transzendenten, in der Geschichte handelnden Gott stammen, werden durch psychologische Erlebnisse des eigenen religiösen Unbewussten ersetzt"98, meint ein Kenner dieser Richtung und hinterfragt damit zweifelsohne das Selbstverständnis vier Anhänger C.G. Jungs.

In der Individualpsychologie Alfred Adlers ähnelt das Menschenbild, das dieser Wiener Arzt um die Jahrhundertwende in Wien entwickelte, der IP der christlichen Auffassung von Menschen sehr: "Dieser Arzt und Menschenkenner trägt in der allgemeinverständlichen Form säkularer Sprache und gestützt auf eine Fülle empirisch-psychotherapeutischer Erfahrungen das vor, was Christen eigentlich meinen, wenn sie von "Sünde" reden".99 Auch das zentrale Konzept des "Minderwertigkeitsgefühl" wurde vielfach christlich aufgegriffen und intepretiert. Zahlreiche evangelikale Seelsorgemodelle beziehen sich ausdrücklich auf Adlers Individualpsychologie (Reinhold Ruthe/Michael Hübner/Michael Dieterich).

Denn vermag auch die Individualpsychologie einen zentralen Beziehungskonflikt nicht zu lösen: Wie kann erlittenes Unrecht vergeben werden? Vergebung ist allein innerpsychisch nicht herzustellen. Der christliche Glaube bringt die Macht Gottes mit ins Spiel, woduch weitergehende Veränderungsschritte möglich werden.


3.2 Lebensziel Selbstverwirklichung (Humanistische Psychologie)

Der Humanismus gewann zunächst in der Renaissance als Gegenströmung zum mittelalterlichen Dogmatismus an Bedeutung. Das Individuum in seiner unwiederbringlichen Einzigartigkeit wird neu entdeckt. In der "Nachahmung griechischer und römischer Lebensformen wird das selbstverwirklichte Individuum, das ‚jenseits von gut und böse' steht, glorifiziert - z.B. in Nietzsches "Übermenschen".100 Dabei gründet die HP "ihre Konzepte auf einer optimistischen Sicht der Natur des Menschen, welche weder primär böse oder antisozial - wie z.B. das Es im Freudschen Modell - noch darauf angelegt ist, durch äußere Reize konditioniert zu werden wie im klassischen Behaviorismus".101 Als "dritte Kraft" war die HP angetreten, das jeweils negative Menschenbild ihrer beiden Vorläufer, das pathologische der Psychoanalyse und das pessimistische des Behaviorismus - durch ein positives zu ersetzen. "Die Kraft des Guten" und "Der neue Mensch" überschrieb Carl Rogers zwei seiner Bücher. Mit den Worten Carl Rogers: "Die Grundnatur des frei sich vollziehenden menschlichen Seins ist konstruktiv und vertrauenswürdig".102 Aus dieser Einstellung resultiert auch die therapeutische Grundhaltung, die Rogers mit den Worten Sören Kierkegaards folgendermaßen beschreibt: "Das Selbst zu sein, dass man in Wahrheit ist".103 Aber schon ein Kollege Rogers (Rollo May) warf ihm vor, er verdränge das Böse und Zerstörerische im Menschen, seine Lust an Macht, Rache, Ärger und Wut. Auf die Frage nach dem Bösen hat weder die Humanistische noch die Transpersonale Psychologie Antworten gefunden.

Ein wichtiges, mythenhaft ausgestaltetes und ideologisch überfrachtetes Leitbild der Gegenwart besagt, dass körperliche Fitness, seelische Gesundheit und überhaupt Wellness zum "richtigen Leben" dazugehört. "Fit for Fun" nennt sich dem entsprechend eine neue Trendzeitschrift. Carl Rogers, eine Gründerfigur der humanistischen Psychologie, hat beispielsweise das Leitbild einer "fully functioning person" geprägt. Das Ideal der vollständig auszulebenden Anlagen, Neigungen und potentiellen Eigenschaften kann allerdings auch zu einem notorisch-neurotischen Veränderungsbemühen führ
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