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Auf Teufel komm raus


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2 Antworten in diesem Thema

#1
Rolf

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Man hättees nicht zu träumen gewagt, aber die Zeitschrift "Spiegel" eigentlich eher bekannt durch atheistische Titel, erweist sich als Geistlicher als Wort und Geist.



Auf Teufel komm raus



Der Spiegel; 14. Februar 2010


Teil 1

Die Bibel hat sie erfunden, die Kirche machte daraus einen Katalog verdammenswerter Laster, aber in einer Welt von Habgier, Wollust und Völlerei wird die Sünde nicht mehr ernst genommen. Eine kulturgeschichtliche Strafpredigt zu Aschermittwoch, unter besonderer
Berücksichtigung des Satans und seiner Armeen.



Von Matthias Matussek



„Ich brauche keine Bequemlichkeit. Ich will Gott, ich will Poesie, ich will wirkliche Gefahrenund Freiheit und Tugend. Ich will Sünde!“ Aldous Huxley, „Schöne neue Welt“ Ein Tod ist zu beklagen. Die Verblichene
starb nach langem Siechtum, unbemerkt, in einem vergessenen
Winkel der Gesellschaft.

Sie hatte ihre großen Tage. Sie hat glühende Reden beflügelt, sie hat Menschen in den Staub gezwungen und um Vergebung murmeln lassen, sie hat Königreiche und immense Besitztümer ermöglicht, hat Leichenberge verschuldet und war Anlass für spektakuläre Lebensumschwüngeund Neuansätze.

Sie hat Maler wie Hieronymus Bosch angeregt und wurde von Dichtern wie dem göttlichen Dante unvergleichlich in Worte gesetzt, die barocken Mysterienspiele, ja die gesamte abendländische Dramenliteratur
wären blass ohne sie. Die Rede ist, natürlich, von der Sünde.
Die Sünde ist aus der öffentlichen Rede verschwunden.

Sie hat sich neue Papiere, neue Identitäten besorgt. Von „Sünde“ spricht keiner mehr. Niemand droht mehr denjenigen, die ihr verfallen sind, mit ewiger Verdammnis, auch denjenigen nicht, die sich ihre schwarzen
Verursacher, die „Todsünden“, aufgeladen haben.

Die Sünde hat kein metaphysisches Gewicht mehr. Sie wird nicht mehr ernst genommen. Man könnte sagen: Die Sünde hat ein Imageproblem.
Mit der Sünde ist ein existentielles Abenteuer verlorengegangen. Ein unheimlicher Unschuldswahn hat sich über unsere überraschungsfreie Computergesellschaft gelegt. Huxleys Held beharrt auf Gott und der Sünde, gerade weil er auf seiner Freiheit beharrt in der „Schönen
neuen Welt“.

Sündenbewusstsein ist das, was uns von anpassungsschlauen Tieren unterscheidet.

Nach jüdischer, christlicher und islamischer Definition ist sündig derjenige, der sich von Gott entfernt hat. Sünde ist Vertrauensbruch. Gott versteht in diesem Punkt keinen Spaß. Der Sünder schaut in einen metaphysischen Abgrund.

Allerdings, wo es keinen Gott mehr gibt, gibt es keine Sünde. Oder doch?

Heute ist Sünde allenfalls eine Art Verstoß gegen die soziale Straßenverkehrsordnung und, soweit Schuld und Seelenqual und Gewissensbisse mit ihr verknüpft sind, eine Sache für Therapeuten und in jedem Fall verhandelbar. Tatsächlich wird die Verabschiedung der Sünde bei uns nicht groß beklagt. Das sündige Treiben, das uns der Karneval als
fünfte Jahreszeit in Köln und Mainz und anderen Hochburgen beamteten Ordensschwachsinns turnusmäßig beschert, unterscheidet
sich in seiner Sündigkeit kaum von den übrigen vier.

Partnertausch und Ehebruch kommen in jeder besseren Soap-Opera vor, Fluchen oder aufmüpfige Kinder sind Banalitäten, um die sich die Supernanny kümmert, und Geiz ist keine Todsünde mehr, sondern
einfach nur geil. Was, könnte man sagen, will man im Karneval noch ausleben, wenn er ganzjährig geworden ist? Der Karneval feierte den Ausnahmezustand. Jetzt ist er die Regel.

In ihrem jüngsten Erzählband hat sich die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse mit dem Verfall der Sünde beschäftigt. Ihr Buch heißt „Lässliche Todsünden“, theologisch unsauber, denn die Kirche unterscheidet streng zwischen lässlicher Sünde und Todsünde. Und dennoch ist Menasses Titel präzise, denn in unserer Gesellschaft sind die Schwellen verschlurft, all die Lehrerinnen und Regisseure und
Kneipiers des gehobenen Mittelstands, die Menasses Menagerie bevölkern, trotten bewusstlos durch ihren sündigen Alltag, und machen sich eher nebenbei schuldig durch Gefräßigkeit und Neid, Trägheit und Wollust
oder Hochmut.

Nicht zuletzt die unterschiedliche Evaluierung der Sünde ist schuld an der
lähmenden Kommunikationslosigkeit zwischen dem strengen Islam und dem eher lockeren Westen. Die Sünde ist somit bei weitem nicht nur ein theologisches Problem, sie ist ein Politikum. Es ist der „gottlose“ und „sündige“ Westen, gegen den sich 20-jährige Selbstmordattentäter
mit ihren Sprengstoffgürtel agitieren lassen, ob es uns passt oder
nicht.

Für den Fundamentalisten ist das irdische Leben nur ein „Transitraum“ (Rüdiger Safranski) in Vorbereitung auf das ewige Leben. Auch das Christentum kennt derartige „heiße“ Phasen von endzeitlicher Erwartung, am prominentesten in den religiösen Wahnjahren der reformatorischen
Täuferbewegung in Münster, die in bizarren Übersprungshandlungen sündigte auf Teufel komm raus, mit Orgien aus Mord und Totschlag, mit Prahlerei, Hochmut und Vielweiberei.

Um zu begreifen, wie sehr die Sünde auch bei uns einst mehr gewesen ist als der Nasch-Verstoß gegen eine Diätvorschrift, müssen wir zurück zu den Fundamentbrocken unserer Zivilisation, zum Buch der Bücher, zurück in den ehrwürdigen Frühdämmer der Schöpfungsgeschichte, in eine Zeit, als Gott noch direkt mit dem Menschen sprach.

Himmel und Erde wurden in Bewegung gesetzt, um, in der Genesis, die Sünde in die Welt zu bringen. Adam und Eva lehnten sich auf im Garten Eden gegen Gottes Verbot, von der verbotenen Frucht der Erkenntnis
zu essen. Sie waren ungehorsam und wurden mit dem Makel der Erbsünde
behaftet aus dem Paradies vertrieben. Seither ist die Sünde in der Welt und mit ihr die Schlange, die ständige Versucherin, die bereits beim Ur-Sündenfall Pate stand. Man muss sich den Garten Eden als Zustand voller Unschuld und Harmonie vorstellen. Es gibt keine zartere und schönere Nackte in der Geschichte der Malerei als Dürers Eva.

Der Sündenfall, der als erstes Augenaufschlagen des menschlichen Bewusstseins, als erste große Entfremdung von der Natur begriffen werden kann, hat uns das alles verdorben. Seither ist Nacktheit mit
Scham verbunden, Mord und Totschlag folgten, rasend vor Eifersucht erschlägt Kain den Abel.

Die biblische Geschichte Israels ist eine des permanenten Sündenfalls und der permanenten Vergebung, der Enthemmungen des Volkes und der Domestizierungen durch Gott. Städte der Sittenlosigkeit werden von ihm niedergebrannt, die ganze Schöpfung wird überschwemmt, zu wenig
Gerechte sind in dem sündigen Geschlecht, das der Herr geschaffen hat.

Doch eines darf nicht übersehen werden in diesem Gemetzel: Der Herr selbst rast vor Zorn und ist eifersüchtig, er ist maßlos in seinem Alleinvertretungsanspruch, und er wird in den alttestamentlichen Rachepsalmen für die extremsten Eifereffekte seines Volkes nutzbar gemacht. Schließlich der Vertrag, die große Codifizierung, der Dekalog, der in allen großen Religionen und Gesetzesbüchern bis heute
leuchtet, nicht zuletzt wegen seiner theologischen Letzt-Begründung. Du sollst nicht stehlen, nicht morden, nicht begehrendes Nächsten Weib, Vieh und Gut.

All das sind nicht nur Verstöße gegen den Nächsten, sondern Verstöße gegen Gott. Das heißt: Wer mordet und damit durchkommt,muss davon ausgehen, dass er im Jenseits gerichtet wird. Raskolnikow aus
Dostojewskis „Schuld und Sühne“ kann mit seiner Schuld nicht leben. Er wird bereuen, gestehen und büßen und erst dadurch innerlich befreit.
Das Sittengesetz funktioniert vor allem über das Sündenbewusstsein, das die Entscheidung zwischen Gut und Böse trifft.

Ohne den Gedanken an Gott ist dauerhaftes moralisches Handeln nicht möglich, das wusste schon der Aufklärer Immanuel Kant, dessen tröstender Lieblingspsalm war: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird
nichts fehlen.“ Im Verlauf der Kirchengeschichte, besonders
unter Papst Gregor I. (um 540 bis 604), sind als Warnung für Klosterbrüder sieben besonders schwere Laster ausformuliert
worden, die zur Wurzel von Sünden werden können.

Den Lastern wurden bestimmte Dämonen zugeordnet: des Teufels
Armee. So war der Satan für den Zorn verantwortlich, der Mammon für die Habgier, der Leviathan für den Neid, Beelzebub für die Völlerei.
Dass gerade die Kirche im Verlauf ihrer Geschichte eine besondere Anlage zur Sünde an den Tag gelegt hat, dass sie eifernd und prassend und tötend in die Irre gelaufen ist, gehört zu ihrer ganz besonderen
Tragik.

Die als Todsünden bekannten Verfehlungen haben eine merkwürdige Eigenschaft. Die ihnen verfallen, müssen nicht bestraft werden wie diejenigen, die in David Finchers Hollywood-Krimi „Sieben“ von einem
psychopathischen Serienmörder bestialisch gerichtet werden – wer sich ihrer schuldig macht, straft über kurz oder lang sich selbst und macht das eigene Leben zur Hölle.

Bei genauerem Hinschauen erweist sich die Kirche in ihrer Todsündenlehre
als kluge Psychologin. Der Aufruf zur Vermeidung der Todsünden kann auch als Anleitung zu guter Lebensführung verstanden werden, zu aristotelischer Mäßigung, die auch Buddhisten – lächelnd! – unterschreiben
würden.

Im Takt der Sünde tanzt das Menschengeschlecht bis heute: Der Hochmut führt die Reihe an, gefolgt von Geiz oder Habgier, Genusssucht oder Wollust, Zorn oder Rachsucht, Völlerei oder Selbstsucht, Neid oder Eifersucht, Trägheit des Herzens oder Trübsinn. Lauter gute Bekannte, so vertraut, dass sie nicht mehr groß auffallen im Maskenball unserer Zeit.

Sie fallen nicht auf, weil sie universell geworden sind. Superbia: Hochmut
und Eitelkeit Eines kann die Todsünde Eitelkeit mit Sicherheit garantieren: hohe Einschaltquoten. Wenn sie da nun wieder in der Reihe stehen wie jede Saison, die Mädchen für Heidi Klums Show „Germany’s Next Topmodel“, alle hübsch, alle ähnlich, wird deutlich, dass Eitelkeit einen Kampf bis aufs Messer bietet, spektakulär, denn hier geht es für viele auf Leben und Tod. Knapp vier Millionen verfolgten in der vergangenen Saison die Schlacht. Wöchentlich. Die Kandidatinnen werden sich Schlangen
umlegen lassen, bei Minustemperaturen in Miniröcken herumstöckeln und
lächeln. Sie werden hemmungslos weinen, wenn sie ausscheiden. Sie werden durchs öffentliche Feuer geschickt werden, vorwärtsgepeitscht
von einer penetrant gutgelaunten blonden Kerkermeisterin, deren
Geschäft die Schönheit und deren Adressatin die Eitelkeit ist.

Ein mörderisches Geschäft. Selbst Profis können da in die Knie gehen. Wie anstrengend es ist, die Selbstvergottung permanent zu betreiben, erleben derzeit Brad Pitt und Angelina Jolie. Der eine ist Achilles. Die andere ist bis zur Makellosigkeit perfekt, die Lippen, der Busen, die Taille.

Nicht nur das. Sie ist eine Supermutter mit drei eigenen und drei adoptierten Kindern. Wenn die beiden Gutes tun, dann geschieht es in Superlativen. Ein Paar wie ein Unternehmen, mit zahllosen Angestellten. Ihr gemeinsames Vermögen wird auf 235 Millionen Euro geschätzt.
Ein Paar auf dem Hochseil, dem das Massenpublikum aus der Tiefe einer anderen Todsünde heraus, dem Neid, zuschaut. Auch dessen scheele Schwester, die Gehässigkeit, steht in den Startlöchern und wird bald losstürmen, wenn es sich bewahrheiten sollte, dass die Beziehung der Göttlichen wackelt. Dann werden sich alle die Augen reiben und fragen, warum sie sich dem Glauben hingeben konnten, dass dieser blendende Celebrity-Fries keine Risse bekommen und von Dauer sein würde.
Kann sich irgendeiner „Brangelina“ als Rentnerpaar in Florida vorstellen?

„Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang“, schrieb Rilke. Hat er die Gefahren für diese narzisstischenSupernovä vorausgeahnt, die, nur fragil durch eine Reihe von Kindern verbunden, womöglich doch jede ihr eigenes Planetensystem braucht? Verläuft nicht überhaupt die Partnerwahl in einer komplett veräußerlichten Gesellschaft wie die Suche nach einem passenden Accessoire? Die Brautsuche, die der Scientologe Tom Cruise betrieb und die ihm schließlich die Schauspielerin Katie Holmes bescherte, soll dem Vernehmen nach durchgeführt worden sein wie die sorgfältige Auswahl einer edlen Zuchtstute.

Doch sind wir anders, sind wir besser? Wir legen den Kopf in den Nacken, und da es unter einem entgötterten Himmel niemanden mehr gibt, den wir anbeten könnten, nehmen wir mit ein paar Kinoplakaten vorlieb, und jedes davon ruft uns den Vorwurf zu: Wir sind perfekt, warum seid ihr
es nicht, ihr Würmer? Das ist mittlerweile ein Alltagsvorwurf, in jeder Großstadt das gleiche Spießrutenlaufen. Am Times Square in New York
sieht dieser Vorwurf nicht anders aus als auf Berlins Unter den Linden und auf jeder anderen Innenstadtmeile. Haushoch räkeln sich die Models auf Plakatwänden, um Taschen zu verkaufen oder Unterwäsche, aber in erster Linie wohl sich selbst und ihre Schönheit.

Sie flirten mit uns, und sie schüchtern uns ein in ihrer Perfektion, ein Trommelfeuer aus trägen Blicken, durchtrainierten Torsi, endlosen Beinen, die auf eine neue Gefechtslage schließen lassen. Das Motto:
Die Welt können wir nicht verbessern, aber wir können unser Aussehen optimieren. Die Kirchenväter, die den Katalog der Todsünden zusammengestellt haben, paarten die Eitelkeit mit Hochmut und Stolz,
eine weise Entscheidung. Was anderes ist es als Hochmut, zu glauben, man könne die eigene Schönheit beliebig formen? Was
anderes als Stolz, durch Schönheit andere überglänzen zu wollen? Die ehrwürdigen Väter aber haben vergessen, darauf hinzuweisen,
dass Eitelkeit einen hohen Preis fordert: Einsamkeit. Wer sich nur um sich
selbst dreht, ist allein.

Der universelle Schönheitskult schlägt Kapital aus der todtraurigen Todsünde Eitelkeit in noch nie dagewesenem Maße. Fitnesscenter, Kosmetika, Botox-Kliniken, Wellnessfarmen setzen rund 20 Milliarden
Euro allein in Deutschland um, und sie schicken ihre Kunden in ein Rennen, das sie nie gewinnen können. Dieser Kampf einer alternden westlichen Gesellschaft ist tragisch und komisch zugleich.

Wir setzen keine Kinder mehr in die Welt, sondern wollen die ewige Jugend
für uns selber. Dabei sind die Karten gezinkt. Auf uns alle warten Verfall und Tod, und keine Epoche hat das drastischer bebildert als der Barock mit seinen Vanitas- Darstellungen, keiner hat es anrührender beklagt als Shakespeare in seinen Tragödien und Sonetten. Dabei stand ein durchaus harmonischer Körperkult an der Wiege unserer Zivilisation.





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#2
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Auf Teufel komm raus



Der Spiegel; 14. Februar 2010


Teil 2



In den Gymnasien Athens wurde dem Ideal der „Kalokagathia“ nachgeeifert, schöner Wuchs und schöne Gesinnung wurden zusammengedacht, wenn auch Platon bereits vom Körper als „Gefängnis
der Seele“ sprach. Paulus nannte den Körper den Tempel des Heiligen Geistes – immerhin Tempel –, doch die großen Asketen des frühen Christentums waren zunächst damit beschäftigt, den Körper und seine
Begierden zu domestizieren.

Die gar nicht prüde Renaissance zeigte Haut, zeigte Lust an Schmuck und Prunk und entwickelte eine durchaus anziehende Kultur der Eitelkeit, die erst mit der Aufklärung jäh an ein Ende kam. Die Puritaner, die kalten Verstandesmenschen, wollten über die Natur und die Sinne triumphieren,
sie schlossen den Kragen der Frauen hoch und verbargen sie unter
schwarzen bodenlangen Kleidern.

Dass es nun ausgerechnet im katholischen und aufgeklärten Paris eine Kommission gibt, die die Burka, die Ganzkörperverhüllung für muslimische Frauen, verbieten möchte, ist eine der Pointen in der Sittengeschichte der Religionen. Und dass es auf der anderen Seite Frauen gibt, die um das Recht auf Verhüllung kämpfenwollen, eine weitere.
Da trifft in der Stadt der Mode und der Genüsse die libertäre Eitelkeit
auf die organisierte Uneitelkeit, das System des Narzissmus auf die
Dogmatik der Unterwerfung.

Die Frauen allerdings werden das Spiel nicht mitmachen. Wer die Augen aufmacht, etwa in den Shopping Malls der islamischen Golfstaaten, sieht unter manchem schwarzen Schleier goldene Armreifen blitzen, sieht Nagellack, sieht sogar Ansätze von Spitze.Tatsächlich aber kann eine Betrachtung über Hochmut und Eitelkeit nicht ohne kurzen Rekurs auf die männliche Seite auskommen. Ist eigentlich schon Signor Presidente
erwähnt worden, unser haartransplantierter, mehrfach gelifteter Silvio Berlusconi?

Avaritia: Habgier und Geiz

Habgier ist die salonfähigste Todsünde, und dabei eine, die soeben fast die ganze Welt an die Wand gefahren hätte. Sie wird als Motor unseres Wirtschaftssystems verstanden. Wir haben die Habgier als Ansporn
gefeiert, als Cleverness gerühmt, und plötzlich hat es „wrumms“ gemacht, quer durch alle Schichten. Bis zu 30 Billionen Dollar sind in der
Finanzkrise an Aktienkapital zwischenzeitlich verbrannt worden, rund 60 Prozent des Aktienvermögens. Die Insolvenzen allein in Europa stiegen um 22 Prozent.

Noch leicht benommen stehen wir da und fragen uns: Wie konnten wir diesem Dämon gegenüber, den die Alten „Mammon“ nannten, so blind sein? Schütteln den Schmutz aus der Jacke. Und machen weiter. Unter den Todsünden ist die Habgier des Menschen die verlässlichste. Sie entzweit Familien, führt Heere gegeneinander, legt Städte in Asche, rottet Völker aus, zerstört die Natur. Worauf man sich am ehesten verlassen kann bei der Habgier, ist ihre immense Schädlichkeit.

Der antike König Midas bat Dionysos um die Gabe, alles in Gold zu verwandeln, was er berührte. Der Wunsch wurde ihm erfüllt, und Midas wäre verhungert, da auch das Brot, das er essen wollte, zu Gold
geworden war, wenn Dionysos seine Gabe nicht zurückgenommen hätte.
Nichts gegen Besitzstreben – schon Jesus lobte denjenigen, der sein Geld,
seine Talente mehrte. Genauer gesagt: verdoppelte.

Thomas von Aquin sah das Recht, Eigentum zu erwerben, als Zugeständnis an das Gemeinwesen an. Für den großen Nationalökonomen
Adam Smith ist das Eigeninteresse die Triebfeder jeder Volkswirtschaft.
Allerdings arbeitete er nicht nur über den „Wohlstand der Nationen“,
sondern er legte auch gleichzeitig ein umfangreiches moralphilosophisches
Werk vor. Smith erkannte: Ungeregelte Raffgier zerstört das soziale Gewebe.

Es blieb Karl Marx vorbehalten, im Kapital die Religion der neuen Zeit zu
erkennen. Wer Geld besitzt, erwirbt auch dessen magische Qualität. Jede Ware, ob Hut, Hose oder Pferd, erfährt über ihrenGebrauch hinaus einen Fetischcharakter. „Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr
vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer
Mucken.“ Die Ware übernimmt. Sie treibt uns und unsere Bedürfnisse vor sich her. Sie verschleiert sich und durchläuft Metamorphosen.

„Wenn ich sechs Hengste zahlen kann, / Sind ihre Kräfte nicht die meine? /
Ich renne zu und bin ein rechter Mann, / Börsenhändler in Chicago: Fast die ganze Welt an die Wand gefahren. Als hätt’ ich vierundzwanzig Beine“, sagt Mephisto zu Faust.

Kapital und die Anhäufung von Kapital

– marxistisch: Akkumulation – bestimmen seither den Takt, nach dem unsere Gesellschaft tanzt, mit einer eisigen Pause im vorigen Jahrhundert, als die Gleichheitsideologen den ausgeträumten Marx als Praktiker ernst nahmen und dem Menschen den Egoismus aus der Seele herauszu-operieren versuchten. Es blieb ein erfolgloses Experiment am lebenden Organismus mit jeder Menge Leichen. Wir haben uns also einzurichten mit der Habgier. Und deshalb müssen wir uns jetzt hinter den Maschendraht- zaun des Butner-Gefängnisses in North Carolina begeben, wo ein weißhaariger Gentleman Boule und Schach spielt und von den Mithäftlingen
respektvoll „Pate“ genannt und um Autogramme gebeten wird.

Es handelt sich um Bernie Madoff, der das wohl größte Schneeballsystem der Finanzgeschichte ins Rollen gebracht hat. Und hier ging es um Summen, die Madoffs Mithäftlinge nicht einmal denken können. Der Mann hat seine Gläubiger um geschätzte 65 Milliarden Dollar erleichtert. Sein Geheimnis: Er konnte sich auf die Habgier verlassen. Nicht seine eigene, sondern die seiner Kunden. Tatsächlich hat Madoff, der als Rettungs- schwimmer in Queens seine ersten Dollars verdiente, seine Jugendliebe heiratete, später als Börsenhändler erfolgreich war, nicht besonders
protzig gelebt.

Gut, da waren das Penthouse an der East 64th Street in New York, ein Neun-Millionen-Dollar-Haus mit sieben Badezimmern in Palm Beach, einEmbraer-Regional-Jet 145, ein Haus in Frankreich, die 17-Meter-Yacht und ein bisschen Schmuck, ein paar antike Armbanduhren. Jeder dahergelaufene russische Milliardär bringt mehr auf die Waage, und er zeigt es. Madoff hingegen habe eher bescheiden gewirkt, versichern die Geprellten, die Schlange standen, um sich von ihm vertreten zu lassen.
Darunter waren die Sekretärin, die geerbt hatte, genauso wie Hollywood-Star John Malkovitch; der Ruheständler, der von einem sorgenfreien Alter mit ein bisschen Luxus träumte, genauso wie Steven
Spielberg und der untadelige Elie Wiesel mit seiner Stiftung.

Es ging um Menschen, die Gutes taten, aber auch um Broker, die ihre Portfolios glänzen lassen wollten. Es ging um Verwalter von riesigen Pensionskassen. Allen lag das gleiche Motiv zugrunde: Sie wollten
mehr. Wie sehr die Habgier die Systeme an den Rand des Abgrunds gebracht hat, haben besonders die vergangenen 31 Monate gezeigt. Die Welt erstrahlte im Zeichen universeller Habgier. Habgier bei den Börsenzockern der Lehman-Bank. Habgier bei den Bankern von Morgan
Stanley und anderen Big Playern auf der Jagd nach gigantischen Bonuszahlungen. Habgier bei Kleinanlegern, die sich auf Spekulationen einließen und sich ruinierten.

Habgier auch in der Politik. Mit welchem Treibstoff sollte Silvio Berlusconi sich sonst sein Medienimperium zusammengezimmert haben? Da er katholisch ist, sollte er sich dieses Pauluswort aus dem Epheserbrief zu Herzen nehmen:

„Denn das sollt ihr wissen: Kein unzüchtiger, schamloser oder habgieriger Mensch – das heißt kein Götzendiener – erhält ein Erbteil im Reich Christi und Gottes.“

Soweit erkennbar ist, liegt unser italienischer Mediendarling, was den Weg ins Himmelreich angeht, in allen drei Bereichen schwer hinter der Gnade zurück – avanti, Signor Presidente!

Luxuria: Wollust und Genusssucht

Bevor wir auf Silvio Berlusconis Kandidatinnen zum Europaparlament zu sprechen kommen, also auf die Todsünde Wollust, ein Blick auf die Gesamtlage. Man kann mit Fug und Recht behaupten: Die Wollust hat sich
totgesiegt. Sie hat alle Geheimnisse verloren. Sie hat Staatsmänner zu Deppen gemacht, Karrieren ruiniert, Ehen in Trümmerhaufen verwandelt. Sie hat sogar, man sollte es nicht fassen, Kirchenmänner verführt. Kurz: Sie hat die letzten Masken der Lust abgelegt.

Wer die peinlichen Hearings zur Lewinsky-Affäre im amerikanischen Kongress verfolgt hat, sagte sich irgendwann: Hätte dieser rotgesichtige Naturbursche Clinton, der mächtigste Mann der westlichen Welt, nicht wenigstens einmal den Reißverschluss oben lassen können? Besonders in diesem Falle, der doch so durchsichtig war und konsumiert wurde wie ein Hamburger? Die Wollust ist Fast Food geworden. Sie ist jederzeit greifbar.
Über einen Mausklick rülpsen die Porno-Seiten jede ihrer Spielarten
auf den Bildschirm. Das Top-Video der Internetseite Youporn wurde mehr
als 35 Millionen Mal geklickt. Die Phantasie ist optisch totgeschlagen. Unter Sexualität verstehen Jugendliche heute Analverkehr. Ein 13-Jähriger fragte seine Mutter: „Mama, was ist eigentlich Faustficken?“ Wollust ist im wahrsten Wortsinn ein abgefucktes und kaltes Geschäft geworden, ohne jedes Interesse an echter Lust oder Ekstase oder gar Liebe. Was sie interessiert, ist Geld. Rund hundert Milliarden Dollar setzt die Porno-Industrie um.

Im besten Falle trübt Wollust das Urteilsvermögen und gibt alternden Cavalieri wie unserem Silvio „Papi“ Berlusconi noch einmal das Gefühl, durchaus im Rennen zu sein. Sein TV-Imperium hat er auf die „Velina“ genannten Showgirls gegründet, die langbeinig und stets lächelnd durch
die populären Quiz- und Sportshows führen. Nun gedachte er auch seine Politik mit dieser Mischung zu durchsetzen – er schickte drei Veline als Kandidatinnen für das Europaparlament ins Rennen. Das Vorhaben wurde gestoppt, nach energischen Protesten seiner Frau. Als dann Fotos von einer enthemmten Party aus Berlusconis „Villa Certosa“ in der Presse
zirkulierten – neben Tschechiens ehemaligem Regierungschef waren jede Menge Nymphen geladen –, reichte sie die Scheidung ein.

Berlusconi wankte, doch die italienische Öffentlichkeit liebte ihn umso mehr. Damit ist wohl erwiesen, dass die Wollust und das mit ihr verbun- dene Spektakel den Schwachsinn durchaus befördern können, was die katholische Pädagogik schon immer predigte und was auf keinem Beichtzettel fehlte: Die Unkeuschheit, insbesondere die Onanie, führt zu zerebraler Zersetzung und Rückenmarksschwund. Dabei kann die so unendlich trivialisierte Todsünde Wollust eine überaus spannende
Geschichte aufweisen. Ihr Dämon (Asmodäus) wurde als ernstzuneh-mender Gegner aufgefasst. Der heilige Antonius im 3. Jahrhundert wurde ständig von ihm versucht, obwohl weit und breit nichts war, das ihm hätte Nahrung geben können. Nur Sand und Gebete und Askese eines heiligen
Mannes, der zum Gründer des christliches Mönchstums werden sollte.

Antonius’ Wort hatte Gewicht. Er soll mit Konstantin dem Großen korres-pondiert haben. Dennoch hatte er zu kämpfen mit der Wollust. Er war ein Weiser, der wusste: „Wer in der Wüste sitzt und Herzensruhe pflegt, ist drei Kämpfen entrissen: dem Hören, dem Sehen, dem Reden. Er hat nur noch einen Kampf zu führen: den gegen die Unreinheit!“ In der „Versu- chung des heiligen Antonius“ hat Gustave Flaubert diesem Dämon und seinen Versuchungen glühend Worte verliehen, hat Ketten aus bunten Traumbildern gereiht, schillernde Verführungsdichtung in orientalischer und antiker Pracht, das Ganze ein früher religiöser Acid-Trip unter heißer Wüstensonne.

Wollust ist ein gefährlicher Gegner, denn sie kommt überfallartig auf Sünder und Heilige gleichermaßen hernieder. Wahrscheinlich ist das „Begehre nicht …“ das einzige Gebot, das auch die tugendreichsten
Menschen zu Versagern werden lässt. Nicht morden, nicht stehlen, das geht in Ordnung. Aber nicht begehren? Schon der Blick ist die Tat, da sind sich die Evangelisten mit dem Islam einig, doch auch für die Juden ist die krankhafte Wollust („yetzer hara“) eine Verführung durch das „Böse“, das jedem Menschen innewohnt.

Nicht begehren? Selbst Buddha, der Erleuchtete, hat jahrelang darum gerungen. Womit der Dämon des Begehrens nicht rechnen konnte, ist, dass ihm, in der Gegenwart, der metaphysische Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Wo soll er noch wüten, wenn alle bereits im Swingerclub abhängen und sich dort zu Tode gähnen? Schon bevor die Hysterisierung um die Sexualität begann, zunächst mit Freud, dann den Ritualen der 68er gegen die sogenannte repressive Sexualmoral, mahnte
Schopenhauer zur Gelassenheit:

„Wozu der Lärm? Wozu das Drängen, Toben, die Angst und die Not? Es handelt sich ja bloß darum, dass jeder Hans seine Grete finde.“

Kann man die Wollust endgültiger und cooler zur Hölle schicken?
Ira: Zorn und Rachsucht Wir werden in der Beschäftigung mit der Todsünde Zorn nicht umhinkommen, den alttestamentarischen Gott selbst ins Gebet zu nehmen. Der Morgen, an dem die neue Ära des Zorns anbrach, hätte nicht ruhiger beginnen können für den Mann, den der
Höchste für eine Weile zum mächtigsten der Welt gemacht hatte.
Nach einem Jogging mit anschließendem Frühstück saß Präsident George W. Bush in der Emma-E.-Booker-Grundschule in Sarasota, Florida, und hörte Siebenjährigen bei ihren Leseübungen zu. Lächelnd zwar, aber zerstreut.

Er hatte kurz zuvor von einem Flugzeugunglück in New York gehört, verstörend, doch Genaueres wusste man nicht. Er lauschte den Pennälern, gedankenversunken, bis sich sein Stabschef über ihn beugte
und ihm ins Ohr flüsterte, dass eine zweite Maschine in das World Trade Center gerast war, in den Südturm. Nun war klar, dass die erste Maschine kein Zufall war.

Jener Gott, den die andere Seite für sich reklamierte, hatte zugeschlagen.
Terroristen hatten im Namen Allahs, des Allmächtigen, die Türme des World Trade Center zum Einsturz gebracht. Die „radikalen Verlierer“,
wie sie Hans Magnus Enzensberger in einem SPIEGEL-Essay (45/2005) nannte, hatten den Satan besiegt, indem sie die Hochtechnologie des Feindes gegen ihn selbst wandten – sie hatten dessen Passagiermaschinen
mit Teppichmessern entführt und in Bomben verwandelt. Das Mittelalter
triumphierte über die Moderne.

Während Bush erstaunliche weitere sechs Minuten unter den Kindern sitzen
blieb und seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen und seine Gedanken zu ordnen versuchte, wurde Manhattan zum Schauplatz der Apokalypse. Da war ein Feuerball. Ein Trümmerregen. Schreiende Menschen, die vom
Himmel stürzten. Ein Krater tat sich auf im Herzen der westlichen Welt. Mit lähmendem Entsetzen sah die globale Gemeinschaft dem Beginn einer neuen Epoche zu – der Epoche des rotglühenden religiösen Zorns.

Nachdem sich der Präsident von den Kindern verabschiedet hatte, griff er nach einem Filzschreiber und notierte auf gelbem Notizpapier Stichworte für eine Erklärung. Es waren Stichworte für einen Rachefeldzug, der seine Präsidentschaft in den kommenden Jahren zu einem Schwert schmieden sollte. „Wir werden die Typen, die das angerichtet haben, jagen, bis wir sie haben.“ Das sollte er im Folgenden variieren: Wir werden sie jagen in ihren Höhlen, wir werden sie zur Strecke bringen. „Terrorismus gegen unsere Nation hat keine Chance.“

Doch in den Höhlen Afghanistans wurde gejubelt. Auf der Westbank wurde gejubelt. Zorniger Jubel in Pakistan, in den fundamentalistischen Koran- schulen in Ägypten, im Sudan, und überall schworen junge Männer in Videobotschaften, den Weg der Märtyrer zu gehen. Dieser moderne Religionskrieg unterschied sich von den gottlosen Genoziden und Ausrottungskriegen des vergangenen Jahrhunderts. Jene waren ideologisch, dieser ist theologisch. Auf beiden Seiten. Denn tatsächlich stand ja mit George W. Bush ein christlich-fundamentalistischer
Gotteskrieger im Visier der islamistischen Killer der Qaida.

Bush war als Kandidat der Evangelikalen zur Macht gekommen. Er hat oft davon gesprochen, dass er wiedergeboren wurde, nachdem er 1986 sein Alkoholproblem erfolgreich in den Griff bekommen hatte. In den Jahren danach sollte er wiederholt davon sprechen, dass er sich als Werkzeug
Gottes fühle. Bereits am 16. September 2001, fünf Tage nach der Attacke, skizzierte er den Kreuzzug, zu dem er aufbrechen wolle: „Dies ist eine neue Art – eine neue Art des Bösen. Und wir verstehen. Und das amerikanische Volk beginnt zu verstehen. Dieser Kreuzzug, dieser Krieg gegen den Terrorismus wird eine Weile dauern.“

Berater des Präsidenten ließen zunehmend entnervt an die Presse durch-sickern, wie ihr Chef, unbeeindruckt von Fakten, von Einwänden, von strategischen Überlegungen und Feinheiten, seine Spur zog. Sein Zorn hatte sein Denken zu einem Tunnel gemacht. „Bush hat diese bizarre, messianische Idee davon, was Gott ihm aufträgt zu tun“, sagte Bruce Bartlett, ehemaliger Wirtschaftsberater im Weißen Haus, der „New
York Times“. „Er glaubt, man muss sie alle töten. Sie können nicht über- zeugt werden, sie sind Extremisten, getrieben von einer dunklen Vision. Er versteht sie, weil er genauso ist wie sie.“

Der religiöse Zorn kennt kein Federlesen. Der Irak-Krieg, der unter falschen Prämissen begonnen wurde, hat bisher über 4000 amerikanische Soldaten und allein im Irak rund 100 000 Zivilisten, darunter
sicherlich auch Christen, das Leben gekostet. Doch der islamistische Terror, der in Bali, Madrid oder Djerba wütete, richtet sich durchaus gegen eigene Glaubensbrüder. Als im Londoner Bus- und U-Bahn-Netz am 7. Juli 2005 vier Bomben gezündet wurden, gingen diese auch in muslimisch bevölkerten Stadtgegenden los – 56 Menschen starben, 700 wurden verletzt.


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Der Spiegel; 14. Februar 2010


Teil 3



Wie sehr der religiöse Zorn Liebe und Leben verdüstern kann, lässt sich zwei Wochen nach dem Attentat auf dem Gesicht des 19-jährigen Farraq ablesen. Der Teenager lungert vor der Finsbury-Park-Moschee herum, wo jahrelang der hakenarmige Hassprediger Abu Hamsa seinen Sermon
abgab. Farraq lässt sich ungern vom Reporter ansprechen. Aus seinen dunklen Augen schießt Hass wie eine schwarze Flamme. Für ihn sind die U-Bahn-Attentäter Helden. Die USA und ihre Vasallen müssten vernichtet werden.

Er trägt Kurzhaarfrisur, Nike-Turnschuhe und Bomberjacke und sieht keine Spur so aus, als würde er einen Bogen um die Modegeschäfte des Satans machen. Irgendwann, sagt er, werde er sich aus diesem Leben befreien und seinen Brüdern, wo immer sie seien, helfen. Der Prediger
hatte seine antiamerikanischen und antibritischen Tiraden immer wieder mit Versen aus dem Koran gewürzt. Vom Paradies war die Rede und vom Verderben für die Ungläubigen.

Die Pointe an der Geschichte des neuenZorns ist, dass sie eine sehr alte ist. Und dass es in diesem Fall wohl Gott selbst ist, der sich der Todsünde Zorn schuldig macht. Der Philosoph Peter Sloterdijk weiß eine Therapie: „Die Zivilisierung der Monotheismen ist abgeschlossen, sobald die Menschen sich für gewisse Äußerungen ihres Gottes, die unglücklicherweise schriftlich festgehalten wurden, schämen wie für die Auftritte eines im Allgemeinen sehr netten, doch jähzornigen Großvaters,
den man seit längerem nicht mehr ohne Begleitung in die Öffentlichkeit
lässt.“ Einen Anfang hat die römisch-katholische Kirche schon vor Jahrzehnten getan – sie strich die berüchtigten Fluch- und Rachepsalmen
(„O Gott, zerbrich ihnen die Zähne im Mund …“) aus dem Stundengebet,
das den Tagesablauf von Priestern, Ordensbrüdern und Nonnen gliedern soll.

Gula: Völlerei undMaßlosigkeit

Einst bedeutete Sünde die Markierung zwischen Gut und Böse. Wer dagegen
heute sagt „Ich habe gesündigt“, meint damit Pralinen und Eisbein mit Sauerkraut, und die Hölle, die ihn erwartet, besteht aus Sodbrennen. Vielleicht ein paar Pfunde zu viel, ein hoher Cholesterinspiegel. Bis auf den Herzinfarkt, der immer droht, ist die Sache ein absolutes
Diesseitsproblem.

Kann man trivialer über die sieben Todsünden reden als die Werbestra- tegen der Langnese-Marke „Magnum“, die vor einigen Jahren ihre Eissorten danach benannten? In einem solchen Milieu hat die Todsünde der Völlerei naturgemäß völlig abgewirtschaftet. Sie ist aus der Metaphysik in die Ernährungswissenschaften übergewechselt. Völlerei
ist ein Problem, mit dem sich nicht die Seelsorge, sondern die Weltge- sundheitsorganisation beschäftigt, übrigens vor einem moralisch prekären Hintergrund: Den 1,6 Milliarden Übergewichtigen in der Welt stehen
eine Milliarde Hungernde gegenüber.

Mittlerweile ist die christliche Tugend der Mäßigung, die der Völlerei stets gegenübergestellt wurde, wieder mächtig im Kurs. Diätberater und Fitnesskurse haben übernommen, was die Kirche einst dekretiert
hat. Augustinus hört sich an wie ein moderner Arzt, wenn er sagt, der Zweck des Essens und Trinkens sei die Gesundheit.

Die Bibel redigierte den Speiseplan des auserwählten Volkes mit ihren Koschergeboten bis ins Genaueste und bestrafte rigoros. Eine der Sünden in Sodom und Gomorrha war die Völlerei, die Sprüche Salomos warnen:

„Sei nicht unter den Säufern und Schlemmern, denn die Säufer und Schlemmer verarmen, und ein Schläfer muss zerrissene Kleider tragen.“

Auf den ersten Blick rätselhaft, wie der Schläfer plötzlich ins Spiel kommt,
aber das mit den zerrissenen Kleidern haut hin, wenn man sich die Bier- leichen am Morgen nach der Wiesn in München oder dem Karneval in Köln soansieht. Nur in Verknüpfung mit der darauffolgenden Fastenzeit hat die Völlerei ihren Attraktionswert. Sie ist die von der Kirche sanktionierte Ausnahme von der Regel. Im Karneval wird das Schlaraffenland, das Schlemmerparadies, evoziert, in dem die gebratenen Tauben dem ins Maul fliegen, der es noch aufkriegt.

Ein Land mit Zäunen aus Würsten, Fenstern aus Stören und Lachs, Ziegeln
aus Fladen wird da erträumt. „Durch dieses Land“, so heißt es in einer mittelhochdeutschen Beschreibung, „strömt ein Fluss aus goldenem Wein und Bier. Jeder darf dort trinken, ohne zu zahlen, ob er Bier, Wein oder Most will.“ Bis auf die Kostenfreiheit klingt das wie eine frühe Version der „All you can eat“-Angebote und des Flatrate-Saufens. Jedoch: Von der poetisch-derben Paradiesvorstellung, wie etwa der Dichter und
Dramatiker Hans Sachs sie 1530 beschwört, hat die Todsünde der Völlerei einen pathologischen Höllensturz erfahren.

Einst diente sie einer nicht unsympathischen Diesseitsfeier der einfachen Stände, die von flämischen Meistern wie Pieter Bruegel in lebensfrohen Bildern festgehalten wurde. Heute ist sie ein Krankheitsbild. Sie kommt als Bulimie („Ochsenhunger“) daher, die ihre Patientinnen hineinfressen und wieder erbrechen lässt, oder als Magersucht, ihrer Umformulierung ins
Negative. Magersüchtige Teenager halten sich für zu dick und hungern sich zu Tode. Sie leiden an einem falschen Selbstbild, sie sind an der Seele erkrankt. Die Völlerei ist der Wollust als beliebteste Todsünde dicht auf den Fersen. Erstaunlich, wie sehr der Kult um das Essen
wieder in den Mittelpunkt gerückt ist. Wer Eindruck machen will bei seinen Freunden, verfügt über eine Bulthaup-Küche und probiert gewagte Cross-over-Rezepte aus.

Wenn Lafer und Lichter bei Lanz vor den TV-Kameras die Schürze umbinden, sind Hochämter angesagt. Tatsächlich lassen sich die Kochshows als eine Travestie des Abendmahls verstehen. Da sind die Kutten der Ministranten, die Schürzen, da sind die ehrfürchtig
betrachteten Altäre (auf denen es schmurgelt und zischt), und da ist schließlich die Gemeinde im Studio, die mit Wein bei Laune gehalten wird.
Ein Hochamt des Genusses, das die Sakralität der Vorgabe hemmungslos verjuxt.

Blasphemie!

Womit eine weitere Sünde aufs Konto kommt. Aber die fällt, angesichts der bisher angehäuften Schuld, wohl kaum noch ins Gewicht.

Invidia: Neid und Missgunst

Das Handwerkszeug der Todsünde Neid ist, das hätte man sich denken können, das Gift, da genügt ein Blick in die Gazetten. Etwa Frankreich: „Eine Pharma-Assistentin hat mehr als 20 Kollegen jahrelang Schlafmittel in den Kaffee geschüttet. Ihr Motiv: Neid.“ Oder der Mordanschlag mit
vergiftetem Mineralwasser im Berliner Klinikum Charité: „Mögliches Motiv Neid?“ Oder Nanjing: „Ein Imbissbesitzer hat in China das Essen seines Konkurrenten mit Rattengift vermischt (38 Tote). Motiv: Neid.“

Der Neid, die schleichende gelbe Todsünde. Sicher kann sie auch explodieren. Dann wird die Nachbarsfamilie erschossen, die Konkurrentin mit dem Hammer erschlagen, die Schwägerin mit dem Messer attackiert. Doch meist ist es ein langer Weg dahin, eine destruktive Spirale nach
unten, aus leisen Stichen, scheelen Blicken und Vergleichen, die immer böse ausgehen – für die eigene Person. Wer neidet, fühlt sich unterlegen, vom Schicksal betrogen, zu kurz gekommen in jeder Beziehung.
Er verstößt auf seine Weise gegen die letzten beiden der zehn Gebote

(„Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen …“).

Auch hier scheint Gegenwehr unmöglich, vor allem in unserer Gesellschaft, die eine des ständigen Vergleichens ist. Der Neid holt das Schlechteste aus uns heraus, weshalb ihn niemand eingesteht. Unter allen Todsünden ist der Neid die am meisten geächtete. Nietzsche bezeichnete
Neid und Eifersucht als „die Schamteile der menschlichen Seele“. Der Neid lebt im Untergrund, „schmalgesichtig“, wie ihn Shakespeare nannte, keiner gesteht ihn ein, vielleicht wütet er deshalb umso zerstörerischer.
Man darf getrost behaupten, dass die von vielen Deutschen begangenen oder geduldeten Verbrechen gegen die Juden neidgetrieben waren, denn diese stellten die Elite, die reichen Kunstsammler, Bankiers und Fabri- kanten, auch Ärzte, Schriftsteller, Professoren. Auf allen gesellschaftlichen
Stufen, in allen Berufen gab es jüdische Konkurrenten, die der Nazi-Mob nun aus dem Weg räumte.

Der erste Mord, als Kain den Abel erschlug, geschah aus Neid. Doch eines unterscheidet den Neid von den anderen Todsünden. Während Schlemmerei, Unkeuschheit oder Habgier zumindest vorübergehend
als Spaßprogramm durchgehen können, quält der Neidische in erster
Linie sich selber. Auf alten Radierungen und Gemälden wird er dargestellt mit einer Schlange, die aus seinem Mund züngelt und mit ihren Zähnen in seine Augen fährt, mit einem Skorpion, der sich selber sticht, mit einem
Hund, der an einem Knochen nagt. Forscher der University of Warwick und
der Cornell University haben in Experimenten bewiesen, dass Probanden eher auf einen eigenen Vorteil verzichten, wenn sie dafür andere schädigen können. Der Neid ist eine derart elende Kreatur, dass man versucht ist, ihn in Schutz zu nehmen, schon aus sportlichen Gründen.
Ohne das gesellschaftliche „Neidkraftwerk“ (Sloterdijk), könnte man einwenden, gäbe es keinen Leistungsansporn.

Nur die Tatsache, dass man dem Nachbarn das größere Haus, das schnel- lere Auto neidet, führt dazu, dass man Überstunden hinlegt. Das sicherste Zeichen für den Erfolg ist es, Neid bei anderen zu erregen, deshalb wurde
der Slogan des Autoverleihers Sixt fürseinen Miet-Porsche, „Neid und Mißgunst für 99 Mark“, auch auf Anhieb verstanden. Allerdings, wer möchte mit Angebern im Miet-Porsche Kontakt haben? Nein, Neid ist ein durch und durch freudloses Geschäft. Rund tausend Briefe und Anrufe mit meist anonymen Hinweisen erreichen jedes Jahr allein die Finanzbehörde
in Hamburg. Da geht es nicht nur um Schwarzgeldkonten in der Schweiz,
sondern um Ex-Ehepartner, Freunde, Nachbarn.

Der Neid ist derart unterste Schublade, dass man nicht darin herum- wühlen möchte. Früher gab es Kaliber wie Cassius und seinen Hass auf Cäsar. Heute ist da nicht mal mehr Berlusconi anzutreffen.

Acedia: Trägheitdes Herzens

Machen wir uns nichts vor: Trotz aller Spendengalas und „Sorgenkind“ - Aktionen sind wir, in unserer Wagenburg Europa, doch eine recht traurige Veranstaltung gefühlloser Couch-Potatoes, und wer daran noch zweifelt, zappe sich einen Abend lang durch die Privatsender. Im Ernst glauben
wir an nicht viel mehr als an uns selbst und die Bundesliga-Ergebnisse. Ab und zu Bilder von erschöpften Afrikanern am Strand Fuerteventuras. Wir dagegen schaukeln überdrüssig auf der Dünung unserer Wohlstandsge- sellschaft, und je besser es uns geht, desto trübsinniger werden wir.

Für Papst Gregor war der Trübsinn verwandt mit der Trägheit des Herzens. Ein Zustand innerer Leere, weit entfernt von Gott. Wer trübsinnig ist, sündigt, denn Gottes Schöpfung ist ein Grund zur Freude. Im Übrigen blockieren Überdruss undTrübsinn das Mitleiden. Die Mönche, kluge Menschenkenner,wussten, dass die Trägheit die Wurzel aller Süchte ist, der Fresssucht, der Ruhmsucht, der Habgier, die ja nur dazu dienen, die innere Leere zu übertönen. Wenn es ein zeitgenössisches Totemtier dieser Todsünde gäbe, dann wäre es die Kunstfigur Cindy aus Marzahn in ihrem pinkfarbenenSchluffianzug, dieses bunte Zotenpolster gegen das Elend der Welt, in dem sich offenbar viele wiedererkennen, besonders die in Marzahn.

Nun ist die Seelenträgheit womöglich ein Effekt der Globalisierung, die uns jederzeit alle verfügbaren Schreckensmeldungen aus allen Winkeln der Erde zuträgt. Mit den Informationsfluten zum Elend steigt die Ohnmacht darüber. Wer fühlte sich nicht überfordert von den Bildern aus Haiti?

Drei Beispiele zum Prozess der Abstumpfung:

José war 15, sein älterer Bruder Andrés 18. Sie trugen lehmverkrustete Pullover über ihren T-Shirts, Strickmützen und Handschuhe mit Löchern. Sie arbeiteten bei Temperaturen unter null in einer Silbermine nordöstlich von Lima. Ihr Schlafplatz war ein Erdloch, an die Wand war ein Poster von Maradona getackert. Eisiger Wind fegte über dieses Hochplateau in den Anden. Die Eltern der Jungen hatten sie an den Grubenbesitzer verkauft,
für einen Sklavenlohn. Schufterei, oft 16 Stunden am Tag, für ein paar lausige Céntimos. In ihren Augen lag das abgestorbene Glück wie ein schwarzer Baumstrunk, ihr Leben ein dunkler, hoffnungsloser Schacht.

Jeder Reporter erlebt diese Momente, in denen sich Mitgefühl und die Ohnmacht, nicht helfen zu können, mischen. Was hätte man tun sollen? Den Grubenbesitzer entführen? Du gibst ein paar Dollar und kaufst
dein Herz frei von der Scham

Beispiel zwei: In einem Slum in Mumbai sitzt ein Verkrüppelter, hält einen Blechtopf in die Höhe und murmelt dabei Gebete. Da er aber bereits der zehnte Bettler ist, der das tut, da es heiß ist, läufst auch du weiter und verscheuchst das Gefühl des Mitleids wie eine lästige Fliege. Du kennst
das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, du weißt, wie du handeln solltest, aber dein Herz ist träge.

Beispiel drei: Nachdem ein Erdbeben die Stadt L’Aquila in den Abruzzen in Trümmer gelegt und Zehntausende Menschen obdachlos gemacht hatte, flog unser instinktsicherer Krisenhelfer Silvio Berlusconi
ein. Er besichtigte bester Laune die Zelte, flirtete mit einer Rettungsärztin und machte den Opfern Mut mit dem Spruch, sie sollten die Angelegenheit als „Campingwochenende“ begreifen, denn schließlich fehle es an nichts.

Alle diese Beispiele wären nicht erwähnenswert, wenn es nicht diese leise Instanz in uns gäbe, die Einspruch erhebt. Wenn wir nicht tatsächlich mehr wären als nur das Produkt „egoistischer Gene“, als das uns unser naturwissenschaftlicher Metaphysiker Richard Dawkins sieht.

Albert Schweitzer, der Missionar des Mitleids, sagte: „Die Welt, dem unwissenden Egoismus überantwortet, ist wie ein Tal, das im Finstern liegt; nur oben auf den Höhen liegt Helligkeit. Alle müssen in dem Dunkel leben, nur eines darf hinauf, das Licht schauen: das höchste, der Mensch.“ Der Mensch hat den Impuls zu helfen. Wo er ihn nicht verspürt, ist er krank. Die Mönche empfahlen ein Rezept gegen die Todsünde Trägheit:

Man solle sie auf einen gegenüberstehenden Stuhl platzieren und mit ihr in Dialog treten. Das klingt nach moderner Gestalttherapie. Das würde ungemütlich werden für unsere Cindy aus Marzahn!

Nach diesen Streifzügen durch unsere lasterhafte Gegenwart müssen wir mehrere Schlussfolgerungen ziehen. Die erste ist, dass Silvio Berlusconi
für ein Klosterleben überhaupt nicht geeignet ist. Die zweite, dass wir anderen es auch nicht sind.

Die Schlange mit ihren Todsünden denkt gar nicht daran, sich aus dem Staub zu machen. Ganz im Gegenteil. Sie hat es sich gemütlich gemacht in unserem Alltag und richtet größere Schäden an, als wir es uns vorstellen konnten – wenn nicht für unser individuelles Seelenheil, so doch für dieGesellschaft.

Allerdings scheinen von Zeit zu Zeit – zumindest der katholischen Kirche – einige publikumswirksame Auffrischungen und Spielanpassungen nötig. Statt der charakterlichen Todsünden verdammt sie nun nackte Tatsünden.
An erster Stelle sieht sie den Konsum und Handel von Drogen. Es folgt –
höchste Zeit – der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Außerdem im
Sündenkatalog der Moderne: Umweltverschmutzung, Abtreibung, Genmanipulation, Profitgier, die andere in die Armut treibt, exzessiver Reichtum.

Bis auf die Sache mit der Abtreibung eine völlig unkontroverse Liste. Wer ist schon für Profitgier zu haben, die andere in die Armut treibt? Was aber machen mit denen, die sich schuldig gemacht haben? Wie überhaupt
gehen wir mit der Sünde um? Wenn wir Geschöpfe Gottes sind, hat er nicht auch das Böse in uns geschaffen? Tut sich da nicht ein Engpass in unserer Freiheitserfahrung auf?

Schuld bedeutet die Verletzung einer kosmischen Ur-Ordnung, wie sie sich in der Genesis-Erzählung vom Garten Eden spiegelt. Im Chaos nach der Vertreibung sollten religiöse Grundregeln Identität schaffen. Ihr Bruch, also die Sündenerfahrung, erzeugt Selbstzweifel, Angst, Scham.

Die Psalmen sind voll davon. Mit der Menschwerdung Gottes in Jesus ändert sich die Lage. Im Römerbrief konzentriert sich Paulus ganz auf die Schuldfrage. Die neue Freiheit wird nicht mehr von der Gemeinschaft und der Tora gestiftet, sondern durch das vorbehaltlose Vertrauen in Jesus und seine Auferstehung.

Sehr viel später wird der protestantische Existenzphilosoph Sören Kierkegaard diesen Gedanken aufnehmen. Aus der Verzweiflung
über die Sünde und der Angst heraus hilft nur der „Sprung“ zu Gott.

Der Weg aus der Schuld läuft allein über tiefempfundene Reue.

Selbst unsere Rechtsprechung mag darauf nicht verzichten, ein reuiger Angeklagter kann mit Strafmilderung rechnen. Wie viel mehr gilt das für das letzte Gericht!

Die Protestanten bekennen ihre Schuld kollektiv, vor der ganzen Gemeinde. Für Katholiken bietet sich der Beichtstuhl als Ort göttlicher Vergebung an. Die Stille, das Holzgitter, das Murmeln des Priesters, der
nach einigem Nachfragen – Präzision ist wichtig – sein „Ego te absolvo“ spricht.

„Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen“,

sagte Jesus seinen Jüngern. Das alles in der Intimität der Ohrenbeichte,
als persönliches Geheimnis, fernab vom Geständnistrubel bei Facebook.
„Die Beichte“. Joyce’ Held Leopold Bloom lästert darüber in der Gottes-dienstszene im „Ulysses“. „Jeder drängt danach.

Dann will ich dir auch alles erzählen. Buße. Bestraf mich bitte … Und ich habe geschschschschschsch. Und hast du auch gechechechecheche
… Dann kommt sie raus.

Reue, hauttief. Entzückende Scham.“ Allerdings, nach der Absolution ist vor der Absolution, Sündenfreiheit auf Dauer ist dem Menschen nicht möglich, deshalb wird weiterhin jeder etwas zu erzählen haben und einen Grund, sein Gewissen zu entlasten, und wenn es nicht Gott ist, dann ist es die Gemeinschaft, die den Einzelnen zwischen Ehre und Scham stellt.

Analytisch gesprochen ist das Gewissen das Über-Ich, das die zerstö- rerischen Triebimpulse auf ein sozial verträgliches Maß bändigt. Doch das Böse kämpft immer wieder neu um Geltung. In diesem Doppel aus
Auflehnung und Reglementierung sind wir alle gefangen seit der Vertreibung aus dem Paradies, Sünde und Vergebung tanzen insbesondere
in der Mediengesellschaft einen nicht unspektakulären Tango.

Die Sünde kann mit beträchtlicher Aufmerksamkeit rechnen. Und die öffentliche Beichte erst recht. Hier ein paar derjenigen, die jüngst Verfehlungen, Schwächen, Verschwiegenes öffentlich gebeichtet haben:
David Letterman (Ehebruch), Tiger Woods (Ehebruch), der britische Ex-Vizepremier (Bulimie), der „Bulle“ Ottfried Fischer (Sex mit Prostituierten), Brigitte Nielsen und Kiefer Sutherland (Alkoholsucht) – dazu rund 50 000 Einträge, die Google bei der Wortkombination „öffentliche Beichte“ ausspuckt.

Man sollte sich nicht täuschen lassen, die Sünde ist selbstver-ständlich weitaus spektakulärer als die Tugend, besonders
in katholischen Gegenden. Als die Sambaschule „Viradouro“ beim Karneval in Rio de Janeiro mit den sieben Todsünden durch die Avenida defilierte, rasten die entzückten Sambistas. Besonders der Wagen der Wollust wurde frenetisch gefeiert mit all den Extraladungen an nackten Tänzerinnen in lasziven Posen. Als im Jahr darauf die Sambaschule
„Mangueira“ mit den „Zehn Geboten“ zum Gegenschlag ausholte, war man überrascht, mit wie vielen Goldbikinis auch die mosaischen Gesetzestafeln zum Leben erweckt werden konnten.

Wie aber steht es um das Höllenfeuer, in dem die schweren Sünder auf ewig verdammt sind? „Die Hölle gibt es, aber sie ist leer“, soll Hans Urs von Balthasar, ein markanter katholischer Denker, gesagt haben.
Diejenigen, die sich als Sünder fühlen, können mit der verzeihenden, mit der alldurchdringenden Liebe Gottes rechnen.

Die Theologie spricht von der „Apokatastasis“ am Ende aller Tage, wenn Gott die Welt wieder in ihren sündenfreien Urzustand versetzt. Das ist der Moment der Allversöhnung, auf den sie hoffen können. Einstweilen werden wir wohl mit der Hölle vorliebnehmen müssen, die wir unsselber bereiten.

Ende

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