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Das Kreuz Christi, die Mitte des Glaubens aller Christen


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Rolf

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Gestern hatte ich die Gelegenheit, bei einem Pastorentreffen diesen Vortrag von Prof. Dr. Wilkens in Neustadt zu hören. Ich denke, bisher war mir nie ein derart excellenter Vortrag von einem evangelischen Geistlichen vor allem mit kritischem und selbstkritischem Blick auf eigene Versäumnisse und auf die Oekumene zu Ohren gekommen.





Das Kreuz Christi, die Mitte des Glaubens aller Christen





Eine ökumenische Rede zum Paulusjahr 2008/2009,
gehalten von Bischof i.R. Prof. Dr. Ulrich Wilckens
am 23. Januar 2009 in der Hauptkirche St. Michaelis zu Hamburg



Von den zentralen Inhalten christlichen Glaubens ist heute nichts so heftig umstritten wie die
Aussage des Apostels Paulus, „daß Christus für unsere Sünden (am Kreuz) gestorben ist“ (1
Kor 15,3).

Doch nicht erst heute gibt es harte Kritik gegen die christliche Kreuzesbotschaft – schon zu
Paulus’ Zeit ist ihr von seiten der Gebildeten der damaligen Öffentlichkeit empörte
Ablehnung entgegengeschlagen (1Kor 1,23). Schlichtweg „Unsinn“ sei es, Heil zu erwarten
von einem Gottessohn, der am Kreuz elend und schändlich gestorben und also gescheitert sei.
Und erst recht empörten sich jüdische Gesetzeslehrer: ein am Holzpfahl Aufgehängter sei auf
jeden Fall von Gott verflucht – so steht es in der Tora (5 Mose 21,23) –: Einen solchen
Gekreuzigten als Gottes Messias zu verkündigen, sei Blasphemie, Gotteslästerung.
Eben dies aber verkündigen Christen. Für sie ist der Tod Christi am Kreuz von Golgatha das
Heilsereignis schlechthin. Paulus sagt provozierend: Nichts anderes wolle er wissen als Jesus,
den Messias – und zwar diesen als Gekreuzigten (1 Kor 2,2). Und seinen Kritikern hält er mit
beißender Ironie entgegen: Mögen sie es für „Unsinn“ erklären, – aber dieser Unsinn, den
Gott zur Rettung des Lebens aller Menschen vollbracht hat, ist weiser als alle
Menschenweisheit; und in der Ohnmacht dessen, der am Kreuz hängt, ist Gottes Kraft
mächtiger am Werk als in aller Omnipotenz von Menschen (1 Kor 1,25).
Durch alle Jahrhunderte hindurch versammeln sich Christen Sonntag für Sonntag zu ihrem
Gottesdienst unter dem Zeichen des Kreuzes und empfangen im Heiligen Mahl in tiefer
Andacht in Brot und Wein den Leib und das Blut ihres gekreuzigten Herrn als Gabe ihres
Erlösers. Man wird Christ durch die Taufe, in der man Anteil erhält am Tod des gekreuzigten
Christus und darin am Leben des Auferstandenen. Wenn Christen Vergebung ihrer Sünden
zugesprochen wird als Absolution im Namen Gottes, so erfahren sie sie als Wirkung des
Kreuzes Christi – und dabei durchströmt sie eine tiefe, selige Freude darüber, daß ihr Leben
zuinnerst frei geworden ist von der erdrückenden Last ihrer Schuld. Viele Christen
bekreuzigen sich, wenn sie im Gottesdienst den Segen Gottes empfangen oder nachdem sie zu
Gott gebetet haben; und in ihrem Gesicht kann man tiefen Frieden ihrer Seele erkennen. So
steht das Kreuz Christi lebensbestimmend über uns Christen und über der Kirche –: Irgend
etwas zentral Wichtiges muß doch daran sein! Irgend etwas, das in der harschen Kritik der
vielen Ablehnenden gar nicht im Blick steht, ja, woran sich diese Kritik schlicht als
Mißverständnis und Mißdeutung erweist.

Das Paulusjahr 2008/2009 gibt Anlaß, über den Sinn des christlichen Glaubens an den
gekreuzigten Christus neu nachzudenken. Und wenn wir das tun, wird in verblüffend
eindeutiger Weise hervortreten, daß Christen aller verschiedener Konfessionen darin
fundamental übereinstimmen. Das ist eine wichtige ökumenische Erfahrung: Je mehr heute
deutlich wird, daß wir Christen in einer weithin nicht-mehr-christlichen Umwelt leben, um so
brennender wird die Aufgabe, daß wir es neu lernen, dieser Umwelt über die zentralen Inhalte
christlichen Glaubens klar Rede und Antwort zu stehen. Und je mehr wir uns theologisch
darauf vorbereiten, indem wir die Bibel darüber befragen, um so mehr werden wir gewahr,
daß es in der Bibel nur ein Evangelium gibt, das uns alle verbindet; und daß wir in dieser
einen Heilsbotschaft die eine Kirche sind (und es nicht erst mühsam werden müssen!). Ich
halte es sogar für erwägenswert: Sollte Gott nicht vielleicht die ganze ökumenische
Bewegung nach der jahrhundertelangen Geschichte konfessioneller Gespaltenheit als neues
Ereignis zu dem Zweck haben entstehen lassen, daß wir Christen durch die Einung im
Glauben fähig werden, im öffentlichen Streit um die Wahrheit der Religionen zu bezeugen,
was eigentlich das Christliche am Christentum ist, und welch tiefe Kraft ihm innewohnt,
elementare Lebensprobleme unserer modernen globalen Welt für alle Menschen sinnvoll zu
lösen.

So wollen wir heute abend fragen: was ist der Sinn der biblischen Rede vom Kreuz Christi?
Der Apostel Paulus zitiert in 1 Kor 15,3-5 ein Glaubensbekenntnis in seinem Wortlaut, das für
die gesamte Urkirche von früh an zentrale Geltung hatte: „Christus (das heißt: der Messias) ist
gestorben für unsere Sünden nach dem Zeugnis der Schriften (des Alten Testaments). Er ist
begraben worden. Und er ist (von Gott) auferweckt worden am dritten Tag nach dem Zeugnis
der Schriften“. Daraus geht hervor: 1. Christus und Gott werden hier wesentlich zusammen
gesehen. Der Tod Christi am Kreuz und seine Auferweckung durch Gott sind ein einziges
Heilsgeschehen. Und 2.: Darin ist der Heilswille Gottes zur Erfüllung gekommen, der im
Alten Testament von Anfang an bezeugt ist.
Beginnen wir mit diesem Zweiten! Das Neue Testament ist voll von Hinweisen darauf, daß
das Christusgeschehen in den Schriften des Alten Testaments im voraus angekündigt worden
ist. Dabei richtet sich das vordringliche Interesse auf das, was mit der Person Jesu
zusammenhängt: daß er der Messias ist, dessen Kommen Gott Israel durch seine Propheten
verheißen hat; und besonders darauf, daß er der einzig-geliebte Sohn des einen Gottes als
seines Vaters ist. In all dem setzten die ersten Christen als völlig selbstverständlich voraus,
was sie mit allen Juden teilten: den Glauben an den einen Gott, der das Volk Israel als sein
Eigentumsvolk erwählt hat, und das Wissen um die bewegte Geschichte Gottes mit Israel,
deren Zeugnisse in allen Synagogengottesdiensten regelmäßig aus der Heiligen Schrift
verlesen wurden (und noch heute werden).

Wir Christen müssen uns daher tief in das Alte Testament hineindenken, um die
Verkündigung und den Glauben im Neuen Testament richtig zu verstehen. Das gilt gerade
auch für die Bedeutung des Kreuzes Christi gilt. Daher ist, bevor wir davon reden, zunächst
ein Rückgang in den Kern alttestamentlichen Glaubens notwendig und sehr hilfreich.
Alles, was Israel glaubt und lebt, ist in dem Namen Gottes konzentriert, den Gott nach dem
Bericht im Buch Exodus am Anfang seiner Geschichte mit dem Volk seines Bundes offenbart
hat. Dieser Name lautet: „Ich bin, der Ich bin“, worin zugleich mitzuhören ist: „Auch in aller
Zukunft werde Ich sein, der Ich bin“ (Ex 3,14).
Nicht wahr: Das klingt gerade so, als sei Gott das Ideal des modernen Menschen, der eben
dies für sich selbst beansprucht: „Ich bin ich“ – alle um mich herum müssen mich so nehmen
und anerkennen, wie ich sein will; und über mir will ich niemanden haben, der über mich zu
bestimmen hätte. – Der biblische Gott aber meint sein Ich ganz anders. Zwar ist nur er selbst
Gott, er allein; und wer immer es mit ihm zu tun bekommt, darf nur ihn als Gott anerkennen.
Gleich in seinem ersten Gebot heißt es: „Du sollst (ja: du wirst) keine anderen Götter neben
mir haben“. Moderne Religionswissenschaftler sehen in einem solchen exklusiven
Monotheismus einen politisch hochgefährlichen Trend zu einem aggressiv-autoritären
Allmachtsgebaren. Was jedoch den biblischen Gott betrifft, so zielt sein Alleinanspruch
darauf, daß er der einzig-eine Gott ganz und gar für Israel sein will: „Dein Gott bin ich“ (Ex
20,2). In der Absolutheit seines Ich ist er für die Menschen da, denen er sich zuwendet. Sein
ICH und sein FÜR-DICH sind absolut eines. Das ist der Grund dafür, daß Gott sich in seinem
Handeln als Er-selbst erweist. In der Wirklichkeit dessen, was er tut, sollen die Menschen mit
der Wirklichkeit der Person Gottes zu tun bekommen.

Wem Gott sich so ganz zuwendet, von dem will und erwartet er allerdings auch entsprechend
ganze Zuwendung als Antwort. „Deinen Gott sollst du lieben mit ganzem Herzen, ganzer
Seele, ganzem Gemüt und mit deiner ganzen Kraft“, lautet sein Gebot für die, die in den Bund
mit ihm eintreten (5 Mose 6,5).
Kaum jedoch hat Gott in diesem Sinn das ‚Grundgesetz’ seines Bundes mit Israel in Gestalt
der Zehn Gebote in Stein graviert, ewig gültig, – da ist das Volk bereits dabei, diesen Bund zu
brechen. Wie Mose mit den beiden Steintafeln vom Gottesberg herabkommt, sieht er, wie sie
dort unten selbstgemachte Götter feiern mit höchster Emotionalität religiöser
Selbstbewunderung. Gott nimmt diese Abkehr der Seinen von ihm durchaus ernst: Der Bund
ist zerbrochen, nun auch seinerseits. „Ich bin dein Gott“ – das kann nun nicht mehr gelten.
Doch jetzt erweist sich überraschend, daß Gottes Ich größer ist als das Wir der Aufrührer:
Trotz seines Zorns erneuert er seinen Bund mit den Treubrüchigen. Nochmals schreibt er die
selben Zehn Gebote auf zwei neue Steintafeln. Zur Begründung vertieft und erweitert er jetzt
seinen Namen: „Gott bin ICH für dich: als barmherzig, gnädig und reich an Liebe und Treue“
(Ex 34,6); und in der Mitte steht „langsam zum Zorn“, das heißt: Über allen Zorn gegen
Israels Treubruch hinaus reicht die Kraft seines Erbarmens. Die, die er liebt, will er nicht an
der Wirkung seines Zorns zugrunde gehen lassen. Gott ist er, indem er Sünde vergibt.

Um zu verstehen, was in der Bibel „Sünde“ ist, bedarf es eines weiteren Rückgangs zum
Anfang der Geschichte Gottes mit den Menschen, zur Geschichte Adams in Gen 3. Als Gott
sein ganzes Schöpfungswerk vollendet hatte, sah er: Alles war gut (Gen 1,31). Das gilt vor
allem auch für Adam und Eva: Als sein Ebenbild hat er sie geschaffen. Damit sie es bleiben,
verbietet er ihnen, von der Frucht eines Baumes zu essen: Über das, was gut und böse ist,
entscheidet allein Gott. Doch eben dies sich selbst anzueignen, gelüstet die Menschen – erst
dann würden sie über alles verfügen können, was Gott ihnen im Paradies zuwachsen läßt.
„Gottes Ebenbild“ wollen sie sein, indem sie selbst „wie Gott“ entscheiden, was in ihrem
eigenen Tun gut und böse ist, was ihnen nützt und nicht nützt. Die Folge ist: Sie gewahren,
daß sie „nackt“ sind und sich nun selbst zu kleiden suchen müssen. Und Gott gibt sie ihrem
Eigenwillen preis – draußen außerhalb seines Gartens, in der Wüste sollen sie mit ihren
eigenen Kräften sich verschaffen, was sie zum eigenen Leben brauchen.
Das also ist Sünde nach biblischem Verständnis: Abkehr von Gott, der Leben gibt;
Selbstzumutung, sich Leben zu schaffen allein aus dem, was Menschen sich selbst zu schaffen
vermögen, so zu leben, wie sie es selbst wollen; was gut zum Leben ist, für sich selbst zu
entscheiden - Was daraus wird, zeigt sich alsbald: Der Bruder wird dem Bruder zum tödlichen
Konkurrenten. Aus der beanspruchten Autonomie des Menschen wird eine Autonomie jedes
Menschen für sich selbst. Sünde gegen Gott wirkt sich immer als Verderben des Lebens aus,
nicht nur des Lebens anderer, sondern auch des eigenen Lebens, der Lebenswelt als ganzer.

Ohne Gott als den Geber des Lebens für alle kann es sinnvolles, erfülltes, wirkliches Leben
nicht geben. Erleben wir nicht in unserer Gegenwart in erschreckendem Maß, was aus unserer
Lebenswelt wird, die wir selbst zu produzieren und für uns selbst zu verbrauchen suchen?
In der Geschichte Israels mit seinem Gott geschieht beispielhaft, was für die Geschichte der
Menschheit insgesamt gilt: eine Geschichte immer neuen Treubruchs wird im Alten
Testament erzählt, immer neuer Aufsässigkeit im Eigenwillen, der sich selbst alles zutraut,
und immer schlimmerer Katastrophen, die daraus folgen; eine Geschichte, in der Gottes Zorn
immer mehr Oberhand gewinnen muß und dem heilschaffenden Wirken seiner
Erwählungsliebe immer weniger Raum bleibt. Schließlich kommt es zum heillosen Ende. Das
babylonische Großreich deportiert das kleine Volk Israel zu bleibender Gefangenschaft, und
Jerusalem bleibt als Trümmerhaufen zurück. Gottes Zorn hat Israel dem Willen seiner Sünde
preisgegeben. Der Bund vom Sinai ist zerstört.

Das ist nicht mißzuverstehen: In seinem Zorn ist Gott den Seinen sehr wohl verbunden.
Empört ist er darüber, daß sie seine immer neue Zuwendung immer neu abweisen.
Schmerzlich enttäuscht ist er über jedes Nein gegen ihn. Er leidet mit an ihrem Elend als der
Folge ihres Treubruchs. Würde er sie nicht von Herzen lieben, so würde er sich nicht so über
sie erregen. Er würde sie einfach zugrunde gehen lassen und ihr Schicksal anderen Völkern
zum warnenden Vorbild werden lassen, ja er würde sich vielleicht sogar nach einem andern
Volk umsehen, dem er seine Erwählung schenkte statt Israel. Aber das kommt für ihn gar
nicht in Frage. Seine einmal zugesagte Treue ist unverbrüchlich – sonst wäre Gott nicht Gott.
Doch würde Gott nicht jede Sünde bestrafen, verlöre seine Gnade jede Kraft. „Billige Gnade“
wäre der Tod all seiner Liebe, ein bloßes Wort, das niemand ernstnehmen müßte – wie so
viele Versprechen heute, von denen von vornherein jeder weiß, daß auf sie kein Verlaß ist.
Vor allem aber: In seiner Liebe nimmt Gott uns als selbstverantwortliche Personen und in
diesem Sinn als seine Partner ernst. Wem er sich verbindlich zuwendet, der soll ihm in
Freiheit antworten. Bei einem Automatismus von Liebe und Heil wären seine Erwählten wie
Figuren in einem Spiel, aber nicht Menschen, denen Gott als ihr Schöpfer eingestiftet hat, sein
Ebenbild zu sein.

Aber dennoch: Das absolut Wunderbare an Gott ist, daß seine Liebe, in der er den Seinen
Leben zugesagt hat, Kraft behält über seinen gerechten Zorn hinaus. In seiner Liebe erbarmt
sich Gott derer, die sich als Sünder selbst den Tod erwirkt haben. Sein Wort der Vergebung
hat neuschöpferische Kraft.
Mitten in der aussichtslosen Lage der Gefangenen in Babylonien erheben Propheten im
Namen Gottes ihre Stimme und kündigen Israel Befreiung und Heimkehr in die Heimat an.
Der Bund vom Sinai ist zwar zerbrochen. Aber Gott will einen neuen Bund mit ihnen
schaffen. Dessen Wirklichkeit ist dann jedoch nicht schon eingelöst in dem armseligen und
politisch bleibend machtlosen Leben des Volkes nach seiner Heimkehr. Die Verheißung eines
neuen Bundes hat eine ganz neue Dimension weit über die Gegenwart hinaus: In dieser
endzeitlichen Zukunft will Gott das am Anfang seinen Erwählten zugesagte Heil vollkommen
an ihnen verwirklichen, und zwar so, daß zugleich alle Völker die Chance haben werden, sich
ihm zuzuwenden und unterzuordnen. Der Prophet Daniel schaut dies in der Vision eines
künftigen universalen Reiches, in dem Gott allein der alles bestimmende, allen Heil
schaffende Herrscher sein wird. Er werde seinen Messias zum Regenten einsetzen mit
menschlichem Antlitz statt der unmenschlichen Herrscher der Großreiche irdischer
Geschichte, deren Herrschaft dann auf ewig zunichte werden soll.
In der Zeit bis zu diesem Ende findet zwar das Problem der ganzen Geschichte Israels keine
end-gültige Lösung: Das Gottesvolk bleibt weithin im Treubruch. Nur einzelne Gerechte gibt
es, aber ihre Zahl bleibt klein. Israel als ganzes ist permanenter Sünde verfallen und bedarf
immer neuer Vergebung, die dem berechtigten Zorngericht Gottes gleichsam immer wieder
zuvorkommt. Diese Vergebung wird Israel Jahr um Jahr im Hochfest des „Versöhnungstags“
zuteil (jom kippur). Im innersten Gemach des Jerusalemer Tempels, der „allerheiligsten“
Wohnstätte Gottes inmitten seines Volks, läßt er das Wunder der Befreiung des Volkes von
seiner Jahresschuld geschehen (3 Mose 16): In einer kultischen Symbolhandlung gibt der
Hohepriester das Leben von Haustieren Gott anheim statt des verwirkten Lebens des sündigen
Volks; das Blut dieser Tiere wird vergossen anstelle des Blutes der schuldigen Menschen, und
so erfährt Israel die Vergebung seiner Sünden. Ohne diese jährliche Befreiung von seiner
Sünde müßte Israel zugrundegehen. Darum hat in den Jahrhunderten nach dem babylonischen
Exil der Tempel als Ort der Gegenwart des heiligen Gottes, an dem dieser sein Volk von der
unheilträchtigen Wirklichkeit seiner Sünde freikommen läßt, zentrale Bedeutung für Israel
bekommen.

Beides nun findet im Wirken Jesu in ganz neuer Weise zur Einheit zusammen: Einerseits
verkündigt Jesus das Reich Gottes, das Israel in der endzeitlichen Zukunft erwartet, als jetzt
und hier anbrechend: In seinem Wirken zeigt sich die Heilsvollendung dieses Reiches bereits
zeichenhaft an. Darum spricht Jesus geheimnisvoll von sich als „dem Menschensohn“ jener
Vision Daniels: Jesus ist der, durch den Gott seine universale Herrschaft vollstreckt.
Andererseits jedoch verkündigt er diese Herrschaft Gottes so, daß ihr eigentliches Ziel ist, die
Sünder aus der Verlorenheit zu wahrem Leben zu erretten. Er verkündigt also die Vergebung,
die Israel im Hochfest des jom-kippur kult-symbolisch erfährt, als endzeitlich-‚reales’
Geschehen: Sünder sollen jetzt die letzte Chance bekommen, am heilvollen Leben im Reich
Gottes teilzuhaben; und Gerechte in Israel sollen die Freude Gottes über jeden Sünder, der zu
ihm umkehrt, mit ihm teilen.

Doch auch diese neue Initiative Gottes droht zu scheitern, wie alle vorangehenden
Bemühungen zur Rettung seines Volkes immer wieder gescheitert sind. Auch der Ruf Jesu
zur Umkehr erfährt bei der Majorität des Volkes Ablehnung. Aber nun erweist sich der
Rettungswille der Liebe Gottes in seiner überlegenen Kraft endzeitlicher Wirklichkeit: Jesus
selbst als der Menschensohn, als der eine Sohn des einen Gottes, gibt sein eigenes Leben hin,
um das der Sünder aus der Verlorenheit zu erretten. Die Stellvertretung im Kult zwischen Tier
und Mensch vertieft sich zur Stellvertretung Gottes selbst für die schuldigen Menschen. Der
Tod, in dem die Sünde das Leben der Sünder endgültig verdirbt, trifft statt der Sünder den
Sohn Gottes selbst. So radikal wirkt sich Gottes Liebe jetzt am Ende aus. Schon von Anfang
an hat sich Gott denen hingegeben, die er liebt. Sein eigenes ICH setzt er für sie ein. Dieses
Für-Sein Gottes vollendet sich jetzt darin, daß er seinen eigenen geliebten Sohn in den Tod
hingibt, den die Sünder sich selbst erwirkt haben, damit sie, die schon Verlorenen, von diesem
Tod frei werden und am Leben teilhaben dürfen, das Gott denen geben will, die er als die
Seinen liebt.
Dies nun ist das Heilsgeschehen, das der Apostel Paulus zusammen mit allen andern Aposteln
als das Evangelium Gottes verkündigt. Es ist der Tod Christi am Kreuz, der Heil schafft:
Stellvertretend für Sünder nimmt er deren Lebensverderbnis auf sich, damit sie davon
freikommen.
Als jüdischer Gesetzeslehrer, der Paulus gewesen ist, bevor er Apostel des Christus wurde,
den er bisher bekämpft hatte, erklärt er seinen ehemaligen Kollegen diese Skandalbotschaft
des gekreuzigten Messias Gottes aus der Mitte der Tora: Gewiß, Gottes Gesetz verflucht
jeden Sünder. Denn Gott ist gerecht und erwartet gerechtes Tun von denen, die er als solche
erwählt hat, die zu ihm gehören. Wer statt dessen Widergerechtes tut, ist des Todes schuldig
und wird verdientermaßen im Tod zunichte werden. Aber in seiner Erwählungsliebe will Gott
nicht den Tod des Sünders, sondern dessen Leben. Darum hat Christus, Gottes Sohn, uns von
dem Fluch des Gesetzes gegen die Sünder erlöst, indem er diesen Fluch an sich selbst am
Kreuz hat zum Austrag kommen lassen. So sagt Paulus es im Galaterbrief (3,13). Ein zweites
Beispiel solcher Erklärung des Kreuzes für Juden findet sich im 2. Korintherbrief. Hier
überspitzt er die Formulierung und wendet die Logik des Sühnekults vom jom-kippur auf den
Tod Jesu am Kreuz an: Gott hat seinen sündlosen Sohn für uns in die Todeswirklichkeit
unserer Sünde hingegeben, damit wir an der Lebenswirklichkeit seiner Gerechtigkeit
teilgewinnen. Um diese Stellvertretung Christi für uns geht es – Martin Luther hat im Blick
auf diese Stelle von dem „seligen Tausch“ Christi mit uns gesprochen, an dem unser Heil
hängt.

Wenn Paulus an diesen beiden Stellen – und an vielen anderen ähnlichen – von „uns“ spricht,
dann spricht er nicht nur als Jude zu Juden, sondern er meint die nichtjüdischen Christen mit
den Juden zusammen. Denn: Für alle Menschen ist Christus am Kreuz gestorben. Es ist die
Sünde Adams, deren Todeswirkung Christus durch seine Selbsthingabe in den Tod für alle
Adamskinder aufgehoben hat, – für die gesamte Menschheit. Das hat Paulus in einem der
dichtesten Denkwege herausgestellt, die er in seinen Briefen den Denkfähigen aller Zeiten
immer wieder zumutet (Röm 5,12-21). Dort hebt er darauf ab, daß Christus die Todeswirkung
der Sünde Adams aufgehoben und ins Gegenteil verwandelt habe: Deren Aufhebung eröffnet
den Kindern des Todes die Wirklichkeit heilen, erfüllten Lebens, so wie sie der Schöpfer
seinen Menschen eigentlich zugedacht hat. Dieses Leben ist also nur durch den Tod hindurch
zu gewinnen, durch den Tod des Todes – von diesem Gedanken hat im 19. Jahrhundert Hegel
seine ganze ‚dialektische’ Philosophie inspirieren lassen: Das wahre Gute, meint er, ist nur
durch den Vollzug der Negierung des Negativen zu erreichen. Für den Theologen Paulus
freilich ist diese Dialektik die Wirkung des stellvertretenden Kreuzestodes Christi: Sünder
werden gerecht durch die Vergebung ihrer Sünde, die Christus uns erworben hat, indem er
unsere Sünde auf sich genommen hat; zum Leben gelangen wir Todgeweihten durch Christi
Tod, den er für uns gestorben ist, um unser Leben vom Tod zu erretten. Universal für alle
Menschen gilt das, weil es Gottes Sohn ist, der sein göttliches Leben hingegeben hat, um die
Verlorenheit und Verderbnis alles Lebens sündiger Menschen aufzuheben. Indem so Gottes
Liebe ihr Letztes an Selbsthingabe getan hat und so in ihrer ganzen Allmacht zur Wirkung
gekommen ist, hat sie darin auch ihre Begrenzung auf Israel gesprengt und alle Völker mit
einbezogen. Alle Sünder, die Christus von ihrer Sünde befreit hat, sind nun Gottes Erwählte.

Sehr bewußt schreibt Paulus seine Briefe an seine Gemeinden als Angehörige der universalen
„Kirche Gottes“ aus Juden und Nichtjuden. Sie alle hat der heilige Gott zu seinen Heiligen
berufen (1 Kor 1,1f.). In Christus ist Gott so in ihrer Mitte zugegen, wie er es zuvor im
Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels gewesen ist. Im Römerbrief (3,25) kann Paulus vom
gekreuzigten Christus geradezu als von diesem innersten Ort des Allerheiligsten sprechen, an
dem am großen Versöhnungsfest der Symbolakt zur Vergebung der Sünden Israels vollzogen
worden ist, die jetzt im Tod Christi für alle Sünder ein für allemal erwirkt worden ist.
Diese universale Heilskraft gewinnt der Kreuzestod Christi freilich dadurch, daß Gott seinen
Sohn aus diesem Tod zum Leben auferweckt hat. Kreuz und Auferstehung Christi gehören
wesenhaft zusammen: In der Auferweckung hat Gott der Liebe der Selbsthingabe seines
Sohnes ihren Sieg geschaffen. Vergebung der Sünden als Rettung verlorenen Lebens erfahren
Christen durch ihren gekreuzigten Herrn, der als Auferstandener an Gottes Herrschaft teilhat.
In Röm 4,25 sagt Paulus das in Kürze so: „Gott hat Jesus, unsern Herrn, in den Tod
hingegeben um unserer Sünden willen; und er hat ihn auferweckt, damit wir Sünder gerecht
werden.“ Und im 1. Brief an die Korinther betont Paulus: Wäre Christus nicht auferweckt
worden, so wäre der ganze Glaube der Christen nichts wert. In der Wirklichkeit unseres
Lebens „wären wir noch in unseren Sünden“ (1 Kor 15,17). Denn ohne Gottes
lebenschaffende Allmacht wäre Gottes Liebe nicht die Liebe Gottes im Sinn seines Namens
von Ex 34,6. Gott vermag zu verwirklichen, was er will.
Darin zeigt sich noch einmal die tiefe und wesentliche Verwurzelung des neutestamentlichen
Christus-Evangeliums im Herzen alttestamentlichen Gottesglaubens.

Daraus erwuchs jedoch
Paulus als dem Missionar für die nichtjüdische Welt ein schweres Problem: Wie konnte er
Griechen verständlich machen, was so urjüdisch gedacht ist? Zum Dolmetscher sehr
verschiedener Sprachwelten mußte er werden – jedoch ohne daß der Sinn der Botschaft sich
verändert.
Auch darin ist Paulus ein Meister gewesen. Zwar war den meisten Hörern die Rede von dem
einen Gott durch den Kontakt mit den Juden in den Synagogen, in denen sie bereits heimisch
geworden waren, ganz vertraut. Gebildeten Griechen lag ohnehin ein monotheistisches
Denken nahe. Auch heute liegt es ja nahe zu denken, es müsse letztlich einen Gott ‚hinter’
den vielen Gottheiten der verschiedenen Religionen geben. Aber die Rede vom gekreuzigten
Sohn des einen, hocherhabenen Gottes wird dann um so anstößiger. Diesen Anstoß konnte
und durfte Paulus zwar weder beseitigen noch auch nur abmildern: Das qualvolle Verenden
am Kreuz war die unmenschlichste, entwürdigendste Todesstrafe in der Welt des Altertums.
Aber die Erlösung von Sünde und Tod durch die Selbsthingabe Christi für uns hat Paulus
seinen griechischen Hörern durch Bilder verdeutlicht, die sie aus ihrer Welt kannten. Von der
Großmut eines Gläubigers, der seinen Schuldnern große Summen aus freien Stücken erläßt,
hatte bereits Jesus gesprochen (Mt 18,23-35). Paulus vergleicht die tödliche Macht der Sünde
über das Leben des Sünders mit dem Schicksal der Versklavung, das damals unzähligen
Menschen widerfahren ist: Christus hat euch freigekauft aus dieser Sklaverei, brachte Paulus
den Menschen nahe. Aber nicht nur Sklaven hatten freien Zutritt zur Kirche Christi,
gleichberechtigt mit freien Bürgern, sondern auch freie Bürger selbst wurden im Glauben an
den Sohn Gottes gewahr, wie sklavisch abhängig sie im Egoismus ihrer bisherigen
Lebensweise gewesen waren: Beide, Freie wie Sklaven, hat Christus aus der Sklaverei der
Sünde befreit (1Kor 7, 21-23). Mit einem anderen Bild spricht Paulus davon, wie Gott uns mit
sich versöhnt hat – wie ein Feldherr, der mit seinen Truppen eine Stadt eingekreist hat, so daß
ihre Einnahme nur eine Frage der Zeit ist: Aber welch unverhofftes Glück – der Feldherr
bietet der Stadt Versöhnung an (2 Kor 5,18-20)! An dieser Stelle ist im übrigen besonders
deutlich zu erkennen, daß es der Sühnetod Christi am Kreuz ist (V. 21), dessen
Erlösungswirkung Paulus den Korinthern mit dem Bild vom Versöhnungsakt Gottes
eingängig erklärt. Es gab in der antiken Literatur noch vielerlei andere Bilder, in denen
religiöse Bewahrungs- und Errettungserfahrung ausgedrückt worden sind. Im Neuen
Testament steht vor allem vor Augen, daß ein Freund für seinen Freund alles zu tun bereit ist,
sogar das Leben für ihn zu lassen: So hat es Jesus für uns getan, sagt Jesus im
Johannesevangelium zu seinen Jüngern (Joh 15,13). Auch Paulus gebraucht dieses Bild. Doch
er betont zugleich das absolut Ungewöhnliche, Einmalige am Sterben Christi für uns: Sind es
doch nicht Gerechte als Freunde Gottes, sondern Sünder als Gottes Feinde, für die er sein
Leben hingegeben hat (Röm 5,8). Und das tut unter Menschen zweifellos niemand (Röm 5,7).
All solche Bilder sind bis zu einem gewissen Grad Verstehenshilfen für Griechen, denen das
Denken in der Logik und Sprachweise des jüdischen Sühnekults fremd war. Aber es waren
sehr konkrete Erfahrungen einer tiefen Befreiung, die die vielen Menschen, die zum Glauben
an Christus kamen, tatsächlich in ihrem eigenen Innern gemacht hatten, zuerst bei ihrer Taufe,
danach immer wieder bei jeder Begegnung mit der Liebe ihres gekreuzigten Herrn im
Heiligen Mahl des sonntäglichen Gottesdienstes: „Christi Leib, für euch hingegeben“ –
„Christi Blut, für euch und für viele vergossen“. So konkret diese Erfahrungen waren, so
konkret wirkten die Bilder, mit denen Paulus sie sprachlich zum Ausdruck brachte. All diese
Bilder sind dann im Lauf der Zeit zu festen Sprachelementen christlicher Sprache geworden.

Sie konnten das, weil sie jeweils etwas Wesentliches vom Christusgeschehen ausdrückten,
das als solches zu begreifen und zu verstehen nur ist, wenn der gekreuzigte Christus mit Gott
und Gott mit seinem gekreuzigten Sohn im christlichen Glauben so zentral und so wesentlich
zusammen erfahren und zusammengedacht werden, wie es der Wirklichkeit des Kreuzestodes
Christi als der letzten und äußersten Verwirklichung des Namens Gottes von Ex 34,6
entspricht.
Zum Schluß fasse ich das Wichtigste zusammen, um daraufhin die wichtigsten kritischen
Einwände zu beantworten, die heute gegen die Heilsbotschaft vom Kreuz Jesu Christi
erhoben werden.

1. Der entscheidende Ausgangspunkt, ja die Basis des Christentums, ist: Christen
glauben an Gott, der in seinem eigenen Wesen Liebe ist: „Ich
bin, der ICH bin“, heißt sein Name, und als dieser ist er ganz und gar für die Menschen
da, die er in barmherziger Gnade und treuer Liebe als die Seinen erwählt hat (Ex 34,6).
Was für eine Grundgewißheit liegt darin für alle Menschen, daß es diesen Einen über uns
allen gibt, der so absolut ICH ist und dies nicht für sich selbst – wie die Menschen unserer
modernen westlichen Welt –, sondern für uns alle! Nicht also Egozentrik und egoistisches
Verhalten ist die letzte Macht, die alles Leben in unserer Welt bestimmt, sondern sich
hingebende Liebe. Und christlicher Glaube weiß, ist davon überzeugt und vertraut restlosganz
darauf, daß dieser Gott, der selbst Liebe ist, nicht ein in den Himmel projiziertes
Wunschbild ist, – nein: Dieser Gott ist als persönliches Gegenüber für uns alle wirklich
da. Dagegen ist umgekehrt das Bild von einem himmlischen Großtyrannen, der mit uns
und der ganzen Welt machen kann und macht, was er will, eine Projektion des modernen
Menschen, ein alter Ego, der, gäbe es ihn wirklich, als hochgefährlicher Konkurrent mit
Recht zu fürchten wäre. Deshalb ist es schlicht notwendig, diesem Gott seine Herrschaft
über mich zu bestreiten. Der ist das Angstbild des egozentrischen Menschen von sich
selbst: Es wäre ja schrecklich, wenn es tatsächlich einen allmächtigen Gott über mir gäbe,
der mir gleich wäre! Eines solchen Gottes erwehrt sich deshalb der moderne Mensch
durch kämpferischen Atheismus zu Recht. Nach biblischem Glauben jedoch ist umgekehrt
der Mensch das Bild Gottes; und weil Gott Liebe ist, bedeutet seine absolute Herrschaft
über uns alle, daß wir ihm absolutes Vertrauen (= Glaube) entgegenbringen können; ihm
zu gehorchen, ist die einzige Weise, wie wir unser eigenes Ich schützen und
„verwirklichen“ können. Dieser Glaube wirkt sich in einem Christen so aus, daß er einen
eigenen Egoismus als Selbstschutz vor dem Egoismus der anderen nicht mehr nötig hat.
Wenn der Gott der Liebe über uns allen ist, können wir selbst vertrauensvoll leben und die
anderen um uns her nicht nur ebenfalls leben lassen, sondern einander zum Leben helfen.

2. Christen glauben, daß Jesus in seinem Sterben am Kreuz den Heilswillen der Liebe Gottes
erfüllt, daß also in Christi Selbsthingabe in den Tod Gott selbst das Letzte und Äußerste
seiner Hingabe für uns getan hat. Aus Liebe zu uns ist Christus den Tod an unserer Statt
gestorben, den wir uns durch die Sünde unserer Abkehr von dem Gott des Lebens selbst
erwirkt haben. Und weil es Gottes Zorn ist, der uns diesem Verderben unseres Lebens,
diesem Tod mitten im Leben, anheimgibt, hat Jesus am Kreuz den Zorn Gottes gegen
unsere Sünde auf sich genommen, damit unser Leben der Liebe Gottes gehört.
Auf diese Weise hat Gott die Strafe seines gerechten und notwendigen Zorns zwar
vollzogen, aber nicht an den schuldigen Menschen, sondern an seinem geliebten Sohn. So
hat Gott in letztmöglicher Radikalität erwiesen, daß seine barmherzige Liebe die Kraft
hat, über seinen Zorn hinaus zu wirken und Sündern Vergebung als Rettung ihres
verlorenen Lebens zu schenken, – wie er es in der anfänglichen Offenbarung seines
Namens in Ex 34,6-7 zugesagt hat.
Gottes Liebe ist nämlich nicht nur eine Regung seines Gefühls für uns, seines
Mitempfindens mit uns, – wie es die meinen, die die ganze Kreuzesbotschaft mit dem
Argument bestreiten: ein liebevoller Gott könne doch durch ein bloßes Wort – „ich bin dir
wieder gut“ – jede Trennung eines Sünders von ihm aufheben, statt so grausam darauf zu
bestehen, die Sünde der Menschen bedürfe einer Sühnung durch den Tod seines Sohnes.
Jedoch: Wer so denkt, nimmt weder die Sünde ernst als Abkehr von Gott, die unser Leben
schädigt, noch auch die Liebe Gottes als wirkliches Handeln für uns. Sünde besteht in der
Schuld, die sie anrichtet, nicht nur in „Schuldgefühlen“, von denen heute allgemein fast
nur noch die Rede ist. Gewiß: Schuldgefühle lassen sich durch Einsicht beseitigen und
durch Worte warmer Zuwendung überwinden – angerichtete Schuld kann nur mitgetragen
werden. Und aus partnerschaftlicher Erfahrung weiß man, wie viel stellvertretendes Aufsich-
Nehmen dessen, was der Partner einem angetan hat, zu gemeinsamer
Schuldbewältigung oft nötig ist. Von daher mag sich ein Verständnis dafür gewinnen
lassen, wie unendlich groß das Gewicht stellvertretenden Auf-sich-Nehmens ist, das
Gottes Liebe sich zugemutet hat, um die Sünde als reale Abkehr der gesamten
Menschheit von ihm zu überwinden und die Verderbnis des Lebens der Sünder
aufzuheben und zu heilen.
Im übrigen will bedacht werden: Der Umgang mit Schuld beschränkt sich heute weithin
darauf, daß einerseits Beschuldigte die ihnen zur Last gelegte Schuld von sich weisen, so
lange das möglich ist; und daß andererseits Schuldige öffentlich angeklagt und verurteilt
und exkommuniziert werden – so wird man die Schuld für sich selbst los. Bestreiten
eigener Schuld und Anklage fremder Schuld – das pflegt die Weise des Umgangs mit
Schuld zu sein, wie sie heute vielfach, ja überwiegend üblich ist. Von Vergebung von
Schuld ist in alldem gar keine Rede. Vor allem daran mag man erkennen, von welch
gravierender Bedeutung es ist, daß inmitten einer vergebungslosen Bewußtseinslage
unserer Gesellschaft die Botschaft der Vergebung durch den Kreuzestod Christi
verkündigt und geglaubt wird!

3. Dieser Sieg der vergebenden Liebe Gottes ist dadurch geschehen, daß
Gott seinen am Kreuz für uns gestorbenen Sohn zum Leben auferweckt hat. Ohne die
Auferstehung Christi wäre sein Tod wirkungslos, wie Paulus im berühmten 15. Kapitel
seines 1. Korintherbriefs betont; alle christliche Verkündigung und aller christliche
Glaube wäre „leer“, wenn Gott Christus nicht auferweckt hätte (1 Kor 15,14-18); wir
wären dann noch in unseren Sünden, es gäbe keine wirksame Vergebung.
Aber wohlgemerkt: Das gilt nur, weil es der für unsere Sünden gestorbene Christus ist,
den Gott auferweckt hat. Am Ostermorgen hat Gott nicht nur an Jesus erwiesen, daß er
sogar Tote aufzuerwecken vermag, sondern daß er in seiner Allmacht die
Vernichtungsmacht von Sünde und Tod überwunden hat. Das erweist Gott darin, daß er
uns am Auferstehungsleben Christi teilgibt.

4. Schließlich: Dies alles ist nur dadurch wahr und stimmig, daß Jesus, der Mann aus
Nazaret, Gottes ureigener Sohn war und ist. Die Christen aller Kirchen glauben an das
Weihnachtswunder, daß Jesus als Sohn Marias zugleich als der Sohn Gottes zur Welt
gekommen ist. Das ist nicht eine theologische Theorie, die Paulus oder einer der anderen
großen Theologen der Urkirche sich ausgedacht hätte, sondern dieser Inkarnationsglaube
beruht auf geschichtlicher Wahrheit: Jesus selbst hat bei seiner Taufe durch Johannes den
Täufer in einer Vision Gottes Stimme ihm zusprechen gehört: „Du bist mein geliebter
Sohn.“ (Mk 1,11). Er selbst wußte sich als der eine Sohn des einen Gottes, seines Vaters
(Lk 10,22). Die Königsherrschaft Gottes, die er verkündigt hat, wirkte selbst in seinem
Wort und in seinen Taten. Die Vergebung, die er Menschen zusprach, war Gottes
Vergebung (Mk 2,6-10). Und so ist es Gott selbst, Gottes ureigene Liebe, die auch im
Geschehen seiner Passion, seines Todes am Kreuz von Golgatha und in seiner
Auferstehung selbst gewirkt hat. Durch Gottes Geist wissen Christen sich als Gottes
Kinder, weil sie sich in ihrer Taufe mit Jesus, dem Sohn Gottes, verbunden erfahren (Gal
4,6-7). Ich bin mir wohl bewußt, daß die Mehrheit meiner neutestamentlichen
Universitätskollegen dieses historische Urteil nicht teilen, sondern die Gottessohnschaft
Jesu für eine theologische Idee halten, die erst in der nachösterlichen Kirche entstanden
sei. Wäre das so, dann hätte dies allerdings vernichtende Folgen für die Wahrheit
christlichen Glaubens:
Wäre nämlich Jesus nichts als ein Mensch, dann hinge die Wahrheit seiner Verkündigung
und Lehre von dem Urteil der Menschen seiner Umwelt und Nachwelt ab. Dann wäre vor
allem auch sein Tod am Kreuz ein menschliches Schicksal, das bedauernswerte Ende
eines von seinen Richtern verkannten Propheten –: Aber von der Vergebungswirkung
seines Todes könnte keine Rede sein, auch diese wäre als eine theologische Theorie zu
beurteilen, mit der die ersten Christen das schockierende Ende ihres Lehrers in totaler
Ohnmacht und Gottverlassenheit zu einem Heilsereignis umgedeutet hätten. Das Gleiche
müßte dann auch für die Auferstehung Jesu gelten: eine zwar tiefsinnige Idee, um es beim
elenden Tod Jesu am Kreuz, beim Scheitern all dessen, was Jesus gelehrt und gewollt
hätte, nicht zu belassen – aber doch eben eine Idee, von Menschen erfunden und für
Menschen nur glaubhaft, wenn sie diese Idee als Bestärkung ihres Glaubens in ihrem
eigenen Urteil annehmen. Aber ein Heilshandeln Gottes wäre weder im Tod noch in der
Auferstehung Jesu als Wirklichkeit zu erkennen. Wer heute sich davon nicht überzeugen
lassen kann oder will, der könnte im Kreuzestod Jesu nur ein besonders häßliches
Ereignis böser Menschengewalt sehen und ihm eine Bedeutung allenfalls in dem Sinn
zuerkennen, daß Ideale sich nicht töten lassen, wenngleich die Idealisten, die diese
vertreten, ermordet werden; oder im marxistischen Sinn, daß der Kampf gegen
Ungerechtigkeit und Gewalt nur durch den Einsatz der Massen gewonnen werden könne,
nicht durch religiöse Ideale einzelner Märtyrer.
Es ist wohl wahr: Wer an Gott, wie ihn die Bibel bezeugt, nicht glauben kann oder will,
der kann in Jesu Tod am Kreuz keine Wirkung der Vergebung von Sünden und in der
Auferweckung des gekreuzigten Christus kein Ereignis der Rettung zu wahrem Leben für
alle Menschen erkennen. Seit Lessing und Kant wird dies dem „Kirchenglauben“ aus
vergangenen Zeiten vor der Aufklärung zugerechnet. – Doch es ist nicht an dem, daß der
Glaube an Gott und an Jesus Christus heute nicht mit vernünftigen Argumenten als für
alle Menschen wahr und sinnvoll zu begründen wäre. Und es ist noch keinem der Kritiker
gelungen, historisch plausibel zu erklären, wie es dazu gekommen sein könnte, daß in der
Situation unmittelbar nach dem Tod Jesu seine Jünger oder irgendwelche andere aus
ihrem Freundeskreis den Gedanken erfunden und dafür Glauben erhalten haben sollten,
Gott habe ihren Meister, der für ihre Sünden gestorben sei, zum Leben auferweckt und so
der Liebe der Selbsthingabe seines Sohnes ewigen Sieg geschaffen. Und ebenso wenig
plausibel ist es zu erklären, wie ein gebildeter jüdischer Toralehrer wie Paulus diese von
seinen Gegnern erfundenen Gedanken eines neuen Glaubens so überzeugt angenommen
und so überzeugend Hunderten von Menschen in den griechischen Städten verkündigt
haben kann, daß diese alle den Tod Christi für unsere Sünden und seine Auferweckung
durch Gott als wirkliches Heilsgeschehen anerkannt haben mit der Kraft eines Glaubens,
der in kürzester Zeit seinen Lauf durch die ganze Welt angetreten hat.
Paulus war gewiß ein großer Denker dieses Glaubens, ohne dessen immer neue Denkwege
eine Weltkirche aus Juden und Nichtjuden kaum hätte entstehen können. Aber die
Überzeugungskraft seiner Theologie gründete in der ausstrahlenden Gewißheit dieses
Mannes und aller anderen großen Missionare der Urkirche: daß wirklich Gott – der eine
Gott Israels selbst – in der Geschichte Jesu gehandelt und darin seine ureigene Liebe zu
allen Menschen erwiesen hat; und daß dieses Christusgeschehen im Gottesdienst der
Kirche für alle glaubenden Christen konkret zu erfahren ist. Diese Gewißheit teilen wir
Christen alle mit Paulus und erleben darin unsere ökumenische Einheit, die unterhalb der
trennenden Unterschiede der Glaubenstradition unserer Kirchen als das Fundament des
einen Glaubens der einen Kirche Jesu Christi für uns alle sichtbar wird.
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