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Sekten, "Sekten" und die Kirchen


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Rolf

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Sekten, "Sekten" und die Kirchen



Kirchliche Positionen zu Sekten und anderen Religionsgemeinschaften *


von Thomas Gandow


1. Umstrittener Sektenbegriff

Umgangssprachlich wird heute im Deutschen alles mögliche als "Sekte" bezeichnet; es muß nur irgendwie bizarr sein und irgendeine, auch entfernte Verbindung zu Ideologie oder Religion haben. Die Aufnahme dieses umgangssprachlichen Sektenbegriffs hat selbst bis in kirchliche Stellungnahmen hinein für Unklarheiten und Mißverständnisse gesorgt. Dabei gehen Umgangssprache, Medienvereinfachung und soziologischer und staatskirchenrechtlicher Sektenbegriff mit dem konfessionskundlichen bzw. theologischen Sektenbegriff eine sonderbare Mixtur ein. Hinzu kommt ein Übersetzungsproblem. Teilweise begegnet "Sekte" als Übersetzung des amerikanischen "cult"1. Tatsächlich werden aber auch in den USA gerade "sect" und "cult" in der Religionssoziologie durchaus unterschieden.2

1.1 Soziologische Sektenbegriffe

Kirchen- und Religionssoziologie haben, ausgehend vom christlichen Modell des Gegenübers von Kirche und Sekte die unterschiedlichsten Klassifikationen, Typologien und Modelle zur Beschreibung und Unterscheidung unterschiedlicher religiöser Gemeinschaften entworfen. Bekannt und wirkungsvoll wurden zunächst die Beschreibungen von Max Weber und Ernst Troeltsch, die ihre Typologien aus der Beschreibung des Gegensatzes zwischen Kirche und Sekte gewannen.3
Ein anderer Ansatz in der Religionssoziologie bestimmt "Sekten" nicht aus dem Unterschied zwischen Kirche und Sekte, sondern aus ihrer jeweiligen Spannung zur Gesellschaft.

Danach wäre eine Kirche eine religiöse Gruppe, die die Umgebung, in der sie existiert, im Wesentlichen als Lebensraum akzeptiert, eine Sekte aber wäre in dieser Sicht eine religiöse Gruppe, die die kulturelle, historische und soziale Umgebung, in der sie lebt, ablehnt.4

Von daher werden heute viele neue religiöse Gruppen, die noch nicht etabliert sind oder die unterschiedliche Probleme und Konflikte aufwerfen, in den Medien und im allgemeinen Sprachgebrauch als "Sekten" bezeichnet.5
In ihrem Vorschlag zu einer Klassifizierung religiöser Organisationen unterscheiden Stark und Bainbridge 1985 zwischen "church", "sect", "cult" und "movement". Dabei soll eine "church" (nicht unbedingt eine christliche Kirche) eine etablierte religiöse Organisation sein, die in relativer Übereinstimmung mit ihrer sozialen Umwelt stehe; "sect" soll eine von einer "church" oder anderen "sect" abgespaltene Gruppe sein, "cults" seien in der jeweils gegebenen Umgebung neue religiöse Gruppen und "religious movements" seien organisierte Gruppen, die religiöse Institutionen werden wollen.
Sekten seien abweichende religiöse Bewegungen, die innerhalb der selben religiösen Tradition und Umgebung verblieben, Cults seien abweichende religiöse Bewegungen in einer fremden religiösen Umgebung.6

1.2 Sekte als ekklesiologischer Begriff

"Meidet fremdes Gewächs,
das Sekte ist"
- Bischof Ignatius an die Trallianer
"unkrautgleiche Sekten
der Christenheit" 8
- Wachtturm, 1960


Sekte bezeichnet ein Verhältnis, ja eine Beziehung zwischen dem, der den Begriff benutzt und der bezeichneten Gruppe. Deshalb kann der Begriff durchaus wechselseitig benutzt werden.
Das deutsche Lehnwort "Sekte" 9 aus dem Partizip secta des lateinischen Wortes "sequi" = jemandem folgen hat ursprünglich die Bedeutung von Gefolgschaft, Partei, Schulrichtung innerhalb einer bestimmten Religion. Secta ist selbst Übersetzung des gleichbedeutenden griechischenGriechisch_3(hairesis), so in der Vulgata.
In der Apostelgeschichte des Neuen Testaments wird zunächst ganz wertungsfrei
der Begriff derGriechisch_3im Sinne von Religionspartei auf die Sadduzäer (5,17) und auf die Pharisaäer (15,5) angewandt; auch auf ...

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* Vortrag gehalten am 29.11.2003 bei der Tagung "Freikirchen und Sekten in Europa" vom 27.11.- 29.11.2003 im Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg im Rahmen des Projekts "MPG 2000 + Forschungsperspektiven".
- Für den Druck vom Verf. durchgesehen.

1 z.B. wird Margaret Thaler Singers "Cults in Our Midst: The Hidden Menace in Our Everyday Lives" (1995) deutsch 1997 nicht nur im Titel, sondern durchgängig auch im Text zu "Sekten - Wie Menschen ihre Freiheit verlieren und wiedergewinnen können".
2 z.B. von Stark und Bainbridge 1985, siehe 1.1.
3 Weber sah die Sekte als "voluntaristischen Verband ausschließlich religiös-ethisch Qualifizierter, in den man freiwillig eintritt, wenn man freiwillig kraft religiöser Bewährung Aufnahme findet", gegenüber der Kirche als der "religiöse Heilsgüter” verwaltenden "Gnadenanstalt" mit "obligatorischer Zugehörigkeit" (M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen, 3 Bde., I 1947, 211).
Troeltsch kam zu dem Ergebnis: "Die Sekte ist die freie Vereinigung strenger und bewußter Christen, die als wahrhaft wiedergeborene zusammentreten, von der Welt sich scheiden, auf kleine Kreise beschränkt bleiben, statt der Gnade das Gesetz betonen und in ihrem Kreise mit größerem oder geringerem Radikalismus die christliche Lebensordnung der Liebe aufrichten, alles zur Anbahnung und in der Erwartung des kommenden Gottesreiches" (Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen [1912] 1977, 967).
4 Benton Johnson: On church and sect; American Sociological Review, 1963, 28 (4): 542Benton Johnson, Church and Sect Revisited, in: Journal for the Scientific Study of Religion, 10, 1971, S.124-137)
5 Angesichts dieser "schleichenden begrifflichen Verschiebung" gibt Zinser zu bedenken: "Die Klassifizierung aller neuen religiösen Angebote als Sekten verallgemeinert den Sektenbegriff. Der Begriff Sekte war ein Gegenbegriff zur Kirche, die aktuelle Verwendung macht aus ihm unter der Hand einen Gegenbegriff zur Religion". Hartmut Zinser: Der Markt der Religionen, 1997, S.144
6 Rodney Stark und William S. Bainbridge
7 Ignatius an die Trallianer, 5.1, vor 109
8 "Aber die Schrift zeigt, daß ihre Kleider unrein waren, weil sie so lange mit abtrünnigen Christen verbunden gewesen waren. (Sach.3:3,4) Sie pflegten noch viele Gewohnheiten und hatten noch viele Charaktermerkmale und Glaubensansichten, die dem ähnlich waren, was in den unkrautgleichen Sekten der Christenheit zu finden war." Wachtturm, 15.September 1960, S.563
9 "Sekte: Die Bezeichnung kleinerer, meist von einer größeren christlichen Kirche abgespaltener religiöser Gemeinschaften (mhd. Secte) beruht auf einer gelehrten Entlehnung aus lat.-mlat. Secta 'befolgter Grundsatz, Richtlinie; Partei; philosophische Lehre; Sekte'. Das lat. Substantiv gehört vermutlich zu lat. Sequi (secutum) 'folgen' (vgl. konsequent), wohl auf Grund eines alten Partizips *sectum 'befolgt'. - Dazu das Substantiv Sektierer ‚Anhänger einer Sekte' (Anfang des 16.Jh.s, unmittelbar abgeleitet von einem älteren Verb 'sektieren' 'eine Sekte bilden')." (Duden "Etymologie" Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, 2. Aufl. Mannheim 1989)

... die Christen (24, 5.14; 28,22), die offensichtlich so von anderen bezeichnet wurden.
Sekte ist also ein Beziehungsbegriff, die Untergruppe einer Religion bezeichnend. Er gibt zugleich auch - ausgehend vom eigenen Selbstverständnis - Auskunft über die Art der Relation. So betrachtet, verliert das klassifizierende Wort "Sekte" den Beigeschmack einer inhaltslosen Beschimpfung. Und es wird verständlich, warum Jehovas Zeugen ihrerseits die großen Kirchen gelegentlich als "die Sekten der Christenheit" bezeichnen.10

Wenn kirchlicherseits eine religiöse Gruppe als christliche Sekte bezeichnet wird, so drückt sich darin - freilich kritisch und ablehnend - eben auch Nähe und so etwas wie "Verwandtschaft" aus.
Eine Sekte, eine Häresie, ist nicht Heidentum bzw. andere Religion, und auch nicht Glaubensabfall (Apostasie), sondern aus kirchlicher Sicht falsche Lehre (Irrlehre) und (daher) auch falsche Gemeinschaft.
Denn schon in der christlichen Urgemeinde, die der eine Leib Christi sein will, werden Spaltungen und Parteien wenigstens als Problemanzeige gesehen:

"Wenn ihr in der Gemeinde zusammenkommt, sind Spaltungen (gr. 'schisma') unter euch, und zum Teil glaube ich's. Denn es müssen ja Spaltungen (gr. 'hairesis') unter euch sein, damit die Rechtschaffenen unter euch offenbar werden". 1. Kor. 11,18-19.
Später im NT ist auch von "verderblichen Sekten" die Rede. (2. Petr. 2.1).

Sekten gehören also von Anfang an zur christlichen Religion, sind ein anderer Typ des Christentums (Troeltsch)11, der dem "katholischen" (=allgemeinen), dem Kirchentyp, geleitet durch Bischöfe und Kirchenordnungen, der sich durchgesetzt hat, gegenüber steht. Entscheidend aber ist die von ihnen vertretene andere Lehre, die sie von der Kirche trennt.

1.3 Sekte als staatskirchenrechtlicher Begriff
Zu Beginn der Reformation hatte Luther selbst darauf hingewiesen, daß Ketzerei keine Angelegenheit der weltlichen Obrigkeit, sondern ein "geistlich Ding" sei, eine geistliche Herausforderung, die geistige und geistliche Auseinandersetzung fordere12 .
Dennoch wird in der Reformationszeit "Sekte" schließlich in Deutschland von einem geistlichen, vom ekklesiologischen Selbstverständnis her zu interpretierenden Begriff, zu einem staatskirchenrechtlichen Begriff, nämlich zur Bezeichnung derjenigen christlichen Religionsgemeinschaften, die ohne reichsrechtliche Anerkennung neben den damals anerkannten Religionen bzw. (wie wir heute sagen würden:) Konfessionen stehen.

Im Reich dürfen nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 und dem Westfälischen Frieden von 1648 nach dem Prinzip der religiösen Einheit in der Region nur die anerkannten [1648] Konfessionen solche Gebiete bilden bzw. halten. Religiöse Koexistenz, oder wie wir heute sagen würden, konfessioneller Pluralismus oder (damals:) auch nur Parität im selben Territorium ist eben noch kaum denkbar und praktikabel (Ausnahme: einige freie Reichsstädte). Im Gegenteil: Als Lösung muß es zur territorialen Entflechtung der religiösen Konfliktlagen kommen. Das bedeutet konfessionelle Parität auf der Reichsebene, aber weiterhin konfessionelle Einheit in den Territorien. Das zur Herstellung religiöser Homogenität in den Territorien hierzu erforderliche ius emigrandi gewinnt aber zusätzliche religionspolitische und religionsgeschichtliche Bedeutung, weil auch die Angehörigen der nicht reichsrechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften davon Gebrauch machen können.13

Aber wohin? Durch Wanderungsbewegungen im Reich kommt es zunächst zum Teil zu religiöser Homogenisierung einzelner Territorien. Vor allem durch Auswanderung kommt es zur religiösen Ausfaltung der im Reich vorhandenen multikonfessionellen Wirklichkeit außerhalb des Reichsgebietes, einerseits nach Nordamerika, andererseits nach Osten, also in das damalige Russische Reich und in die nicht zum Reich gehörenden Gebiete Österreich-Ungarns. In Österreich gab es sogar Zwangsumsiedlungen nach Siebenbürgen, wo die Protestanten immerhin Religionsfreiheit genossen.
Damit wurden religiöse Konfliktlagen durch räumliche Distanz entschärft, aber z.T. auch nur verlagert und verschoben.

Die politischen Entwicklungen des 18. und mehr noch die wirtschaftlichen Entwicklungen 19. Jahrhunderts mit den folgenden Wanderungsbewegungen heben die geographische Segregation der Religionen in Europa zunehmend auf und machen andere Konzepte für das Zusammenleben von Menschen verschiedener Religion erforderlich. "Alle Bewohner des Reichs genie- ...

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10 z.B.: "Wir erkennen, daß mit Babylon der Großen die gesamte falsche Religion gemeint ist. Sie ist 'die Mutter der Huren', denn all die verschiedenen falschen Religionen auf der Erde, einschließlich der vielen Sekten der Christenheit, sind wie ihre Töchter, indem sie sie in ihrer geistigen Hurerei nachahmen." Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft (Hg.) 1988. Die Offenbarung - Ihr großartiger Höhepunkt ist nahe!, S.244.
"Die Religionsgemeinschaften der sogenannten christlichen Welt, der Christenheit, haben heute die meisten Mitglieder. Die Christenheit macht, grob gerechnet, etwa ein Drittel der Weltbevölkerung aus, denn diese wird heute auf 3.420,000.000 geschätzt, und davon bekennen sich 977,383.000 zum Christentum. Da Jehovas christliche Zeugen sie von der Christenheit streng getrennt halten, behaupten die Geistlichen der verschiedenen Glaubensgemeinschaften, sie seien keine Christen. Es ärgert diese Geistlichen, daß die verhältnismäßig kleine Gruppe der christlichen Zeugen Jehovas hauptsächlich aus den Sekten der Christenheit, nicht aus der heidnischen Welt, hervorgegangen ist. Daher ist seit Jahrzehnten eine Auseinandersetzung im Gange, bei der es um die Fragen geht: Wer sind die wahren, von Gott ordinierten Christen? Wer predigt das richtige Königreich Gottes, Jehovas Zeugen oder die Angehörigen der Sekten der Christenheit? Nach welcher Regel können diese Fragen entschieden werden? Nach der Regel, die Jesus Christus festlegte, als er vor falschen, heuchlerischen Christen warnte mit den Worten: "Ihr werdet also diese Menschen wirklich an ihren Früchten erkennen. Matth.7.20"
Wachtturm 1. März 1970, S.136ff.
11 So schon E. Troeltsch: "Der Ausdruck Sekte bedeutet nicht ein Werturteil über Verkümmerungen des Kirchlichen, sondern einen selbständigen soziologischen Typus der christlichen Idee." in Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Aalen 1961 (Neudruck) S.371
12 "So sprichst du abermal: Ja, weltlich Gewalt zwingt nicht zu glauben, sondern wehret nur äußerlich, daß man die Leute mit falscher Lehre nicht verführe; wie könnt man sonst den Ketzern wehren? Antwort: Das sollen die Bischöfe tun, denen ist solch Amt befohlen, und nicht den Fürsten. Denn Ketzerei kann man nimmermehr mit Gewalt wehren, es gehört ein andrer Griff dazu, und ist hie ein anderer Streit und Handel denn mit dem Schwert. Gottes Wort soll hie streiten; wenns das nicht ausricht, so wirds wohl unausgericht bleiben von weltlicher Gewalt, ob sie gleich die Welt mit Blut füllt. Ketzerei ist ein geistlich Ding, die kann man mit keinem Eisen hauen, mit keinem Feuer verbrennen, mit keinem Wasser ertränken." Martin Luther, Von weltlicher Obrigkeit, [1523], GiQ III, 135)
13 Ich verzichte auf eine ausführliche Erörterung auch der verschiedenen Toleranzakte; ebenso kann hier auch nicht über die schwankende Tolerierung der Juden gehandelt werden. ...

... ßen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit" heißt es in Artikel 135 der Weimarer Reichsverfassung von 1919. Seit dem besteht auch in ganz Deutschland keine Staatskirche mehr. Während noch das preußische Landrecht von 1794 in Titel 11 die Religionsgesellschaften einteilte in unerlaubte (§§ 14-15), privilegierte (§§ 17-19) und geduldete (§§ 20-26) haben seit der WRV alle Religionsgemeinschaften, egal ob Kirchen, Freikirchen oder Sekten, in Deutschland als "Religionsgesellschaften" prinzipiell rechtlich die gleichen Möglichkeiten.14
Die Rechtsstellung aller Religionsgemeinschaften in Deutschland ist auch bei unterschiedlicher Inanspruchnahme der gegebenen Möglichkeiten in Deutschland gefestigt.15

Die Einheit der Religion hat sich von außen nach innen verlagert, vom Reich in die Region, von der Region schließlich zunächst in das forum internum, in das Glauben und Meinen des einzelnen Bürgers16 ; schließlich kommt im Grundgesetz auch ausdrücklich die Freiheit für das öffentliche Bekennen des einzelnen Bürgershinzu.
Dies findet seinen besonderen Ausdruck in der Art, wie die verfassungsmäßige Sicherung der religiösen Freiheit als individueller Glaubens- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit mit Art.4 GG vorgenommen wird.
Zwar wurden fast alle Religion und Kirchen betreffenden Artikel der Weimarer Reichsverfassung durch einen Überleitungsartikel in das Grundgesetz übernommen, aber gerade der den "DRITTEN ABSCHNITT" der Verfassung "Religion und Religionsgesellschaften" einleitende Artikel 135:

"(1) Alle Bewohner des Reichs genießen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsausübung wird durch die Verfassung gewährleistet und steht unter staatlichem Schutz. Die allgemeinen Staatsgesetze bleiben hiervon unberührt" wird zu einem selbständigen Art. 4 des Grundgesetzes, der die Freiheit des Bekenntnisses ausdrücklich erwähnt.17
Ergebnis ist, daß die Religion, die von einer Reichssache zu einer Regionalangelegenheit geworden war, erst zu einer Privatsache und dann schließlich zu einem Menschenrecht wird.
Positiv gesagt: Religionsfreiheit wird von einer Reichssache, die regionale Freiheit für nur drei Religionen kennt, zu einem Menschenrecht für jeden einzelnen. Glaubens- und Gewissensfreiheit, auch wenn sie einzeln oder mit anderen zusammen wahrgenommen werden kann, wird im Grundgesetz "im striktesten Sinn als Individualrecht verstanden und behandelt".18
Aus all dem folgt, daß staatskirchenrechtliche Kriterien zur Unterscheidung von Kirchen, Freikirchen und Sekten staatlicherseits heute nicht mehr zu anzuwenden sind.19 ...

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14 Die unterschiedlichen Rechtsformen reichen bei Kirchen, Freikirchen und Sekten heute gleichermaßen von einer nichteingetragenen Personenvereinigung über den eingetragenen Verein bis zur Körperschaft des öffentlichen Rechts.
15 Zur rechtlichen Stellung von Sekten und anderen Religionsgemeinschaften im Vergleich mit den Kirchen die folgenden Hinweise:
Alle Religionsgemeinschaften, darunter eingeschlossen sowohl Kirchen wie die von den Kirchen als "Sekten" eingestuften Gemeinschaften können sich in Deutschland mit sieben Mitgliedern (Mindestanzahl) als eingetragene Vereine ("e.V.") registrieren lassen. Zusätzlich haben sich viele Religionsgemeinschaften selbst oder ihre Fördervereine sich vom jeweils zuständigen "Finanzamt für Körperschaften” die "Gemeinnützigkeit" anerkennen lassen - ein zunächst rein formaler Akt, der die Übereinstimmung der Satzungsformulierungen mit den entsprechenden steuerlichen Bestimmungen feststellt.
Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften können - anders als andere Vereine - auf Antrag gemäß Artikel 140 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 137 Absatz 5 Satz 2 der Weimarer Verfassung die Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erlangen, wenn sie nach ihrer Verfassung und der Zahl der Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten.
Jedoch ist eine solche Statusanhebung nicht konstitutiv für die freie Religionsausübung: Nach Art.141 WRV in Verbindung mit Art.140 GG werden weitgehende Wirkungsmöglichkeiten allen Religionsgesellschaften eröffnet, unabhängig davon, ob sie sich als Vereine (WRV 137,4) konstituiert haben oder (nach WRV 137,5) Körperschaften des öffentlichen Rechts sind oder wurden: "Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Einrichtungen besteht, sind die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen, wobei jeder Zwang fernzuhalten ist." (WRV 141)

Die Verleihung der Körperschaftsrechte ist wirksam für das jeweilige Bundesland. Religiöse Organisationen werden damit von staatlicher Seite den großen Kirchen rechtlich gleichgestellt. Tatsächlich wurde bereits einigen christlichen Sekten in den einzelnen Bundesländern von den jeweiligen Landesparlamenten oder Landesregierungen die Rechte von Körperschaften öffentlichen Rechts zuerkannt. Damit wurden diesen "neukorporierten" Religionsgemeinschaften die gleichen Rechte wie den "altkorporierten" Körperschaften des öffentlichen Rechts, also vor allem den alten Kirchen, zuerkannt (Beispiel: Neuapostolische Kirche in ganz Deutschland bereits seit Anfang der zwanziger Jahre)
So sind auch die christlichen Sekten dann ggF. z.B. als Träger der freien Jugendhilfe nach §75 Abs.3 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, SGB VIII, anerkannt.

Die Gesetze reden zwar da und dort auch von "Kirchen", womit die christlichen Kirchen gemeint sind; in den einschlägigen, durch den Überleitungsartikel 140 GG gültigen Artikeln der Weimarer Reichsverfassung (WRV), den Artikeln 136,137,138,139 und 141) ist aber nach der Feststellung in WRV 137,1 "Es besteht keine Staatskirche" durchgängig von "Religionsgesellschaften" die Rede.

16 Das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 gewährt bereits umfassende Glaubens- und Gewissensfreiheit im forum internum, (Teil II, Titel 11, §§1ff.) und schützt sogar schon die negative Bekenntnisfreiheit (a.a.O. §5).
Hausgottesdienste sind unbeschränkt (a.a.O. §§7ff.).
17 Grundgesetz Artikel 4 Fassung vom 1.1.1964
(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
(3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.
18 Wolfgang Ullmann, Politische und theologische Häresie im Pluralismus der Religionen in Berliner Dialog 2/97 S.28ff

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19 Deshalb ist es nur richtig, wenn z.B. empfohlen wird, daß staatliche Stellen in Deutschland in ihren Verlautbarungen und ihrem Verwaltungshandeln "in Aufklärungsbroschüren, Urteilen oder Gesetzestexten" die Bezeichnung "Sekte" vermeiden. (vgl. Empfehlung 6.2.12 im Abschlußbericht der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" des Deutschen Bundestages, Bonn 1998.
Über das Ziel hinaus schießt die Enquete-Kommission mit ihren Empfehlungen aber, wenn sie zugleich in der Art einer Sprachregelung es für "wünschenswert" hält, wenn "im Rahmen der öffentlichen Auseinandersetzung mit neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen auf die weitere Verwendung des Begriffes 'Sekte' verzichtet würde". Denn es ist, gerade im Zeitalter der Trennung von Staat und Kirche, nicht zulässig, daß staatliche Stellen und Organe den Kirchen und Religionsgemeinschaften ihre ekklesiologischen und theologischen Begriffe vorgeben.

Bei Fertigstellung des Manuskripts für den Druck stieß ich auf einen aktuellen Beitrag, in dem sich Jürgen Habermas gegen "Sprachverbote" gegenüber religiösen Begrifflichkeiten wendet: "Zwar gehört es zum gemeinsam geteilten Verständnis der demokratischen Verfassung, daß alle Gesetze, alle gerichtlichen Entscheidungen, alle Verordnungen und Maßnahmen in einer öffentlich, also allen Bürgern gleichermaßen zugänglichen Sprache formuliert werden und im Übrigen einer säkularen Rechtfertigung fähig sein müssen. Aber im informellen Meinungsstreit der politischen Öffentlichkeit befinden sich Bürger und zivilgesellschaftlich Organisationen noch diesseits der Schwelle einer institutionellen Inanspruchnahme der staatlichen Sanktionsgewalt. Hier darf die Meinungs- und Willensbildung nicht durch Sprachverbote kanalisiert und von möglichen Ressourcen der Sinnstiftung abgeschnitten werden." Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion in: Cicero, Oktober 2005, S.32

2. Kirchen und die Sekten heute

In den evangelischen (Landes-) Kirchen in Deutschland gibt es kein einheitliches Lehramt, keine Sprachregelung und daher auch keinen einheitlichen Sektenbegriff.
Klar ist aber auf jeden Fall ersteinmal: Auch kirchlicherseits kann der obsolete staatskirchenrechliche Sektenbegriff nicht verwendet werden.

Aber auch die vielfältigen soziologischen Klassifikationen und Typologien und ihre Kriterien zur Unterscheidung unterschiedlicher religiöser Gemeinschaften20 eignen sich nicht als Kriterien kirchlicher Stellungnahmen und Haltungen zu Häresien, also zu Sekten und auch nicht zu anderen religiösen Gruppen, obwohl es immer wieder Versuche dazu gibt, z.B. auch kirchlicherseits in Anpassung an religionssoziologische oder umgangssprachliche Begriffe, die unterschiedlichsten religiöse Gruppen, die noch nicht etabliert sind und die unterschiedliche Probleme und Konflikte aufwerfen, unter der Überschrift "Was ist eine Sekte" zu verhandeln und mit z.B. "sozialwissenschaftlichen 'Sektenmerkmalen' " 21 zu beschreiben.
Ein solcher Katalog kommt der in der öffentlichen Diskussion verbreiteten Position "Deeds, not Creeds"-Haltung entgegen, also der Meinung, man solle sich nicht mit Glaubens- und Lehrfragen, sondern nur mit der Praxis kritisch auseinandersetzen.
Auch in der Religionswissenschaft begegnet mitunter eine Position, die meint, als vorrangige Ursache von Spannungen und, so muß gefolgert werden, als Ursache christlicher Sektenbildung herausgefunden zu haben, "das religiöse Bewußtsein will nicht Glaubenssätze, die ... rasch unverständlich und äußerlich werden können, sondern ein den Geboten entsprechendes Leben"22 .
Hier gerät der verwandte soziologische Sektenbegriff nur zu leicht zu einem gesellschaftspolitischen und ethischen Begriff, was gelegentlich ausdrückliche Absicht ist.23 Die Gefahr dieses Ansatzes besteht darin, daß so Häretiker zu Dissidenten gemacht werden - und umgekehrt.24

2.1 Was christliche Sekten von Kirchen unterscheidet

Ethische, moralische und politische Kriterien sind aber für den kirchlichen Sekten- und Häresiebegriff nicht brauchbar, denn "Lehre und Leben sind zu unterscheiden ...; aber von der Lehre handeln, das heißt der Gans an den Kragen gegriffen ..." 25 wie Luther in der Auseinandersetzung mit der Papstkirche formulierte.
Nur ein inhaltlicher, theologischer, nämlich ekklesiologischer Sektenbegriff, der dem eigenen Kirchenbegriff gegenübergesetzt werden kann, kann von den Kirchen heute vertreten und gehalten werden. Wolfgang Ullmann hat in seinem Beitrag zur Unterscheidung von politischer und theologischer Häresie im Pluralismus der Religionen die Kirchen dazu aufgefordert, einen theologischen Häresiebegriff wiederzugewinnen.26

Aus Sicht der Kirchen und ihrer Bekenntnisse muß es gerade die Einheit, ihre Katholizität bzw. Ökumenizität und die Apostolizität einer Kirche sein, die den Unterschied zur Sekte ausmacht.
Dabei geht natürlich der Streit erst los, wie Einheit und Apostolizität gegenüber den Häresien, den Sekten, festgestellt werden. Ignatius, selbst von 69/70 bis 107/8 Bischof von Antiochien gewesen, sieht als Mittel gegen die Häresie ausdrücklich die Einheit mit Christus, die Einheit mit dem Bischof (als Repräsentanten und Garanten der Einheit der Kirche) und das Verbleiben in den "Anordnungen der Apostel".

Die Instanz, die Häresien beurteilen kann und die lehrmäßige Einheit der Kirche herstellt und darstellt, sieht die röm.-kath. Kirche heute nicht einfach im Bischofsamt, sondern im (päpstlichen) Lehramt des Bischofs von Rom.
Demgegenüber vertritt der Teil der Kirche, der die Reformation durchgeführt hat, als Beschreibung der Kirche wie Luther das "ubi Christus, ibi ecclesia". Die Kirche als Ganze hat Häresie festzustellen.27 Die Lehre der Kirche kann nach lutherischer Sicht durch an der Heiligen. Schrift gewonnene Bekenntnisse für den kirchlichen Raum verbindlich gemacht und festgestellt werden.

Es versteht sich, daß es zu solchen grundsätzlichen Entscheidungen der Kirche, die dann auch weitgehend rezipiert werden, nur in zugespitzten Situationen kommen mag. Als Beispiel könnte die Barmer Theologische Erklärung von 1934 mit ihren Verwerfungen angeführt werden.
In Verhältnisbestimmung zur festgestellten und formulierten Lehre der Kirche kann über die Häresie anhand von geistlichen und sachlichen Kriterien geurteilt werden.
Ein solches Urteil hat keine staatlichen, sondern kirchenrechtliche Konsequenzen.28

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20 Hartmut Zinser: Der Markt der Religionen, München 1997, S.120ff. (Habermaszitat)
21 Hansjörg Hemminger. Was ist eine Sekte? Stuttgart/Mainz 1995; ders.: Was ist eine Sekte?

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der dort auch als "sozialwissenschaftliche 'Sektenmerkmalen' anführt:
* Monopolanspruch auf die Wahrheit gegenüber anderen Gemeinschaften der gleichen Tradition
* Monopolanspruch auf Rettung, Erlösung oder Heil
* Größenideen, irreale Machbarkeitsvorstellungen und überwertige Ideen
* Schwarz-Weißstruktur des Denkens
* starre Geschlossenheit nach außen hin, ungewöhnliche Gruppenkohäsion
* Unterschied zwischen "innerer Wahrheit" und Außendarstellung (doppelte Wahrheit)
* totalitäre Innenstruktur der Gruppe mit "steiler" Hierarchie
* starker Zugriff der Führung auf die Gestaltung des Alltags bei den Anhängern
* Personenkult um die Zentralgestalt der Gruppe
* innere Überwachungs- oder Spitzelsysteme, geheimdienstähnliche Methoden
* starkes Elite- und Sendungsbewußtsein der Gruppe, Selbstidealisierung und Dämonisierung anderer
* finanzielle, berufliche und familiäre Abhängigkeit der Anhänger von der Gruppe bzw. der Führung".

Hierzu vergleiche aber den Einwand von Zinser, zitiert in Anm.5
22 Zinser, a.a.O. S.138
23 So verstehe ich jedenfalls das entsprechende Plädoyer von Marc van Wijnkoop Lüthi: Die Sekte… die anderen? Beobachtungen und Vorschläge zu einem strittigen Begriff, Luzern 1996.
24 Bereits im Mittelalter kam es zu einer solchen gesellschaftspolitischen Ausweitung des Häresiebegriffs, als das 4. Laterankonzil von 1215, im Kanon 3 seiner Beschlüsse festlegte: "... daß, wer ebendort Wissen über Häretiker erlangt hat oder über irgendwelche Leute, die geheime Versammlungen begehen oder vom gemeinsamen Leben der Gläubigen den Lebensgewohnheiten und den Sitten nach abweichen (dissidentes), ...der möge sie dem Bischof anzeigen". Häresie wird schon hier rein "politisch und soziologisch, als Abweichlertum definiert (...), ohne jede inhaltliche theologische Begründung: Häretiker ist schlechthin der, der mit der herrschenden Religion nicht übereinstimmt", stellt Ullmann fest, der verständlicherweise zwischen Häretikern und Dissidenten unterscheiden möchte.

25 "Lehre und Leben sind zu unterscheiden. Das Leben ist böse bei uns wie bei den Papisten; darum streiten und verdammen wir jene nicht um des Lebens willen. ...Andere haben nur gegen das Leben geeifert; aber von der Lehre handeln, das heißt der Gans an den Kragen gegriffen..." (Luther, TR1,624 (1533)
26 Wolfgang Ullmann: Politische und theologische Häresie im Pluralismus der Religionen.
In: Berliner Dialog 2-1997 S.28

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27 "Das kann unter Umständen schon durch eine einzelne Gemeinde geschehen, muß aber auf jeden Fall der Gemeinschaft der Gemeinden, d.h. der Synode zur Prüfung und Rezeption vorgelegt werden." Wolfgang Ullmann: Politische und theologische Häresie im Pluralismus der Religionen Berliner Dialog 2-1997 S.28.

Heute könnten die Merkmale einer christlichen Sekte aus kirchlicher evangelischer Sicht etwa so beschrieben werden:
Als christliche Sekten bezeichnen wir diejenigen christlichen Glaubensgemeinschaften, die
* gegen die Kirchen der "altkirchlichen Bekenntnisse" (Apostolisches Glaubensbekenntnis, Nizänum und Athanasianum) Werbung und Mission betreiben auf Grund von für sie maßgeblichen,
* außerbiblischen Wahrheits- und Offenbarungsquellen.
* Dabei stellen sie die Behauptung auf, sie hätten damit ein besseres oder vollständigeres Wissen über die Person, die Botschaft oder den Weg Jesu von Nazareth als wir es in Neuem Testament und altkirchlichen Bekenntnissen finden können.
* Nicht selten ergibt sich aus diesem Anspruch dann auch eine Veränderung und Verminderung der Rolle Jesu Christi mit der Folge, daß andere Heilswege oder Heilsvermittler anstelle oder neben Jesus Christus als heilsnotwendig gelehrt werden. Eine solche Heilsnotwendigkeit kann die Mitgliedschaft in der jeweiligen Gemeinschaft sein, aber auch die Anerkennung der Ämter, Handlungen und Sonderlehren der Sekte.
* Auch wird die Geschichte der Christenheit und die Zusammenarbeit mit Kirchen und ökumenischen Organisationen von vielen Sekten abgelehnt, weil und soweit dort die von der jeweiligen Sekte gefundenen "Wahrheiten" nicht vorhanden sind.
* Ein besonderes Merkmal mancher christlicher Sekten ist es, daß sie selbst keine eigenen diakonischen oder sozialen Einrichtungen unterhalten. Der Grund dafür liegt darin, daß für sie die Werbung und Warnung der Mitmenschen durch die Verkündigung der eigenen Sonderlehren wichtiger ist als jedes helfenden Tun.

2.2 Sektendefinition der ACK

Die Arbeitsgemeinschaft der Christlichen Kirchen in Deutschland (ACK), ein Zusammenschluß von Kirchen und Freikirchen in Deutschland tritt dafür ein, nur solche Gemeinschaften als Sekten zu bezeichnen, die
"a) die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments als wesentlich ergänzungsbedürftig ansehen und deshalb den biblischen Büchern weitere gleichwertige Offenbarungsquellen und daraus sich ergebende Sonderlehren an die Seite stellen, oder aber Teile der Bibel dadurch in den Hintergrund treten lassen, dass ganz bestimmte Aussagen in der Heiligen Schrift zum Schlüssel des Verständnisses der gesamten Bibel erklärt werden;
B) verkünden, das ewige Heil werde nicht allein im Glauben an Jesus Christus empfangen, und die darum anderen Heilswegen oder Heilsvermittlern anstelle oder neben Jesus Christus das Wort reden;
c) das Heil ausschließlich von der Mitgliedschaft in der eigenen Gemeinschaft abhängig machen und deshalb um Übertritt werben und eine Gemeinschaft der Kirchen darum ablehnen, weil sie auf einer strikten Trennung von anderen christlichen Gemeinschaften bestehen"29

2.3 Eine Stellungnahme aus der luth. Kirche zu Sekten

Unter den zahlreichen Positionen und Stellungnahmen aus dem kirchlichen Raum zum Thema und Begriff Sekten, die z.T. die unterschiedlichsten außerkirchlichen, oft soziologischen Kriterien zur Geltung bringen wollen, weil sie ihre eigene Beratungsarbeit u.a. als "religiöse Verbraucherberatung" verstehen und akzeptabel machen wollen, ragt das "Handbuch religiöse Gemeinschaften"30 , herausgegeben von der Kirchenleitung der VELKD, hervor.

Hierbei handelt es sich um eine kirchenamtliche Veröffentlichung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), deren Stellungnahmen zwar keinen kirchenrechtlichen Charakter haben, die jedoch als Hilfen zur Anwendung der jeweiligen landeskirchlichen Bestimmungen dienen, und die als inoffizielle, aber öffentliche Richtlinien weit über den Raum der VELKD hinaus beachtet werden. Entstanden ist dies Handbuch seit 1952 zunächst aus dem Bemühen, in der nach dem 2. Weltkrieg entstandenen Situation der religiösen Umschichtungen und Neuorientierungen durch Kriegs- und Vertreibungsfolgen eine kirchliche "Handreichung" zur Frage kirchlicher Zugehörigkeit zu haben.

2.3.1 Wiederkehr des Verdrängten

Religiöse Konflikte in Europa waren Jahrhunderte vorher durch Segregation gelöst worden. Die religiösen Konfliktlagen wurden damit durch räumliche Distanz entschärft und verlagert. Mitte des 20. Jahrhunderts, nach dem verlorenen Weltkrieg und den folgenden ethnischen Vertreibungen und Bevölkerungstransfers, erfolgt die Wiederkehr des Verdrängten - in eine religionspolitisch völlig andere Lage. Eine Integration durch regionale Scheidung oder als Integration nach konfessionellen Gruppen war nicht mehr sinnvoll und möglich. Es war zu zahlreichen individuellen Eintritten in die Evangelisch-Lutherische Kirche und auch zu Übertritten aus anderen Glaubensgemeinschaften gekommen.

Für die Kirchen im Restdeutschland ergab sich darum die Frage der Integration vertriebener Evangelischer verschiedenster Konfession aus den verlorenen preußischen Provinzen und aus ganz Osteuropa auch in bisher konfessionell noch weitgehend einheitlichen Regionen. Zu klären war u.a. die Frage, ob die betreffenden Personen gültig getauft waren, als Voraussetzung, sie ohne weiteres als Kirchenmitglied aufzunehmen.31 Daraus ergaben sich weitere Fragen wie die, ob man Mitglieder bestimmter Gemeinschaften zur Patenschaft zulassen könne oder nicht, ob man ersatzweise Glieder einer solchen Gemeinschaft trauen oder beerdigen dürfe oder nicht, ob man ihnen kirchliche Räume zur Verfügung stellen könne usw. (vgl. Handbuch, S.9ff.)

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28 "Häresie ist nicht nur ein theologischer, sondern auch ein kirchenrechtlicher Begriff.
Selbst in Bethges Bonhoefferbiografie zittert noch etwas von dem Unwillen, ja dem Entsetzen nach, das Bonhoeffer auslöste, als er in seinem Aufsatz 'Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft' 1936 diese einfache Wahrheit wieder einmal aussprach. Wies er damit doch darauf hin, daß alles Kirchenrecht seinem Wesen nach nicht Institutionenrecht, sondern Sakramentsrecht ist. Darum hat das kirchenrechtliche Häresieurteil seine doppelte Basis in Taufe und Herrenmahl. In der Taufe vollzieht der Täufling zusammen mit dem Taufenden und der Gemeinde die Absage an alles, was Götzendienst, Aberglaube und insofern eine Verleugnung des Ersten Gebotes ist. Analog das Herrenmahl. An ihm teilnehmen kann nur, wer getauft ist und darum jene Absage an allen Götzendienst einschließlich der Vergehen gegen den Nächsten vollzogen hat, und darum durch nichts mehr vom Vollzug der Gottes- und Nächstenliebe abgehalten wird." Ullmann, a.a.O.
29 Die christlichen Kirchen und die Sekten. Eine Information der Oekumenischen Zentrale Frankfurt/Main, Juni 1998, 8.
30 Handbuch Religiöse Gemeinschaften, herausgegeben von Horst Reller, Hans Krech und Matthias Kleiminger im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD, 5., neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2000
31 Bendrath: siehe nächste Seite

2.3.2 Das Handbuch Religiöse Gemeinschaften

Aus der Erhebung der nötigen Informationen entstand letztlich ein Standardwerk der Darstellung religiöser Gruppen. Entstehung und Geschichte, Grundriß der Lehre oder Weltanschauung, Arbeitsweise und Organisation, kultische Veranstaltungen und Handlungen sowie Quellen und Literatur werden ausführlich, dargestellt, z.T. auch dokumentiert.
Andererseits enthält das Buch, von der Darstellung getrennt, zu jeder Gemeinschaft eine Stellungnahme aus ev.-luth. Sicht sowie Vorschläge für das praktische Verhalten der Kirche gegenüber der jeweiligen Gemeinschaft oder Bewegung im Ganzen wie gegenüber einzelnen Mitgliedern.

Die Veröffentlichung stellt heute neben Freikirchen und christlichen Sekten eine Fülle anderer Religionsgemeinschaften dar und nimmt aus kirchlicher Sicht zu ihnen Stellung, ohne die vorhandenen gesellschaftlichen oder auch politischen Positionen zu verschweigen.

Freikirchen werden im "Handbuch Religiöse Gemeinschaften" beschrieben als:
"Kirchen und Gemeinschaften, die aus dem Bemühen um die Erneuerung urchristlichen Gemeindelebens entstanden sind und zu denen ökumenische Beziehungen bestehen oder möglich sind"
Christliche Sekten werden beschrieben als
"Gemeinschaften, die mit christlichen Überlieferungen wesentliche außerbiblische Wahrheits- und Offenbarungsquellen verbinden und in der Regel ökumenische Beziehungen ablehnen".
Zwischen beiden kennt das Handbuch auch noch Sondergemeinschaften.

Als solche gelten "Gemeinschaften, die teilweise Beziehungen zu den Kirchen haben, aber Sonderlehren vertreten, die in einigen Fällen auch sektiererische Züge tragen, bei einigen dieser Gemeinschaften sind die Mitglieder zugleich Glieder der Landeskirche".

Zu den Beurteilungskriterien und den Gliederungskategorien hieß es schon im Vorwort der ersten Auflage 1966:
"'Rücksicht auf die Freikirchen, mit denen die deutschen evangelischen Landeskirchen heute stärker denn je in mannigfacher Weise zusammenarbeiten, hat dazu veranlasst, Gruppen zu bilden (Freikirchen, Innerkirchliche Gemeinschaften, Sekten, Weltanschauungsgemeinschaften) und so von vornherein dem vorzubeugen, daß die Freikirchen sich verletzt fühlen. Dazu muß freilich gesagt werden, daß uns ein Richteramt auch über die Sekten nicht übertragen ist. Die Absicht der Verunglimpfung besteht bei den Ausführungen über die Sekten nicht. (...) Im abwertenden Sinne wollen wir den Sektennamen [S.11] überhaupt nicht verwenden.'"

"Das bedeutet bis heute: Für die Zuordnung einer Gemeinschaft zu einer Gruppe ist die in der Gliederung vorangestellte Definition der Gruppe maßgeblich. Sie ist nicht von einer neutralen Position aus formuliert, sondern beruht auf einem bestimmten Glaubensbekenntnis und kennzeichnet das Verhältnis zu den einzelnen Gemeinschaften aus lutherischer Sicht. Außerdem kann nicht unberücksichtigt bleiben, wie diese sich konkret zu den Kirchgemeinden vor Ort verhält oder zu anderen Kirchen, mit denen die evangelischen Kirchen in ökumenischer Gemeinschaft eng verbunden sind.
Dabei ist durchaus deutlich, daß die Eingruppierung keine eindeutigen Grenzen ziehen kann. Da die Kirchen in der Ökumene die Rechtmäßigkeit der Taufe anerkennen, wenn sie mit Wasser und auf den Namen des dreieinigen Gottes erfolgt ist, muß dieser Grundsatz z.B. bei Sekten ebenfalls gelten. Daher wird die Taufe bestimmter Sekten von der lutherischen Kirche anerkannt. [Heutiger Stand: Vgl. Anm.32 ­ TG]

Andererseits bestehen Probleme im Hinblick auf die Kirchen und Gemeinschaften, die die Kindertaufe nicht anerkennen und nur die Taufe von Erwachsenen praktizieren, die ihr Bekenntnis selbst und in eigener Verantwortung sprechen. Sie wiederholen ggf. eine Taufe. D.h., im Umgang mit den einzelnen Gemeinschaften darf nicht nur auf die Zugehörigkeit zu einer Gruppe [sc.: gemeint ist Kategorie oder Kapitel des Handbuches - TG] geachtet werden. Weitere Fragen sind zu berücksichtigen. Schließlich erweist es sich als 'unvermeidlich, neben theologischen Gründen auch seelsorgerliche und psychologische Gründe ins Spiel zu bringen. Anders ausgedrückt: es muss sowohl nach der regula fidei als auch nach der regula caritatis gehandelt werden.' (F.Lau)" (HRG S.10f.)

2.3.3 Beziehungsveränderungen durch klare Standpunkte


Die Darstellungen und Kategorien des Handbuchs haben erwiesen, daß sie nicht statisch sind und abgrenzend wirken, sondern sie haben zur Integration beigetragen und lösen auch weiterhin Bewegung aus.
Dazu sollen hier drei Beispiele angeführt werden:

* Die im Handbuch angesprochenen, bis dahin ungeklärten Fragen zur Interkommunion zwischen Lutheranern und Methodisten führten zu offiziellen Lehrgesprächen zwischen den beiden Kirchen. Ergebnis dieser Lehrgespräche war 1987 die volle Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zwischen der Evangelisch-Methodistischen Kirche und der VELKD. Dies wirkt so weit, daß es in Potsdam, Kirchsteigfeld eine Art Simultankirche der Ev. Landeskirche (Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz) mit der Ev.-Methodistischen Kirche gibt.

* Mit der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten (STA), die bis zur 3. Auflage unter "Sekten" rubrizierten, gab es intensive Gesprächskontakte, die zum Ergebnis hatten, die STA jetzt als Sondergemeinschaft zu bezeichnen, also als Gemeinschaft, die ökumenische Beziehungen nicht ablehnt, sondern teilweise Beziehungen zu den Kirchen hat, freilich immer noch Sonderlehren vertritt, die in einigen Fällen auch sektiererische Züge tragen. Zwar stimmen Adventisten in vielen Glaubensüberzeugungen mit den Kirchen der Reformation überein. ...

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31 Bendrath: "Im Zusammenhang mit den Überlegungen zu einer Ordnung des kirchlichen Lebens - nach der Gründung der VELKD im Jahre 1948 - kam es bei der Tauffrage zu der Feststellung: Bei der Aufnahme in die lutherische Kirche kommt es nicht darauf an, in welcher Gemeinschaft die Aufzunehmenden getauft wurden, sondern ob die Taufe dort mit Wasser und auf den Namen des Dreieinigen Gottes vollzogen worden war, da nach lutherischer Auffassung in der Taufe Gott selbst handelt. Eine bedingte Taufe (Konditionaltaufe) "Ich taufe dich ... für den Fall, daß du noch nicht getauft bist" widerspricht dem lutherischen Taufverständnis.

Auf Grund dieser theologischen Position in der Tauffrage mußten Ermittlungen über die Taufpraxis anderer christlicher Gemeinschaften durchgeführt werden. So bat die 4. Tagung der 1. Generalsynode der VELKD im Jahre 1952 in Flensburg die Kirchenleitung, dafür Sorge zu tragen, daß bei allen christlichen Gemeinschaften in unserem Lande festgestellt werde, ob die Taufe dort 'dem Taufbefehl Christi gemäß' vollzogen werde oder nicht. Hiermit verbanden sich naturgemäß weitere Fragen, nämlich, ob man Mitglieder bestimmter Gemeinschaften zur Patenschaft zulassen könne oder nicht, ob man ersatzweise Glieder einer solchen Gemeinschaft trauen oder beerdigen dürfe oder nicht, ob man ihnen kirchliche Räume zur Verfügung stellen könne usw." 32

Die Taufe der folgenden Sekten und Sondergemeinschaften wird von der Lutherischen Kirche anerkannt:
Lorenzianer, Neuapostolische Kirche; Apostelamt Jesu Christi, Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten,
Katholisch-Apostolische Gemeinden; Neue Kirche; Weltweite Kirche Gottes. Stand: 2000/2003)

... Aber ihre Sonderlehren (Sabbatlehre, Heiligtums- und Gerichtslehre, Bezug der dreifachen Engelsbotschaft aus Offb. 14 auf die STA selbst) lassen eine Einordnung unter den Kirchen resp. Freikirchen nicht zu. Daran haben auch Gespräche zwischen LWB und Weltleitung der STA noch nichts geändert.
* Aus der Forschungsarbeit des Arbeitskreises ergab sich, daß die "Taufe" der Mormonen nicht - wie früher geschehen - als christliche Taufe verstanden und anerkannt werden kann. Darüber wurde auch im ökumenischen Gespräch mit den anderen Kirchen Konsens erzielt. Deshalb wurde diese amerikanische Neureligion aus der Rubrik der christlichen Sekten herausgenommen. 33

2.3.4 Weitere Kategorien des HRG

4. Synkretistische Neureligionen und Bewegungen
"Organisationen und Bewegungen, die Elemente verschiedener Religionen und Weltdeutungssysteme miteinander verbinden."
5. Esoterische und neugnostische Weltanschauungen und Bewegungen
Weltdeutungssysteme mit religiösen Funktionen teils mit, teils ohne Kultgemeinschaft.
6. Missionierende Religionen des Ostens, Neureligionen
Gruppen und Bewegungen, die ihren Ursprung in einer asiatischen Religion haben;
Hinduistischer Kontext, Sikhistischer Kontext, Buddhistischer Kontext, Schiitischer Kontext.
7. Kommerzielle Anbieter von Lebensbewältigungshilfen und Psycho-Organisa tionen
Unternehmen, die Techniken zur Lebensbewältigung anbieten (wie Landmark) sowie Organisationen und Bewegungen,
die Psychotechniken unterschiedlicher Herkunft gebrauchen, um das Leben und Verhalten der Mitglieder zu verändern oder zu regulieren.

3. "Sekten", Cults und "Neue Religiöse Bewegungen"

3.1 Milieu oder Organisation

Das Wort "Bewegung/Movement" ist - jedenfalls in der deutschen Sprache - mindestens doppeldeutig34 .
Im ersten Fall bezeichnet "Bewegung" eine zielgerichtete, geführte, dynamische Organisation, im zweiten Falle ist Bewegung gerade keine Organisation oder Gruppe, sondern es ist eher ein Milieu, eine Szene oder Strömung gemeint.
Es gab verschiedene Vorschläge, für die im englischen Sprachraum als "cults" oder "New Religious Movements" bezeichneten Gruppen und Strömungen andere Begriffe zu verwenden. Wichtig war für die deutsche Begriffsbildung die Beobachtung, daß es sich bei diesen Gruppierungen nicht um Strömungen oder Milieus, sondern vielmehr eher um fest strukturierte Organisationen handelt. Weiter galt es zu beachten, daß es sich weder nach ihrem Selbstverständnis noch nach ihrer Geschichte und Struktur um sektenartige Abspaltungen von anderen (Stamm-) Organisationen oder -Religionen handelte, sondern um Organisationen, die mit dem Anspruch der Originalität auftraten. Auch die japanischen Neubildungen wurden längst, auch im deutschen Sprachraum, als (japanische) "Neue Religionen" bezeichnet.
Für diese Organisationen hatte sich in Deutschland zunächst der Begriff "Jugendreligionen"35 durchgesetzt, geprägt ...

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33 Die Utah-Mormonen "Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage /Mormonen" rubrizieren jetzt bei "Synkretistische Neureligionen und Bewegungen", definiert als "Organisationen und Bewegungen, die Elemente verschiedener Religionen und Weltdeutungssysteme miteinander verbinden".
34 Wird von der "Bewegung" gesprochen, so wird das Wort z.B. im historischen oder politischen Zusammenhang als eine Kurzform, ja ein Synonym für die "Hitler-Bewegung" (ca. 1920-1945) verstanden, den Kern des faschistischen National-Sozialismus in Deutschland. Nach der Übernahme und Umformung einer Partei (der NSDAP) zum politischen Arm der "Bewegung" gelang es ihr, von 1933-1945 die politische Macht zu erringen und einen totalen Staat in Deutschland nach dem Modell der "Bewegung" zu errichten. Semantisch kann Bewegung in der deutschen Sprache
* eine geführte bzw. wenigstens konkret initiierte Bewegung mit einem Ziel bezeichnen (cf. Hitler-Bewegung, Arbeiter-Bewegung) oder aber auch völlig anders
* eine eher pluriforme Strömung aus unterschiedlichen Quellen und mit divergierenden Zielen wie z.B. die deutsche "Jugendbewegung", die Grüne Bewegung, die Frauenbewegung usw.
35 Im Evangelischen Kirchenlexikon (EKL) hatte ich 1988 formuliert:
"Jugendreligionen - 1. Begriff, 2. Bewegungen innerhalb der J., 3. Verbreitung, 4. Wirkung

1.1 Als 'J.' bezeichnete erstmals der dt. Theologe F.W. HAACK 1974 solche seit Ende der 60er Jahre in Europa auftretenden religiösen und parareligiösen Bewegungen, die in ihrer Werbung und Arbeitsweise v.a. Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 18 und 35 Jahren ansprechen und in Lehre und Praxis auf infantile Regression ihrer Anhänger abstellen. Eine direkte Ausrichtung der Mitgliederwerbung auf Jugendliche und junge Erwachsene ist bei der Mun-Bewegung sogar konzeptionell vorgesehen.

1.2. Die Faszination der J. für die jugendlichen Anhänger beruht auf der Unbedingtheit der Hingabeforderung wie auf der aus der Hingabe folgenden Aufwertung als Mitkämpfer für eine neue Welt. Dazu bieten die J. eine überschaubare 'gerettete Familie' mit einem 'Heiligen Meister' von absoluter, göttlicher Autorität, der mit Hilfe eines 'rettenden Rezepts' die Lösung aller individuellen und universellen Probleme, ja die Auflösung des 'Alles-oder-Nichts-Widerspruchs' ermöglicht. Kennzeichnend für die J. ist auch die 'esoterische Kluft' zwischen den Zielen und Anschauungen in den J. und den nach außen hin propagierten Zielen. So treten einige der Gruppen als med. oder religiöse 'Reformbewegungen' auf, während sie sich intern als abschließende Neuoffenbarung oder gar als Wurzel aller Religionen verstehen.
Die 'traditionellen' Religionen werden als überholte und zu überwindende Stützen der alten Zeit gesehen, die bestenfalls noch als Rekrutierungsfeld für neue Anhänger genutzt werden können.
1.3. Bei den Anhängern der J. ist immer wieder ein drastischer rascher Pe
rsönlichkeitswechsel bis hin zur Ausschaltung aller Kritik und zur Totalhingabe zu beobachten. Die starken Persönlichkeitsveränderungen und die rigorosen ethisch-moralischen Neuorientierungen führen zu Konflikten mit Gesetzen, zu sozialen und familiären Problemen (Eltern- und Betroffeneninitiativen). Der Begriff der 'Destruktive Kulte' kennzeichnet die negativen Auswirkungen auf jugendliche Anhänger.

2. Der Bereich der zu den J. zu rechnenden neuen religiösen Bewegungen läßt sich etwa folgendermaßen gliedern:
2.1 Ind.-hinduistische Gurubewegungen wie Int. Gesellschaft für Krishna-Bewußtsein e.V. (ISKCON), Divine Light Mission (DLM), Ananda Marga, Transzendentale Meditation ™, Bhagwan-Bewegung (Bhagwan Sri Rajnis). Einige dieser als J. bezeichneten Gruppen sind auch Teil einer von der Vishva Hindu Parishad (VHP), einer Art Welt-Hindu-Missionsrat, aus-gehenden, planmäßigen hinduistischen Missionsbewegung und daher weniger von ihrer Zielgruppe als vielmehr von ihren Motivationen und Ursprüngen her zu interpretieren.

2.2 Neue christliche Sekten wie die Children of God (Kinder Gottes) und The Way.
2.3 Synkretistisch-spiritistische Neubildungen wie die Mun-Bewegung mit ihrer 'Vereinigungskirche'.
2.4 Weltanschaulich-therapeutische Gruppen ('Psychokulte') wie die Scientology-Kirche mit der 'Sea-Org', EST und die Aktionsanalytische Organisation (AAO) des Wiener Aktionskünstlers Otto Mühl.
3. Kommt es einigen J. darauf an, eine Elite zu organisieren, versuchen andere, möglichst viele Menschen mit Einstiegskursen zu erreichen. Weitere Formen der Wirkungsmöglichkeit bieten sich z.B. durch Öffentlichkeitsarbeit in Medien und im Kulturbereich. Daher ergeben sich unterschiedliche Angaben für Mitgliedszahlen, die für den dt.sprachigen Raum von einigen hundert Mitgliedern bis zu mehreren tausend Anhängern reichen. (...)

4. J. sind ein bes. problematischer Teilbereich der weltweiten 'Neuen Religiösen Bewegungen', zu denen sowohl innerkirchl. als auch nicht-christl. religiöse Neubildungen gehören. Im Gegensatz zu den klassischen christl. Sekten ist die Wirksamkeit der J. nicht Reaktion auf christl. Verkündigung und kirchl. Handeln. J. wirken in allen hochindustrialisierten Länder einschließlich des nicht-christl. Japan auch in den sog. Ostblockländern sind die J. tätig. Sie markieren für die Kirchen das Problem der Vermittlung nachvollziehbarer religiöser Praxis in der modernen Gesellschaft, aber auch die gesellschaftlichen Aufgaben im Bezug auf die Jugend."

... von F.W. Haack u.a. mit der Absicht, einerseits konkrete Organisationen und Gruppen und nicht nur ein Milieu zu beschreiben, andererseits aber auch, um die von vornherein wertenden Bezeichnungen wie "konfliktreiche neue religiöse Bewegungen" oder das unzutreffende "Jugendsekten" zu vermeiden.
Damit ist "der religiöse Anspruch dieser Gruppen zumindest begrifflich anerkannt", was wohl auch der Absicht Haacks entsprach.36

3.2 Kontroversen

Vermutlich gibt es um jede einigermaßen aktive religiöse Gruppe Kontroversen. Die Entscheidung für eine Gruppe oder die Anwerbung durch eine religiöse Gruppe kann zumindest im familiären und beruflichen Umfeld für Kontroversen sorgen.
Es ist erstaunlich, daß öffentliche Aktivitäten der meisten religiösen Gruppen, wie Fundraising, PR-Aktionen usw., aber auch erfolgreiche Werbung - vermutlich wegen Transparenz und reichlicher Information - in Deutschland für wenig Kontroversen sorgt.

Demgegenüber gibt es gehäuft gesellschaftliche Kontroversen, die um eine kleinere Zahl der neuen religiösen Organisationen entstehen oder sogar selbst von diesen (zum Teil absichtlich) ausgelöst werden.
Manche Kontroversen um neue religiöse Gruppen werden erklärt mit "Akkulturationsschwierigkeiten". Deshalb sollte man sich nicht wundern, wenn solche Kontroversen besonders um Gruppen aus einem fremdartigen kulturellen Kontext entstehen würden. Jedoch scheint es eher so zu sein, daß bestimmte unredliche Rekrutierungs- und Geldsammlungsmethoden und weniger kulturelle Differenzen zu Problemen und Kontroversen führen. Es sind besonders die nach außen hin als "westlich" bzw. "amerikanisch" auftretende Gruppen, die ein hohes Potential an Kontroversen zu mobilisieren scheinen.

Bei den Gurubewegungen ist dies die stark "amerikanisch" ausgerichtete TM-Bewegung37. Ansonsten gab es die meisten Konflikte mit der Mun-Bewegung und neuerdings der sog. Boston Church of Christ. Das gezielte Hervorrufen von Kontroversen wird von der Mun-Bewegung als eine regelrechte Missions- und PR-Aktivität betrieben.
Kontroversen hat es auch um das Auftreten von Kulten / Jugendreligionen in den "neuen Bundesländern" (Ex-DDR) gegeben. Hier wurde wieder neu deutlich, daß ein Hauptpunkt für die Entstehung von Problemen, Kontroversen und Kritik das verdeckte, falsch ausgeschilderte und täuschende Vorgehen der Gruppen ist.

3.3 Sonderfall Scientology


Die größten Kontroversen aber ruft in Deutschland in den letzten Jahren sicherlich die Scientology-Organisation hervor. Kontroversen mit der Scientology-Organisation gibt es, weil dies nach politischem Einfluß strebende Wirtschaftsunternehmen für seine wirtschaftliche und politische Durchsetzung versucht, Religionsfreiheit als Gruppenrecht zu benutzen. Scientology ist aber weder Sekte noch sonstwie religiöse Organisation, sondern versucht lediglich, mit Hilfe der Berufung auf Religionsfreiheit Wirkungs- und Durchsetzungsmöglichkeiten zu erhalten.38

Auf Grund der erheblichen Kritik und den Beanstandungen an der wirtschaftlichen Betätigung ist Scientology teilweise dazu übergegangen, für die wirtschaftliche Betätigung des Kursverkaufs die Anmeldung eines Gewerbes vorzunehmen. Zugleich aber versucht die Organisation, sich als eine in Deutschland verfolgte religiöse Minderheit darzustellen.39
Zur Zeit ist die Diskussion um die SO bestimmt durch die umfängliche, im Auftrag der Bayrischen Staatsregierung erstellte Studie von Prof. Nedopil u.a. über die gesundheitlichen und rechtlichen Risiken bei Scientology40.

Dabei geht es in der Konsequenz auch um eine vereinsrechtliche Prüfung bis hin zur Prüfung eines Vereinsverbots.41 Unter anderem aus den so entstandenen Dringlichkeiten erklärt sich der aktuelle massive Lobby-Einsatz in der ganzen EU.42
Scientology hat auf die Kritik an Menschenrechtsverletzungen in der Organisation nicht etwa mit einer Korrektur oder Liberalisierung reagiert. Im Gegenteil läßt Scientology seine Mitglieder jetzt ein Formular43 unterschreiben, mit dem diese auf elementare Rechte gegenüber der Organisation verzichten sollen.44
Daß Scientology sich in Menschenrechtsfragen nicht geändert hat, ist auch an der bis heute währenden Verfolgung des Scientology-Aussteigers Gerald Armstrong ...

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36 so Zinser 1997 S.144
* Haack, Friedrich-Wilhelm: Die neuen Jugendreligionen Teil 1, 24. Aufl. München 1988
* Haack, Friedrich-Wilhelm: Die neuen Jugendreligionen Teil 5, Gurubewegungen und Psychokulte - Durchblicke und Informationen, 1. Aufl. München 1991
37 Haack, Friedrich-Wilhelm und Gandow, Thomas: Transzendentale Meditation, 6. ergänzte Aufl., München 1992
38 Aufsätze u.a.:
* Stephen A. Kent (University of Alberta, Canada): Scientology, religiöse Ansprüche und Heilungsschwindel

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* Benjamin Beit-Hallahmi (University of Haifa, Israel): Scientology: Religion or racket?
Marburg Journal of Religion, Volume 8, No.1 (Sept. 2003)

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* Stephen A. Kent (University of Alberta, Canada): Scientology and the European Human Rights Debate: A Reply to Leisa Goodman, J. Gordon Melton, and the European Rehabilitation Project Force Study Marburg Journal of Religion, Volume 8, No.1 (Sept. 2003)

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39 In diesem Zusammenhang wurde von Scientology eine Aktion "Call-to-Arms-Germany" am 4.5.1994 gestartet und eine "Germany Task Force I/OSA INT" gegründet, zur Abwehr angeblicher "neonazistischer Regierungsattacken auf Scientology-Organisationen und -Mitglieder in Deutschland."
Die Konferenz der deutschen Innenminister hat dazu am 6. Mai 1994 in einer Pressemitteilung 19/94 zur "Beobachtung der Scientology-Organisation" mitgeteilt:

"Die Innenminister sind der Auffassung, daß die Erkenntnislage zur Zeit noch keine Bundesweite Zuordnung zur Kategorie der politischen Bestrebungen erlaubt.
Die Scientology-Organisation stellt sich gegenwärtig den für Gefahrenabwehr und Strafverfolgung zuständigen Behörden der inneren Verwaltung als eine Organisation dar, die unter dem Deckmantel einer Religionsgemeinschaft Elemente der Wirtschaftskriminalität und des Psychoterrors gegenüber ihren Mitgliedern mit wirtschaftlicher Betätigung und sektiererischen Einschlägen vereint. Der Schwerpunkt ihrer Aktivitäten scheint im Bereich der Wirtschaftskriminalität zu liegen. Deshalb sollen staatliche Abwehrmaßnahmen zunächst in diesem Bereich fortgesetzt werden."
40 Heinrich Küfner, Norbert Nedopil, Heinz Schöch (Hrsg.): Gesundheitliche und rechtliche Risiken bei Scientology. Eine Untersuchung psychologischer Beeinflussungstechniken bei Scientology, Landmark und der Behandlung von Drogenabhängigen, Pabst-Verlag, 2002, 647 Seiten, ISBN 3-936142-40-8 ;
dazu u.a:

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;
ausführlich:

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.

Eine Kurzfassung der Studie findet sich unter:

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.
41

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42 Vgl. u.a.

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und

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;

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;
dt. Übers.:

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43

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[Nicht mehr online!]
44 In dem Formular heißt es u.a.: s. nächte S.

... zu sehen, dem Scientology seit zwanzig Jahren unverändert das Menschenrecht bestreitet, über seine "religiösen" Erfahrungen in der Scientology-Organisation zu sprechen, ja dem sogar bei Strafe und akuter Schadensersatzforderung von derzeit US-$ 10.000.000 untersagt sein soll, seine Meinung über seine Erfahrungen mit der heutigen Scientology-Verfolgung zu äußern45. In den Methoden hat sich leider in den letzten zwei Jahrzehnten nichts geändert:
"Wir machen den Feind fertig, wann immer er zum Vorschein kommt."

So zitiert 1999 Scientology-Chef David Miscavige L.Ron Hubbard in einer Rede, in der er erläutert, was nötig sei, um weltweite Expansion von Scientology durchzusetzen46.
Ich habe das unverändert aggressive Vorgehen von Scientology gegen die Meinungs- und Gewissensfreiheit, ja konkret gegen die freie Religionsausübung, selbst erlebt. Auf dem Weg zu einem Predigtdienst in Berlin-Charlottenburg im Focus-Gottesdienst am 19. Januar 2003 in Begleitung des SO-Aussteigers Gerald Armstrong wurde ich von einem Scientologen in verkehrs- und lebensgefährlicher Weise attackiert.47

Von kirchlicher Seite sind in diesem Zusammenhang vor allem zwei Themenbereiche relevant:
* Die Begleitung und seelsorgerliche Betreuung von Opfern der SO, Aussteigern wie Angehörigen, die bei der Kirche Beratung, Hilfe und Schutz suchen
* die Auseinandersetzung mit Scientology wegen der Gefährdung der Religionsfreiheit
o kurzfristig durch Mißbrauch der Religionsfreiheit,
o mittelfristig durch Diskreditierung der Religionsfreiheit
o langfristig durch die geplante Abschaffung von Religions- und Meinungsfreiheit.

3.4 Cults sind keine Sekten

Der Begriff "Neue Religiöse Bewegungen" hat sich in Deutschland für die "cults" nicht durchgesetzt, oder präziser gesagt, er bezeichnet im Deutschen etwas völlig anderes als im englischen Sprachgebrauch. Als Neue Religiöse Bewegungen werden in Deutschland heute eher die Taizé-Jugendlichen, die Gruppen der Charismatischen Gemeindeerneuerung, Teile der losen New-Age-Strömung, die spirituellen Strömungen in der Frauenbewegung usf verstanden.

Zunächst setzte sich in Deutschland der Begriff "Jugendreligion" durch. Er ist aber in letzter Zeit abgelehnt worden, weil er angeblich die jetzige Zielgruppe nicht zutreffend beschreibe. Dabei wurde erst kürzlich wieder von profilierter Seite festgestellt, daß die entsprechenden Gruppen vor allem Jugendliche und junge Erwachsene als Zielgruppe haben48.
Stattdessen wurde versucht, für den öffentlichen Bereich, aber auch in die kirchliche Diskussion Begriffe wie "konfliktträchtigen Bewegungen", "potentiell konfliktträchtige Bewegungen" oder auch (besser begründet) "Konfliktträchtige Orientierungen" durchzusetzen, um wie es hieß,
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