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Evangelikalismus und Fundamentalismus.


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Rolf

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Reinhard Hempelmann *





Evangelikalismus und Fundamentalismus.





Zur Situation in Deutschland


Aus der Zeitschrift der Katholischen Akademie in Bayern 'zur debatte', 5/2007, S.6-8



Was ist christlicher Fundamentalismus?

Die einfache und zutreffende Antwort auf diese Frage lautet: eine Strömung innerhalb des konservativen Protestantismus. Die augenfälligsten Formen engagierter Christlichkeit finden sich heute in denjenigen Bereichen des Christentums, die aufklärungskritisch und konservativ geprägt sind. Innerhalb der protestantischen Landschaft ist unübersehbar, dass sich erwecklich geprägte Strömungen, deren Ziel die Wiederentdeckung urchristlicher Missionsdynamik und Gemeinschaftsbildung ist, überaus schnell und wirksam ausgebreitet haben.

Aber der Katholizismus hat durch die Akzeptanz charismatischer Frömmigkeit protestantischem Erweckungschristentum in sich Raum gegeben und es eklektisch aufgenommen. Zwar zeigen sich diese Entwicklungen in Afrika, Lateinamerika und Asien deutlicher als im europäischen Kontext. Sie werden jedoch auch bei uns immer mehr erkennbar und verbinden sich mit den Impulsen, die vom Pietismus, der Erweckungsbewegung und freikirchlichen Gemeinschaftsbildungen ausgehen. Während noch vor wenigen Jahrzehnten Strömungen des konservativen Protestantismus von vielen "modernen Theologen" als eine im Wesentlichen vergangene Erscheinung angesehen wurden, zeigt sich inzwischen, dass es sich hierbei um ein dauerhaftes Phänomen handelt.

Man wird der Ausbreitung evangelikaler und pfingstlich-charismatischer Strömungen nicht gerecht, wenn man diesen Vorgang mit dem eindeutig negativ besetzten Begriff Fundamentalismus stigmatisiert. Die Konjunktur des Begriffs deutet zwar auf eine verbreitete Sache hin. Im Kontext pluralistischer Gesellschaftssysteme verstärken die Kompliziertheit und "neue Unübersichtlichkeit" des Lebens die Sehnsucht nach Einfachheit und Klarheit, nach Reduktion von Komplexität. Fundamentalistische Strömungen haben in diesem Umfeld ihre Chancen. Es gibt jedoch berechtigten Anlass, differenzierende Begriffsverwendungen anzumahnen. Konservative Theologen, Evangelikale, Charismatiker, Pfingstler wehren sich mit Recht dagegen, mit religiösen Fanatikern in einem Atemzug genannt zu werden, die vor der Anwendung brutaler Gewalt nicht zurückschrecken, um ihre religiös-politischen Visionen zu verwirklichen.

Es ist wenig hilfreich und sowohl in historischer wie auch phänomenologischer Perspektive nicht zutreffend, den christlichen Fundamentalismus pauschal z.B. mit der evangelikalen oder charismatischen Bewegung zu identifizieren. Christlicher Fundamentalismus muss auch vom christlichen Konservativismus unterschieden werden. Zwischen Evangelikalismus und Fundamentalismus gibt es zwar vielfältige Zusammenhänge, "Übergänge und sich überlappende Grauzonen" (Erich Geldbach) - beide Bewegungen sind transkonfessionell und international orientiert, beide konkretisieren sich in zahlreichen Initiativen und Werken, in beiden Bewegungen sind modernitätskritische Orientierungen wirksam - der Hauptstrom des Evangelikalismus unterscheidet sich jedoch vom Fundamentalismus.

Ein herkömmlicher kirchlich-theologischer Sprachgebrauch nimmt diese Selbstunterscheidung auf und bezeichnet mit fundamentalistisch denjenigen Bereich evangelikaler Frömmigkeit, der hinsichtlich des Bibelverständnisses die Auffassung ihrer wörtlichen Inspiriertheit mit den Postulaten Unfehlbarkeit und absolute Irrtumslosigkeit verbindet. Freilich bedarf auch eine solche Begriffsbestimmung weiterer Differenzierungen. So muss etwa unterschieden werden, ob jemand die christliche Glaubensüberzeugung mithilfe eines fundamentalistischen Bibelverständnisses zum Ausdruck bringt, sich aber offen und anerkennend in einer größeren Gemeinschaft von Christinnen und Christen bewegt und damit auch andere theologische Entscheidungen zur Bibelfrage gelten lässt, oder ob jemand seinen Glauben derart eng mit einem fundamentalistischen Bibelverständnis verbindet, dass er anderen, nichtfundamentalistisch geprägten Christen, ihr Christsein abspricht.

Auch der Rekurs auf die Anfänge der fundamentalistischen Bewegung in den USA ist ein möglicher Weg, vorläufige Begriffserklärungen herbeizuführen. Um in historischer Perspektive von Fundamentalismus im engeren Sinn des Wortes sprechen zu können, reicht das Motiv der wörtlichen Inspiriertheit und Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift als Definitionskriterium noch nicht aus. Es müssen weitere Motive hinzukommen: die konservative politische Gesinnung und der Wille, religiös begründete Überzeugungen auch politisch durchsetzen zu wollen. Dazukommen muss also die Verbindung von Politik und Religion. Der christliche Fundamentalismus in diesem engeren Sinn stellt in Deutschland, anders als in den USA, keinen hoch organisierten und politisch einflussreichen Faktor dar, sondern ist vor allem eine kirchenpolitische, seelsorgerliche und ökumenische Herausforderung.


Das Prinzip der Übertreibung und der Missbrauch von Autorität

Ein Grundprinzip, das in fundamentalistischen Strömungen immer wieder in Erscheinung tritt, ist das Prinzip der Übertreibung. Einsichten des Glaubens werden so übertrieben, dass sie das christliche Zeugnis verdunkeln, ja verkehren. Dies bezieht sich zwar zuerst und vor allem auf das zur Verbalinspirationslehre gesteigerte Schriftprinzip - verbunden mit der Annahme einer absoluten Unfehlbarkeit der Bibel in allen ihren Aussagen -, darüber hinaus aber auch auf andere Ausdrucksformen und Motive der Frömmigkeit:

das Motiv des wiederhergestellten urchristlichen Lebens;
das Motiv der Unmittelbarkeit göttlichen Handelns, ohne dass beanspruchte Gotteserfahrungen einem Prozess der Prüfung und möglicher Korrektur unterzogen werden;
das Motiv autoritativer Vor- und Nachordnungen (zwischen Eltern und Kindern, Mann und Frau, Pastor und Gemeinde ...), die als Zeichen wahren christlichen Lebens verstanden und praktiziert werden;
das Versprechen des geheilten und erfolgreichen Lebens;
die Behauptung der Greifbarkeit und Lokalisierbarkeit Gottes und der Mächte des Bösen;
dualistische Strukturen bzw. ein weltbildhafter Dualismus, oft verbunden mit einem deutlichen Weltpessimismus; Rettung wird nur der eigenen Gruppe zuteil, während die übrige Welt dem bevorstehenden Untergang anheim fällt;
elitäres Selbst- und Wahrheitsbewusstsein, Abgrenzung von der Außenwelt; wer nicht zur eigenen Gruppe gehört, wird abgeschrieben.

Die Gewichtung der genannten Motive ergibt sich u.a. daraus, mit welcher Intensität sich das zu Grunde liegende Motiv der Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift mit ihnen verbindet. Aus der Vielfalt möglicher Ausprägungen des Fundamentalismus haben sich insbesondere zwei Gestalten ausgebildet, die im Folgenden näher erläutert werden.


Wort- und Geistfundamentalismus - streitende Geschwister

Die eine Gestalt nimmt Bezug auf das unfehlbare Gotteswort in der Bibel (biblizistische, literalistisch-legalistische Orientierungen), die andere Gestalt sucht und findet Gewissheit in außergewöhnlichen Erfahrungen des Heiligen Geistes (enthusiastische, pfingstlich-charismatische, pentekostale Orientierungen). Biblizismus und Enthusiasmus können gesteigert werden und gewinnen dabei die Gestalten von Wort- und Geistfundamentalismus. Für beide Gestalten ist charakteristisch, dass sie sich auf die biblische Tradition berufen und dabei von der wörtlichen Inspiriertheit der Bibel ausgehen. Beide Gestalten können sich mit bestimmten Annahmen zur Entstehung der Welt und des Menschen verbinden (Kreationismus), ebenso mit entsprechenden Annahmen vom Ende der Welt (Millennarismus). Im kreationistischen Gedankengut ist der Widerspruch zur darwinischen Abstammungslehre zusammengefasst. In der Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel von 1978 heißt es: "Wir verwerfen die Ansicht, dass die Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Bibel auf geistliche, religiöse oder die Erlösung betreffende Themen beschränkt seien, sich aber nicht auf historische und naturwissenschaftliche Aussagen bezögen."

In den millennaristischen Perspektiven und dem Glauben an das Tausendjährige Reich (Chiliasmus) artikuliert sich der Protest gegen den Fortschrittsglauben der Moderne. Beide Gestalten tendieren dazu, wertkonservative und gesetzesethische Lebensorientierungen zu vermitteln. In beiden Gestalten ist die Sehnsucht nach Rückkehr in urchristliche Verhältnisse wirksam.

Beide, Wort- und Geistfundamentalisten, würden den so genannten fünf "fundamentals" des christlichen Fundamentalismus (Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift, Jungfrauengeburt, Sühnetod, leibliche Auferstehung, sichtbare Wiederkunft Christi), wie sie im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in den USA formuliert wurden, zustimmen, ebenso den grundlegenden Sätzen, die bereits im Vorfeld der Entstehung des protestantischen Fundamentalismus im so genannten "Niagara Creed" festgehalten wurden. Der eine leitet daraus eine kreationistische Position ab und ist daran interessiert, eine alternative Biologie und Geologie aufzubauen, dem anderen liegt an einer christlichen Psychologie oder am Powermanagement in der Kraft des Heiligen Geistes.

Der in einer bestimmten Dispensationalismuskonzeption (mit der Entstehung des Kanons der Schrift ist die Zeit der Wunder zu Ende) begründete Ausschluss der Zeichen und Wunder für unsere heutige Zeit beruft sich ebenso auf die Schrift wie die emphatische Forderung, sie heute zur Normalität der Frömmigkeit werden zu lassen. Geist- und Wortfundamentalismus können als streitende Geschwister verstanden werden. Da der Geistfundamentalismus sich in nahezu allen Ausprägungen gegenüber einem Wortfundamentalismus inklusiv versteht und dessen Anliegen mitvertreten kann, ist hier Streit in grundsätzlicher Weise vorprogrammiert, wofür es in historischer Perspektive wie auch im Blick auf die gegenwärtige Situation zahlreiche Beispiele gibt. Der Geistfundamentalismus bietet alles, was der Wortfundamentalismus auch beinhaltet, kennt jedoch darüber hinaus ergänzende, steigernde Elemente.

Solche Differenzierungen zeigen, dass diejenigen Recht haben, die sagen, dass der Kern des christlichen Fundamentalismus nicht allein in dem Verständnis der Heiligen Schrift liegt, sondern in einer besonderen Art der Frömmigkeit, die vom Fundamentalisten als die einzig Richtige angesehen wird. "Fundamentalisten sind keine Buchstaben-Gläubige oder zumindest keine konsequenten. Man könnte dagegen sagen, dass das Hauptproblem für einen fundamentalistischen Exegeten in der Entscheidung liegt, welcher Abschnitt wörtlich zu nehmen ist und welcher nicht" (James Barr). Damit ist auch ein wichtiger Hinweis für die Erklärung des Phänomens gegeben, dass die Ausbreitung christlich-fundamentalistischer Bewegungen Hand in Hand geht mit ständig neuen Abspaltungen und Denominationsbildungen. Wenn sich gegenwärtig ein Geistfundamentalismus als chancenreicher darstellt als ein reiner Wortfundamentalismus, liegt das u.a. darin begründet, dass er an Ausdrucksformen der religiösen Alternativkultur anknüpfen kann. In Afrika, Asien und Lateinamerika hat der Geistfundamentalismus zusätzliche kulturelle Anknüpfungsmöglichkeiten.


Ausprägungen des Evangelikalismus

Die Wurzeln der evangelikalen Bewegung liegen im Pietismus, Methodismus und der Erweckungsbewegung. Vorläufer hat sie in Bibel- und Missionsgesellschaften, in der Bewegung der Christlichen Vereine Junger Männer und Frauen, der Gemeinschaftsbewegung sowie der 1846 gegründeten Evangelischen Allianz. Bereits die geschichtliche Entwicklung belegt, dass der Evangelikalismus an "vorfundamentalistische Strömungen" anknüpft und innerhalb der Bewegung ein breites Spektrum an Ausprägungen der Frömmigkeit erkennbar wird. Auf der einen Seite steht die Heiligungsbewegung, aus der die Pfingstfrömmigkeit erwuchs, auf der anderen Seite steht ein sozial aktiver Typus evangelikaler Frömmigkeit, der Beziehungen aufweist zum Social Gospel. Ähnlich weit wird das Spektrum, wenn die gegenwärtige evangelikale Bewegung in ihrer weltweiten Verbreitung und Verzweigung ins Blickfeld kommt. Sie hat in unterschiedlichen Kontinenten durchaus verschiedene Profile. Sowohl die Frömmigkeitsformen wie auch die theologischen Akzente im Schriftverständnis, in den Zukunftserwartungen, im Verständnis der Kirche und Welt weisen kein einheitliches Bild auf. Gleichwohl lassen sich gemeinsame Anliegen in Theologie und Frömmigkeit benennen:

Für evangelikale Theologie und Frömmigkeit charakteristisch ist die Betonung der Notwendigkeit persönlicher Glaubenserfahrung in Buße, Bekehrung / Wiedergeburt und Heiligung sowie die Suche nach Heils- und Glaubensgewissheit.
In Absetzung von der Bibelkritik liberaler Theologie wird die Geltung der Heiligen Schrift als höchster Autorität in Glaubens- und Lebensfragen unterstrichen. Entsprechend der theologischen Hochschätzung der Heiligen Schrift ist eine ausgeprägte Bibelfrömmigkeit kennzeichnend.

Als Zentrum der Heiligen Schrift wird vor allem das Heilswerk Gottes in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi gesehen. Der zweite Glaubensartikel wird im theologischen Verständnis und in der Frömmigkeit akzentuiert. Die Einzigartigkeit Jesu Christi wird pointiert hervorgehoben. Evangelikale Religionstheologie ist exklusivistisch geprägt.
Gebet und Zeugendienst stehen im Mittelpunkt der Frömmigkeitspraxis. Gemeinde bzw. Kirche werden von ihrem Evangelisations- und Missionsauftrag her verstanden.

Die Ethik wird vor allem aus den Ordnungen Gottes und der Erwartung der Wiederkunft Christi und des Reiches Gottes heraus entwickelt.
Mit diesen Akzenten in Theologie und Frömmigkeit ist der personale Aspekt des Glaubens betont, während der sakramentale in der evangelikalen Frömmigkeit zurücktritt. Das Verhältnis zwischen evangelikaler Bewegung und katholischer Kirche gestaltete sich über lange Zeit eher distanziert. Inzwischen sind von beiden Seiten zahlreiche gemeinsame Anliegen entdeckt worden, keineswegs nur in Fragen der individuellen Ethik. In seiner Modernitäts- und Relativismuskritik spricht der jetzige Papst vielen Evangelikalen aus dem Herzen, ebenso in seinem bemerkenswerten Buch über Jesus von Nazareth.

Kristallisationspunkt der Sammlung der Evangelikalen im deutschsprachigen Raum ist die Deutsche Evangelische Allianz, die sich zunehmend in Richtung einer evangelikalen Allianz entwickelt hat. Zentrale Dokumente der Bewegung sind die Allianz-Basis (in Deutschland / Österreich und der Schweiz in unterschiedlichen Fassungen), die Lausanner Verpflichtung von 1974, die durch das Manila-Manifest von 1989 bekräftigt und weitergeführt wurde. Vor allem mit der Lausanner Verpflichtung bekam die weit verzweigte evangelikale Bewegung ein wichtiges theologisches Konsensdokument, welches zeigt, dass sie sich nicht allein aus einer antiökumenischen und antimodernistischen Perspektive bestimmen lässt, sondern in ihr die großen ökumenischen Themen der letzten Jahrzehnte aufgegriffen werden (z.B. Verbindung von Evangelisation und sozialer Verantwortung, Engagement der Laien, Mission und Kultur).

Im Unterschied zur ökumenischen Bewegung, in der Kirchen miteinander Gemeinschaft suchen und gestalten, steht hinter der evangelikalen Bewegung das Konzept einer evangelistisch-missionarisch orientierten Gesinnungsökumene, in der ekklesiologische Eigenarten und Themen bewusst zurückgestellt und im evangelistisch-missionarischen Engagement und Zeugnis der entscheidende Ansatzpunkt gegenwärtiger ökumenischer Verpflichtung gesehen wird. Evangelikalen und pfingstlich-charismatischen Gruppen geht es nicht um die offizielle Kooperation und Gemeinschaft von Kirchen, wie dies in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) geschieht, sondern um eine transkonfessionell orientierte Gesinnungsgemeinschaft auf der Basis gleichartiger Glaubenserfahrungen und -überzeugungen.

Auch im deutschsprachigen Kontext werden verschiedene Typen und Ausprägungen des Evangelikalismus erkennbar, die sich berühren, überschneiden, teilweise auch deutlich unterscheiden:

Der klassische Typ, der sich in der Evangelischen Allianz, der Gemeinschaftsbewegung und der Lausanner Bewegung konkretisiert und vor allem Landeskirchler und Freikirchler miteinander verbindet. Dieser Strang knüpft an die "vorfundamentalistische" Allianzbewegung an und stellt den Hauptstrom der evangelikalen Bewegung dar.

Der fundamentalistische Typ, für den ein Bibelverständnis charakteristisch ist, das von der absoluten Irrtumslosigkeit (inerrance) und Unfehlbarkeit (infallibility) der "ganzen Heiligen Schrift in jeder Hinsicht" ausgeht (vgl. Chicago-Erklärung). Kennzeichnend ist ebenso sein stark auf Abwehr und Abgrenzung gerichteter, oppositioneller Charakter im Verhältnis zur historisch-kritischen Bibelforschung, zur Evolutionslehre, zu ethischen Fragen (Abtreibung, Pornographie, Feminismus etc.). Da ein fundamentalistisches Schriftverständnis unterschiedliche Frömmigkeitsformen aus sich heraus entwickeln kann, differenziert sich der fundamentalistische Typ in verschiedene Richtungen.

Der bekenntnisorientierte Typ, der an die konfessionell orientierte Theologie, die altkirchlichen und die reformatorischen Bekenntnisse anknüpfen möchte und sich in der Bekenntnisbewegung "Kein anderes Evangelium" und der "Konferenz Bekennender Gemeinschaften" konkretisiert.

Der missionarisch-diakonisch orientierte Typ, der die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Evangelisation hervorhebt, in der Evangelisation und soziale Verantwortung in ihrer engen Zusammengehörigkeit akzentuiert werden. Dieser Typ ist u.a. in der "Dritten Welt" bei den "social concerned evangelicals" verbreitet, im deutschsprachigen Raum ist er eher unterrepräsentiert. Er findet seinen Ausdruck u.a. in Projekten, die an einer Kontextualisierung von Evangelisation und Mission interessiert sind.

Der pfingstlich-charismatische Typ, dessen Merkmal eine auf den Heiligen Geist und die Gnadengaben bezogene Frömmigkeit ist und der sich seinerseits nochmals vielfältig ausdifferenziert und mindestens drei verschiedene Richtungen ausgebildet hat: innerkichliche Erneuerungsgruppen, pfingstkirchliche Bewegungen, neocharismatische Zentren und Missionswerke, die sich als konfessionsunabhängig verstehen, theologisch und in der Frömmigkeitspraxis eine große Nähe zur Pfingstbewegung aufweisen.

Zu allen Typen gibt es entsprechende Gruppenbildungen und entsprechende Grundlagentexte. Das Selbstverständnis zahlreicher Gemeinschaftsbildungen und Aktionen als "überkonfessionell" oder "interkonfessionell" kann falsche Assoziationen wecken. Es suggeriert ökumenische Weite, dabei geht es eher um ein bestimmtes christliches Profil und weniger um die Anerkennung von Vielfalt. Vor allem dann, wenn Vertreter evangelikaler oder pfingstlich-charismatischer Bewegungen dazu neigen, ihre Glaubensform absolut zu setzen und nur evangelikal orientierte Gläubige als Christinnen und Christen anerkennen, provozieren sie Vorbehalte und Unbehagen. Reformatorisch geprägte Theologie anerkennt, dass es Vielfalt und Unterschiedlichkeit von authentischen christlichen Lebens- und Frömmigkeitsformen gibt.


Verhältnisbestimmung zur reformatorischen Theologie

Fundamentalistische Bewegungen beantworten die Frage nach christlicher Identität hauptsächlich und primär durch Abgrenzung - antipluralistisch, antihermeneutisch, antifeministisch, anti®evolutionistisch - bei gleichzeitiger Aufrichtung starker "patriarchalischer" Autorität. Der Evangelikalismus will stärker positiv arbeiten und nicht nur negativ auf die moderne Gesellschaft reagieren. Im christlichen Fundamentalismus und Evangelikalismus kommen Aspekte zum Tragen, die den Protestantismus von Anfang an bestimmt haben: Die Orientierung am Wort Gottes (sola scriptura), die Konzentration auf das Elementare und Fundamentale, das unbedingte Vertrauen auf den einen Gott, der sich in Christus den Menschen zuwendet. Fundamentalismus und Evangelikalismus rezipieren diese Anliegen in je besonderer Weise. Wie verschieden die Rezeption erfolgen kann, zeigt die im deutschsprachigen Bereich intensiv geführte Debatte über die Frage der Bibeltreue verschiedener evangelikaler Ausbildungsstätten.

Der Fundamentalismus beantwortet die offenen Fragen protestantischer Lebens- und Glaubensgestaltung in einer verzerrenden Weise, indem etwa die wahre Auslegung der Bibel durch ein Verbalinspirationsdogma gesichert werden soll. Faktisch wird damit die Unverfügbarkeit des göttlichen Wortes eingeschränkt. Die Freiheit im Umgang mit der Bibel und der historischen Wissenschaft wird verleugnet. Stilfragen werden mit kanonischen Fragen verwechselt.

Beide Bewegungen, der christliche Fundamentalismus wie der Evangelikalismus, haben von Anfang an den Anspruch erhoben, das Erbe der Reformation treu zu bewahren, auch und gerade in seiner Auffassung von der Bibel. Im Mittelpunkt theologischer Auseinandersetzung werden insofern immer auch Fragen der Bibelhermeneutik zu stehen haben. Eine theologische Kritik fundamentalistischer Strömungen wird deutlich machen müssen, warum ihre Denkformen und ihre Praxis zentrale Anliegen des christlichen Glaubens verfehlen. Bereits die so genannten fünf fundamentals, auf die sich die anfängliche christlich-fundamentalistische Bewegung bezieht, artikulieren in der Themenauswahl das christliche Glaubensverständnis reduktionistisch. Sie beziehen sich auf das Bibelverständnis und das Verständnis Jesu Christi, bringen jedoch nicht die Fülle des christlichen Glaubens in seiner trinitarischen Struktur zur Geltung.

In der Frage der Begründung der Glaubensgewissheit differieren reformatorisches und fundamentalistisches Bibelverständnis an einem entscheidenden Punkt. Die reformatorische Theologie verzichtet darauf, die Verlässlichkeit des göttlichen Wortes durch ein Verbalinspirationsdogma zu sichern. Ebenso verneinte sie eine prophetische Unmittelbarkeit, die sich vom Wort der Schrift und den äußeren Mitteln göttlicher Gnadenmitteilung loslöst, und bestand auf der Wortbezogenheit des Geistwirkens. Gegenüber einem Wortfundamentalismus ist hervorzuheben, dass es Gottes heilvolle Nähe in seinem Wort nur in gebrochenen und vorläufigen Formen gibt. Die Bibel ist weder in den zentralen reformatorischen Bekenntnistexten noch in den altkirchlichen Symbolen Gegenstand des Heilsglaubens. In der Bibel lässt sich Gott durch Menschen bezeugen und spricht durch die fehlerhafte Grammatik menschlicher Sprache. Deshalb gibt es kein beweisbares, kein sichtbares Wort Gottes. Im christlichen Zeugnis wird der Unterschied zur Wahrheit, die es bezeugt, gewahrt. Das göttliche Wort gibt es nicht pur, es verbirgt sich im unzulänglichen Menschenwort und lässt sich darin zugleich finden. Fundamentalistische Strömungen leugnen solche Spannungen, sie ersetzen Gewissheit durch Sicherheit und lassen sich von einer Vollkasko-Mentalität beherrschen, die die Wahrheit des Glaubens an den dreieinigen Gott der Anfechtung entzieht.


Zwischen Fundamentalismus und Relativismus

Das Erstarken evangelikaler und fundamentalistischer Strömungen deutet darauf hin, dass der Nachweis von Modernitätsverträglichkeit als Zentrum christlicher Identitätsbestimmung nicht mehr ausreicht. Zahlreiche Ausdrucksformen von Moderne und Postmoderne und kirchliche und theologische Arrangements mit ihnen sind in die Krise geraten. Aufgabe für eine auf die Zukunft orientierte Theologie und Kirche kann nur sein, fundamentalistische Ideologisierungen der eigenen Glaubensbasis ebenso zu vermeiden wie eine Kapitulation vor den Dogmen gesteigerter Säkularität, die jeden religiösen Wahrheitsanspruch unter das Fundamentalismusverdikt stellt. Die evangelischen Kirchen und Gemeinden können in Treue zum reformatorischen Erbe einen Weg gehen zwischen Relativismus und Fundamentalismus und ihre Wahrheits- und Glaubensgewissheit verbinden mit Dialogbereitschaft und Hörfähigkeit. Sie können Fundamente haben, ohne fundamentalistisch zu sein.



{*} Dr. Reinhard Hempelmann, Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Berlin








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