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Schwärmerei: Wie das Kreuz Christi aus der Mitte gerückt wur


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Rolf

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© Institut für Reformatorische Theologie gGmbH






Schwärmerei: Wie das Kreuz Christi aus der Mitte gerückt wurde





Bernhard Kaiser


(zuerst erschienen in Bibel und Gemeinde 91 [1991], S. 54-65)


1. Einleitung und Definition

Das besondere Kennzeichen der Schwärmerei, das in diesem Aufsatz dargestellt wird, soll
verdeutlichen, welches die eigentliche Stoßrichtung schwärmerischen Denkens ist, nämlich
die Relativierung der Bedeutung des Werkes Christi. Der Schwärmerei unterliegen charakteristische
Grundannahmen, deren Wurzeln im antiken, griechisch-idealistischen Denken liegen.
Die Aufnahme dieses Denkens in die Theologie bzw. in den Glauben der Gemeinde hat
weittragende Folgen für alle Bereiche des christlichen Glaubens. Weil dieses antike, griechische
Denken die Kirche in ihrer Geschichte immer begleitet, ständig angefochten und nicht
selten überfremdet hat, gibt es Schwärmerei nicht erst seit dem Anfang unseres Jahrhunderts,
als die Wogen pfingstlerischer Frömmigkeit die Gemeinschaften und Gemeinden überschwemmten.

Bekanntlich hat sich schon die Reformation mit den „Schwärmern“ auseinandergesetzt.
Wir definieren zunächst den Begriff „Schwärmerei“ und beginnen unsere Darstellung mit
der biblisch-reformatorischen Lehre vom Menschen und seiner Rechtfertigung. Sie bildet den
Hintergrund, von dem sich die Schwärmerei abhebt. Des weiteren wird die Schwärmerei an
verschiedenen Beispielen der Geschichte dargestellt. In einem abschließenden dogmatischen
Teil werden die wesentlichen Linien schwärmerischen Denkens im Licht der Schrift bewertet.
Das diesem Aufsatz zugrundeliegende Verständnis der Schwärmerei besteht in der Annahme,
daß der Mensch oder der Christ ganz oder teilweise gottesunmittelbar oder göttlich
ist. Im besonderen sieht die Schwärmerei den Christen in seinem Wesen oder in seinem verborgenen
Inneren als wesentlich göttlich an. Er soll aufgrund dieser inneren Neuheit in seiner
diesseitigen, geschöpflichen Wirklichkeit, in dem, was er hier im Leben aus sich heraus ist
und kann, geistlich, heilig und gerecht sowie zu geistlichem Handeln fähig sein.

2. Die reformatorische Lehre vom Menschen und seiner Rechtfertigung

Ein entscheidender Bestandteil der reformatorischen Theologie ist die Einsicht in die totale
Sündhaftigkeit des Menschen. Der Mensch ist als ganzer Sünder, und zwar innerlich und äußerlich.
Um der Gerechtigkeit Gottes willen, die den Tod fordert, steht die Schöpfung und mit
ihr auch der ganze Mensch unaufhebbar im Tode. Das heißt, daß Gott das, was er zum Tode
verurteilt hat, auch wirklich tötet, und es erst dann wieder auferweckt. Konkret geht es den
Reformatoren im Einklang mit der Schrift nicht um eine Reparatur des gefallenen Menschen,
sondern um die tatsächliche Vollstreckung des Gerichts über ihm und seine wirkliche Neuschöpfung
– beides in Christus, der stellvertretend für alle starb und auferweckt wurde. Dies
bedeutet für den Menschen, daß er, sofern er zu dieser gefallenen Schöpfung gehört, auch
tatsächlich und leibhaftig sterben muß, um dann durch Christus in neuer Leiblichkeit auferweckt
zu werden.

Damit ist zugleich gesagt, daß der Mensch nicht darin gerechtfertigt ist, daß er in diesem
Leben effektiv gerecht sein und die vor Gott geltende Gerechtigkeit wirken muß. Selbst wenn
er es wollte, wäre es ihm unmöglich, denn er ist fleischlich, und daher zu schwach, um eine
von Gott gegebene Sollordnung zu erfüllen. Dies gilt auch vom Christen, denn die Gerechtig
keit, die er vorstellt, ist unvollkommen gegenüber dem Anspruch des Gesetzes Gottes. Wollte
Gott wirklich das prämieren, was der Christ leistet, wäre er genötigt, mit den Rechtsforderungen
seiner göttlichen Gerechtigkeit Kompromisse zu machen. Selbst wenn der Christ durch
den Glauben die Sünde überwindet, was nach der Schrift das Normale ist, ist die Sünde trotzdem
noch da und charakterisiert seine diesseitige Wirklichkeit nach innen und außen. Fleischliches
Denken, sündiges Begehren und konkrete Fehltritte lassen erkennen, daß die Lebenswirklichkeit
des Christen immer noch von der Sünde gezeichnet ist.

Die Sünden des Christen sind nicht einzelne, vorübergehende Akte, gegenüber denen er „an sich“ ein heiliges Individuum
wäre und die er nur von Zeit zu Zeit täte, um sie dann sofort wieder zu lassen, sondern
diese Akte sind Ausdruck seines gefallenen Wesens, das dreißig Jahre nach der Bekehrung
nicht besser ist als am Vorabend derselben.

Daher hat die reformatorische Theologie gemäß der Schrift mit Nachdruck betont, daß
Christus unsere Gerechtigkeit ist (1Kor 1,30). Der Grund liegt in der Tatsache, daß er allein
Gottes Gesetz durch seinen aktiven Gehorsam sowie in besonderer Weise als Stellvertreter
der vielen im Tragen und Erleiden des Fluches über den Sündern (Röm 10,4; Gal 3,13) vollkommen
erfüllt hat. Ebenso wird deutlich gemacht, daß die Rechtfertigung sowie die Versöhnung
des Sünders im Blut Christi geschehen sind (Röm 5,9.19; 2Kor 5,19; Eph 1,7). Das bedeutet,
daß die Gerechtigkeit Gottes in Christus - und nur in ihm - wirklich und vollkommen
vorhanden ist.

Entscheidend ist nun die die Beantwortung der Frage, wie diese uns von Gott in Christus
bereitete Heilswirklichkeit zu uns kommt. Folgende Alternativen stehen hier zur Debatte:
Der reformatorischen Ansicht zufolge geschieht die Heilsmitteilung an den Menschen allein
durch den Glauben, wodurch die Vollkommenheit und Abgeschlossenheit des Werkes
Christi klar gewahrt bleiben und das „Christus allein“ einsichtig ist. Entsprechend dem Urteil
Gottes wird diese Gerechtigkeit dem Sünder zugerechnet, und zwar jedem, der von der eigenen,
unvollkommenen Lebenswirklichkeit wegsieht und an Jesus glaubt, indem er darauf vertraut,
daß die Aussage des Evangeliums für ihn gilt. Dabei ergibt sich ein weiterer Aspekt:

Geschieht die Heilsmitteilung allein durch den Glauben, dann ist eingeschlossen, daß Christus
mit allen seinen Heilsgaben im Heiligen Geist, d.h. in, mit und unter dem inspirierten biblischen
Wort zu uns kommt. Das bedeutet, daß die Heilige Schrift zur Heilsmitteilung genügt
und das reformatorische „allein die Schrift“ zutiefst Heilsbedeutung hat und nicht nur auf eine
formale Schriftautorität weist.

Nach anderer Ansicht geschieht die Heilsmitteilung in Gestalt einer in Christus begründeten
Bewegung des Heiligen Geistes am Menschen, durch welche er innerlich erneuert wird zu
einem in sich geistlichen Wesen. Insofern hierbei eine Bewegung des Geistes neben oder über
dem Wort notwendig ist, ist das reformatorische „allein durch die Schrift“ verlassen. Das
Wort müßte mehr tun, als bloß zu informieren, es müßte eine spezifisch mystische Wirkweise
haben, die über die Ebene der wörtlichen Mitteilung hinausgeht, oder der Heilige Geist müßte
zur Heilsvermittlung neben dem Wort noch auf einem anderen, direkten Weg zum Menschen
kommen.

Die reformatorische Theologie hat daran festgehalten, daß nur auf dem Wege Wort-Glaube
Heilsmitteilung geschieht. Luther hat dies in der Auseinandersetzung mit den Schwärmern in
Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift (Gal 3,2.5) betont. Neben dem Glauben, den sich
das Wort beim Menschen schafft, findet keine weitere, unmittelbare Geistbewegung statt,
weil das Heil im stellvertretend gekreuzigten und auferstandenen Herrn schon vorhanden ist.

Alles weitere Wirken des Heiligen Geistes, etwa im Verleihen seiner Gaben, geschieht nach
Maßgabe und im Dienste des Glaubens – der Auferbauung der Gemeinde – und nicht anstelle
des Glaubens. Daher würdigt nur der Glaube die Wirklichkeit recht, nämlich einerseits die
Wirklichkeit der Sünde beim Menschen, und andererseits die Wirklichkeit der vollkommenen
Gerechtigkeit in Christus. Dabei ist der Glaube nicht untätig, sondern hat seine leibliche Gestalt
im Werk der Liebe. Durch den Glauben versagt der Christ seinem „Fleisch“, in welchem
nichts Gutes wohnt, das Recht auf die Verwirklichung seiner Begierden, und zwar mit Recht,
weil das Werk Christi die Rechtsgrundlage dieses Glaubensaktes ist. Auf dieser Grundlage
gibt der Christ seinen Leib dem Herrn hin, um in der Gerechtigkeit zu wandeln. Durch den
Glauben hat der Christ teil an der Wirklichkeit und Kraft, die in Christus ist, so daß er in der
Heiligung wandeln kann. Gleichwohl aber ist er nicht an dem Geschehen in seinem eigenen
Leben orientiert, sondern an der vollbrachten Heilstat in Christus. Dies ist gerade das Wunder,
das der Heilige Geist vollbringt, wenn er den Sünder durch das Wort zum Glauben führt:

Obwohl der Glaube eine menschliche Tätigkeit ist und Werke hervorbringt, empfiehlt er sich
mit diesen Werken oder seiner Glaubenstätigkeit nicht selbst, sondern vertraut schlicht darauf,
daß ausschließlich Christi Werk seine Gerechtigkeit ist.

Hier sehen wir das Problem, um das es geht: Wenn neben dem, daß der Heilige Geist den
Menschen zum Glauben führt, eine weitere Operation des Geistes an ihm notwendig wird,
wird das Werk Christi aus der Mitte gerückt. Es entsteht ein zweites Zentrum, an dem das
Interesse klebt, nämlich ein Geschehen am oder im Menschen, anhand dessen er seinen Heilsstand
und seine Gewißheit ablesen möchte. Mit dem Geschehen am Menschen bzw. durch
den Menschen tritt er selbst wieder in den Vordergrund. Ohne das Geschehen bei ihm ist dann
die Heilswirklichkeit nicht vollkommen und dem Glauben der Grund entzogen, auf ein vollkommenes
Werk zu vertrauen. Das biblische „allein durch den Glauben“ wird damit kompromittiert
durch die Werke, Erlebnisse oder Seelenzustände, die herbeigeführt werden müssen.

3. Schwärmerei in der Geschichte

3.1. Katholizismus und Schwärmertum - trotz der Gegensätze strukturelle Gleichheit
Der Katholizismus vertritt nun gerade diese Ansicht, daß das Werk Christi nicht außerhalb
des Menschen bleibe, sondern er akzentuiert das schöpferische Ankommen Christi beim Menschen.

Dabei argumentiert er vordergründig in einer Weise, die ganz im Sinne der Schrift zu
sein scheint. Es wird etwa gefragt, ob das Werk Christi so unfruchtbar sei, daß es den Gläubigen
nicht neuschaffend berühre. Die reformatorische Vorstellung von Christus, der im Himmel
vor dem Forum Gottes unsere Gerechtigkeit ist, erscheint ihr, weil sie offenbar keinen
wesentlichen, also neues Wesen schaffenden Einfluß auf die geschöpfliche Wirklichkeit habe,
verdächtig. Entsprechend wird argumentiert, daß eine wirkliche Neuschaffung stattfinde, daß
die neue Kreatur im – oder zumindest am – diesseitigen Menschen Wirklichkeit werde. Dies
geschehe auf sakramentalem Wege durch die Taufe, bei welcher der Mensch die theologischen
Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung erhalte, die fortan sein Wesen kennzeichnen
und als Veranlagung in seiner Seele Platz fänden. Der Mensch sei also nach dem Empfang
des Sakraments ein anderer als vorher, denn er sei durch die Taufe wiedergeboren. Dies habe
zur Folge, daß der Mensch nun einen neuen habitus besitze, eine Fähigkeit oder Eigenschaft,
die ihm den Wandel in der Gerechtigkeit ermögliche, so daß die Werke des Christen nichts
anderes sind als eine Frucht dieser in ihm wesentlich vorhandenen Wirklichkeit.

Das gleiche forderten auch die Schwärmer zur Zeit der Reformation. Freilich war ihre Kritik
an der sittlichen Laxheit der reformatorischen Volkskirchen ebenso wie die Frage nach
den Früchten des Glaubens berechtigt. Doch war ihnen dabei das historische Werk Christi
nicht genug. Sie suchten die Versichtbarung desselben bei den Christen. Andreas Bodenstein
aus Karlstadt (gest. 1541), ein früher Fakultätskollege Luthers, lehrte, daß Gott schöpferischer
Wille sei. Diesem Willen stehe der sündige Wille des Menschen entgegen. Um von der Sünde
loszukommen, müsse der Einzelne seinen Eigenwillen unterdrücken. Dies geschehe zunächst
durch „Entgrobung“, durch das Abtun der groben Sünden, und in einem zweiten Schritt durch
„Gelassenheit“, den Verzicht auf die natürlichen Lebenswünsche, durch Meditation über gute
Vorsätze und die Zerknirschung über der Sünde. In dieser Bewegung sah er die Wirksamkeit
der Gnade Gottes, die den Menschen dahin führe, Gottes Gebot zu lieben. Thomas Müntzer
(gest. 1525) geht darüber hinaus, indem er im höchsten Stadium der Gelassenheit übernatürliche
Erscheinungen, Träume und neue Offenbarungen wahrnimmt.

Es ist offensichtlich, daß in diesem Denken Christus, seine Person und sein Werk, zurücktreten.
Er ist nur noch Vorbild im Leiden. Die Wirklichkeit des Heils besteht nicht mehr in
Christus allein, sondern in der realen Erneuerung des Menschen. Karlstadt blieb dabei stehen
und praktizierte den Rückzug: Er schätzte die Gelehrsamkeit gering, verließ seinen Beruf als
akademischer Lehrer und Pfarrer und wurde Bauer. Er legte seinen Doktortitel ab und ließ
sich „Bruder Endres“ nennen, um in dieser selbsterwählten, formal-gesetzlichen und unevangelischen
Demut die Wirklichkeit seines Heils zu schaffen. Müntzer radikalisierte die Forderung
der Erneuerung des Menschen in Richtung der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft,
weshalb er sich im Bauernaufstand in führender Stellung engagierte.

Bei aller äußerlichen Verschiedenheit von Katholizismus und Schwärmertum – man denke
hier an die gewaltsame Abschaffung formal-äußerlicher katholischer Praktiken wie Kelchentzug,
Bilder, Heiligenverehrung etc. bei Karlstadt – ist doch eine grundlegende Gleichheit beider
festzustellen: beide sehen das Heil nicht in Christus als wirklich vollbracht an, sondern
wollen es hier und jetzt in leiblicher Gestalt gegenwärtig erstellen und erleben.

Welche gemeinsame Denkvoraussetzung verbindet Katholizismus und Schwärmertum? Im
Hintergrund steht das mittelalterliche und also im Katholizismus gängige Menschenbild. Der
Mensch ist demzufolge nicht ganz gefallen, sondern in seinem Inneren ist ein gottverwandter
Funke, der nur zu neuem Leben entfacht werden muß. Dieser Funke wird meist in der Innerlichkeit
des Menschen gesehen. Dies kann sowohl der Bereich seines Denkens, aber auch der
Bereich seines Willens, seiner Motive und seines Gefühls sein. Es spielt hierbei keine Rolle,
ob zu dieser inneren Erneuerung entsprechend römischer Lehre Sakramente notwendig sind,
oder, wie bei den Schwärmern, eine unmittelbare Begegnung mit dem Geist. Im Blick auf das
Tun des Menschen läuft es bei beiden darauf hinaus, daß der Mensch durch entsprechende
Anstrengungen die Verwirklichung seines Heils bewerkstelligen muß.

Die Wurzeln dieses Denkens liegen in der griechischen Antike. Sowohl Plato als auch sein
Schüler Aristoteles verstanden die Vernunft als den Ort im Menschen, an dem dieser unmittelbar
zur jenseitigen Welt war. Denken bedeutete für sie, am eigentlichen Sein, an einer Art
unmittelbaren und unsichtbaren Gotteswirklichkeit teilzuhaben. Diese spekulative Denkbewegung
führte in den Bereich der Mystik, der begrifflosen, unaussprechlichen Einheit mit
Gott. So wurde in der vorchristlichen Zeit und außerhalb der speziellen Offenbarung Gottes
ein heidnischer Versuch unternommen, den Weg des Menschen zu Gott bzw. zur Seligkeit zu
beschreiben. Aber es ist ein Weg, der die Innenseite des Menschen dem Sündenfall entklammert,
und ein Weg, den der Mensch von sich aus gehen kann, so daß es an ihm liegt, sich aufzumachen,
um seine Seligkeit zu erlangen.

Die Kirche hat schon früh dieses griechische Denken aufgenommen und sich mit ihm auseinandergesetzt.
Von Wichtigkeit ist hierbei, daß der Kirchenvater Irenäus (gest. 202(?) n.C.)
der Ansicht war, daß der Mensch zwar durch den Sündenfall in Mitleidenschaft gezogen worden
sei, aber unter anderem in seiner Vernunft doch nach wie vor die Gottesbildlichkeit wahrzunehmen
sei. Auch Augustin (gest. 430) hat, besonders unter dem Einfluß des Neuplatonismus,
den Menschen im Bereich seiner Seele als gottesunmittelbar gesehen. Damit wurde die
folgenreiche Ansicht, daß die Innenseite des Menschen immer schon auf Gott hin angelegt
sei, in der Kirche heimisch. Auf dieser Grundlage konnte sowohl die mittelalterliche Mystik
gedeihen, welche auf dem Wege verinnerlichter Frömmigkeit das Einswerden mit Gott, die
Gottesgeburt in der Seele, suchte, als auch die mittelalterliche Theologie mit ihrer Annahme,
daß der Mensch in seinem Denken immer schon auf Gott eingespurt bzw. göttlich sei.

Die Kirchen der Reformation, die zunächst sehr isoliert die rechte Lehre betonten, wurden
im Gegenzug zu einer als tot verstandenen Orthodoxie und einem veräußerlichtem Gottesdienst
von Leuten wie Johann Arnd, der im Grunde reformatorisch denken wollte, zu einer
neuen Betonung der Herzensfrömmigkeit gemahnt. Doch mit dieser Betonung der rechten
Frömmigkeit ging die Aufnahme mystischer Kategorien Hand in Hand, und bald war das, was
bei den Reformatoren vom Glauben getragen war, zu einer besonderen, inneren Herzensregung
geworden, die nicht mehr unter dem Oberbegriff Glauben beschrieben werden konnte.
Vielmehr wurden zu deren Beschreibung wieder die alten, griechisch-mystischen Kategorien
aufgenommen, wie etwa die der Gottesgeburt in der Seele oder der verborgenen Einheit der
Seele mit Christus oder des Eintauchens der Persönlichkeit in die Gottheit. In größerem oder
geringerem Maße war der Pietismus immer wieder von solchen Vorstellungen durchdrungen.
Besonders deutlich wurden diese bei V. Weigel, J. Böhme, G. Arnold und Fr. Chr. Oetinger,
die offen mystisches bzw. platonisches Gedankengut aufnahmen.

3.2. Schleiermacher und das platonische Denken
Eine sehr gezielte und theologisch äußerst wirksame Aufnahme platonischen Denkens geschah
bei D.F. Schleiermacher (1768-1834). Die Zeit vor ihm, nämlich die Aufklärung, hatte
deutlich gemacht, daß die selbständige menschliche Vernunft in ihrer Beschränkung auf das
Diesseits den Glauben unterhöhlen kann, indem sie seine geschichtlichen Grundlagen radikal
in Frage stellt. Auf äußere, geschichtliche, von dürren menschlichen Worten berichtete Tatsachen,
also auch auf das geschichtliche Werk Christi, meinte man nicht mehr bauen zu können.
Schleiermachers Ansicht nach ist es vielmehr das menschliche Bewußtsein, in welchem Gott
sich manifestiert. So erlaubte sein Ansatz, in der Innerlichkeit, im frommen Bewußtsein bzw.
im Gefühl, einen Freiraum für die Religion zu sehen. Erlösung geschieht hier nicht eigentlich
am Kreuz Christi, sondern in der „Aufnahme der Gläubigen in die Kräftigkeit des Gottesbewußtseins
des Erlösers.“ Es geht also darum, daß jenes Gottesbewußtsein Jesu auch in den
Menschen erzeugt wird, so daß sie das „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“ von Gott
haben.

So war es nicht notwendig, auf die historischen Fakten zurückzugreifen und den Glauben
an sie zu binden. Ein Geschehen beim Menschen trat an dessen Stelle. Der reformatorische
Glaube, der auf die Heilswirklichkeit im Gekreuzigten und Auferstandenen abstellt, wurde
verkehrt zur „Gläubigkeit“, zu einer Bewegung beim Menschen, die für sich genommen
ohne historische Vorgabe und ohne Heilige Schrift auskommen kann.

Die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts nahm ebenso wie Teile des konfessionellen
Luthertums dieses Denken auf. Diese beiden interessieren uns besonders, denn unser
evangelikales Denken wird vorwiegend aus diesen Quellen gespeist. So heißt es bei dem Erweckungstheologen
F.A.G. Tholuck (1799-1877), „… daß zwar bei Gott jede Sünde Vergebung
erlangt, sobald der Mensch sich davon abkehrt, aber von seiten des Menschen ist keine
wahre innerliche Abkehr davon möglich, wenn er nicht den Frieden mit Gott hat. Und hier
tritt nun die geschichtliche Offenbarung der Vergebung aller Sünden im Christentum ein.

Diese gewährt dem Sünder, während er noch gottlos ist, den vollkommenen Geistesfrieden
samt der Liebe zu Gott. So beginnt der Sünder wieder einen Herzensumgang mit seinem Gott,
empfängt die heiligenden Lebenskräfte des göttlichen Lebens, und wird durch diese innerlich
wahr und gut“ (Tholuck, A., Die Botschaft vom Versöhner. Hg. v. R. Schinzer, Wuppertal
1977, S. 72). Das heißt, daß am Anfang des Christseins die psychologische Erfahrung des
Gottesfriedens steht, der die Vergebung der Sünden begleitet, und daß im Anschluß daran die
eigentliche Gerechtmachung erfolgt, durch die der Mensch vor Gott akzeptabel wird. Tholuck
lehnt ausdrücklich die biblische Aussage ab, Jesus habe durch sein stellvertretendes Opfer die
Sünde des Menschen gesühnt und sein Leben als Lösegeld hingegeben, um den Menschen aus
dem Fluch und dem Zorn Gottes zu befreien. Überhaupt übersieht er, daß Jesus der Rechtsforderung
des Gesetzes Genüge getan hat, obwohl Paulus diesen Sachverhalt an verschiedenen
Stellen klar herausstellt (Röm 3,21-31; Gal 3,13) (Tholuck, ebd., S. 74-85). Es ist offensichtlich,
daß bei Tholuck der Hauptakzent auf dem sich im Inneren des gläubigen Menschen
vollziehenden Geschehen liegt, und die Schrift soll dieses bewirken.

Dieses Denken stand im Hintergrund der Erweckungsbewegung im vergangenen Jahrhundert.
Zweifellos wurde es immer wieder durch die Aussagen der Reformation korrigiert, so daß die
Botschaft von der Rechtfertigung aus Gnaden durch den Glauben nicht verstummte, doch
kennzeichnend war und blieb die Annahme einer realen Gerechtmachung durch ein unmittelbares
Wirken des Heiligen Geistes am inneren Menschen. Damit war vor allem der Boden
bereitet für den Einbruch der Pfingstbewegung.

3.3. Die Schwärmerei im Denken des 20. Jahrhunderts
3.3.1. Die Pfingstbewegung
Wenn die Heilsmitteilung nicht oder nicht nur auf dem Wege Wort-Glaube geschieht, dann
muß eine weitere Schiene angenommen werden, auf der der Heilige Geist zum Menschen
kommt, nämlich die der unmittelbaren Berührung des inneren Menschen durch den Heiligen
Geist. Dies aber beinhaltet, daß die begrifflich definierte Sphäre des Wortes und der Erkenntnis
verlassen und die Wirksamkeit des Heiligen Geistes in mystischen Kategorien gesehen
werden. Damit ist die Tür für die Annahme geöffnet, daß besondere Erscheinungen wie Zungenrede,
Prophetie, Heilungen, innere Stimmen, Träume, Visionen und andere Manifestationen
des Übersinnlichen die eigentlichen Wirkungen des Heiligen Geistes seien und daß erst
das Zungenreden der Beweis für das Erfülltsein mit dem Heiligen Geist sei. Wir betonen zugleich,
daß dies nur möglich war unter der Voraussetzung einer falschen, katholisierendschwärmerischen
Rechtfertigungslehre. Wir sehen aber, daß nicht erst die Pfingstbewegung
die Schwärmerei erfunden hat, sondern die Grundanschauungen in den Kreisen, an die sich
die Bewegung wandte, waren schon schwärmerisch, obwohl noch keine Zungenbewegung
bekannt war.

3.3.2. Die „moderne“ Theologie
Auch im Blick auf die neuere Theologie, die sich mit Namen wie Barth, Bultmann, Gogarten,
Bonhoeffer, Käsemann, Ebeling, Joest u.a. verbindet, kann aufgrund der dargestellten
Sachverhalte von Schwärmerei gesprochen werden. Sie kann einmütig die historischen Tatbestände
immer wieder für unbedeutend erklären und den Tod und die Auferstehung Jesu, die
nach der Schrift der tragende Grund unseres Glaubens sind und die Wirklichkeit des Heils
darstellen, in ihrer Bedeutung an den Rand drängen. Entscheidend ist für die existentiale
Theologie, daß der Mensch in seiner eigenen Existenz von der biblischen Botschaft betroffen
wird. Es soll eine Bewegung an der menschlichen Existenz stattfinden, die etwa darin besteht,
daß sich der Mensch auf einmal angeredet oder angenommen fühlt oder sich in seiner Selbständigkeit
und Ichbezogenheit angegriffen sieht. Dieses Ereignis ist nicht näher definierbar,
was damit zusammenhängt, daß diese Bewegung letztlich mystischer Art ist und sich in einem
Bereich abspielt, der oberhalb der geschöpflichen Größen Wort und Glaube liegt. Man kann
zwar die aus einem solchen Akt des Betroffenseins resultierende Bewegung Glauben nennen,
jedoch ist damit nicht eigentlich der Glaube gemeint, der mit dem Wort gerade die Tatsache
des Heilswerkes Christi annimmt. Dieser Sprung in die Mystik ist die Schwärmerei der modernen
Theologie. Hier ist der Mensch unmittelbar zu Gott, weil er den biblischen Weg der
Heilsmitteilung durch Wort und Glauben verläßt. Hier, also in diesem Sprung, geschieht die
eigentliche Begegnung mit der jenseitigen Welt, die Berührung mit dem neuen „Äon“, der
Christus heißt, wobei es überhaupt nicht entscheidend ist, daß dieser Himmelschristus derselbe
ist, der gekreuzigt, auferstanden und zum Himmel gefahren ist.

Wieder wird ersichtlich, daß mit dieser Gesamtkonzeption auch das Kreuz Christi aus der
Mitte gerückt worden ist. Bei alledem kann in tönenden Worten von „Nachfolge“ geredet
werden und damit auch von der Kreuzeserfahrung. Die lutherisch geprägte Theologie hat in
diesem Zusammenhang von der „Theologie des Kreuzes“ gesprochen. Sie meint damit aber
nicht das Kreuz Christi als den Ort, an dem die Sühne unserer Sünden geschehen ist. Das
Kreuz ist vielmehr Symbol dafür, daß die Gotteswirklichkeit nicht in der Gestalt von offenbarer
Herrlichkeit, sondern als Anfechtung, Leiden, Zweifel, Ungewißheit und Verzweiflung,
oder auch in politischer Dimension in der Gestalt des Klassenkampfes und der Revolution
erscheint, eben in Dingen, die den Menschen und seine Existenz besonders betreffen.

3.3.3. Der Neo-Evangelikalismus
Auch im evangelikalen Glauben der Gegenwart tritt das schwärmerische Element immer
mehr in den Vordergrund. Hier ist etwa der Begriff „Wiedergeburt“ zu nennen, der nicht in
biblischen Rastern verstanden wird, sondern in solchen, die sich von Schleiermacher und der
Mystik herleiten. Dementsprechend bedeutet „Wiedergeburt“ die innere, zumeist psychologisch
verstandene Erneuerung analog zu dem, was Tholuck und die Erweckungstheologie
schon sagten. Nach der Schrift aber hat der Mensch die Wiedergeburt durch den Glauben an
Christus (Joh 3,16; 20,31; 1Petr 1,3.23). Das neue Leben tritt darin in Erscheinung, daß der
Mensch dem Evangelium glaubt und im Glauben wandelt. Auch das biblische Bild von der
Aufnahme Christi in Joh 1,12 – meist in Verbindung mit Ofb 3,20 – wird im schwärmerischen
Sinne mißbraucht. Es wird so verstanden, daß man – etwa in der Gestalt eines Gebetes – Jesus
ins Herz aufnimmt und alsdann glaubt, daß er die Bitte erhört habe und nach seiner Verheißung
nun tatsächlich ins Herz eingetreten sei. Die erwartete Folge der Gegenwart Jesu im
Leben ist die in den Tiefen der Psyche sich vollziehende Umgestaltung des Wesens. Gedacht
ist hierbei an eine neue Motivation für den Wandel, eine neue Liebe und neue Spontaneität.

Es ist klar, daß dann der Akzent wieder auf dieses aktuelle, angeblich neugestaltende Wirken
Christi durch den Heiligen Geist fällt. Mit anderen Worten, die Heilswirklichkeit erscheint in
der unmittelbaren Neugestaltung des menschlichen Lebens und Wesens, nicht aber im Kreuz
Christi. Das Werk Christi hat dann nur die Funktion des Ermöglichungsgrundes: Aufgrund
dessen, so wird argumentiert, vergebe Gott uns unsere Sünden, aber gerecht und heilig seien
wir erst, wenn Christus durch seinen Geist in unser Herz eintrete und unser Wesen verändere.

Die biblische Aufforderung, Jesus aufzunehmen, ist damit nicht kritisiert. Nach der Schrift
nehmen wir Christus auf, indem wir glauben, daß er der Christus ist, der König-Priester,
durch dessen Opfer und Herrschaft uns das Heil gegeben ist. Wir nehmen ihn auf, indem wir
glauben, daß er in seinem Werk unsere vor Gott gültige Gerechtigkeit vollbracht und die
Rechtsgrundlage für das Gebet im Namen Jesu, für einen neuen Wandel, für die missionariKaiser,
sche Verkündigung und die endliche Vollendung gelegt hat. Dabei müssen wir bedenken, daß
Jesus mit der Fülle seiner Heilsgaben im Wort des Evangeliums zu uns kommt, so daß die
Schrift zu Recht sagen kann, daß Christus durch den Glauben in unseren Herzen wohne (Eph
3,17; Gal 2,20).

Die im Wort mitgeteilten und im Glauben erkannten und angenommenen
Sachverhalte führen den Christen zum Gebet, zum Bekenntnis des Glaubens vor Gott, zur
Bitte um Vergebung und Hilfe und zum Dank für das vollbrachte Werk. Die Erkenntnis und
der Glaube, daß Jesus der Retter und Helfer ist, gehen dem Gebet voraus, selbst wenn es nur
ein geringer Grad von Erkenntnis und ein zweifelnder Glaube sein sollte. Dort aber, wo die
Aufnahme Jesu durch ein formales Gebet geschieht, auf das der „Glaube“ wie auf eine erfüllte
Bedingung zurücksieht und aus dem er in Verbindung mit einer Verheißung Gottes folgert,
daß Jesus verborgenerweise ins Herz eingetreten sei, ist die Aufforderung zur Aufnahme Jesu
mißverstanden. Hier ruht der Glaube nicht im vollbrachten Werk Christi und vertraut nicht
darauf, daß er in Christus gerechtfertigt und geheiligt ist, sondern er glaubt an die Wirksamkeit
eines formal verrichteten Gebets und an den wirksamen Christus in ihm. Freilich wird
bereitwillig zugegeben und für heilsnotwendig erachtet, daß dieser Christus der von der Jungfrau
geborene, für unsere Sünden gestorbene und am dritten Tage auferstandene Sohn Gottes
ist, aber es ist sehr symptomatisch, daß das Heil nicht als ein im historischen Christus vollbrachtes
gesehen wird, sondern als ein noch in der Existenz des Menschen zu verwirklichendes.

Dabei wird der Heilige Geist im Menschen als Motor verstanden, auf dessen Bewegung
man sich durch „Einübung ins Christentum“, Gebet, Meditation, Pflege des inneren Lebens,
Erfüllung von Bedingungen, missionarische Aktivität u.s.w. einstellen soll. Predigt und Seelsorge
kreisen dann um die Vermittlung des geistlichen „Know how“ und geben Ratschläge,
„wie man's macht“. Es ist damit dem Satan gelungen, das Interesse der Christen von Jesus,
dem Gekreuzigten und Auferstandenen, und seinem Werk, durch welches der Satan besiegt
wurde und das im Glauben erfaßt wird, wegzulenken auf eine christlich aussehende, scheinbar
biblisch begründete Bewegung beim Christen. Gerade darin besteht der Betrug der
Schwärmerei.

Es ist dann konsequent, daß dieser „Christus“ im Christen durch innere Stimmen und übernatürliches
Gedrängtwerden, durch gemeindebildende Dynamik oder mystische bzw. ekstatische
Äußerungen in Erscheinung tritt. So wiederholt sich heute im evangelikalen Raum das,
was vor neunzig Jahren schon einmal geschah: Damals wie heute liegt der Offenheit für das
Übersinnliche gerade die schwärmerische Fassung der Rechtfertigungslehre zugrunde und
Schauwunder, ekstatische Erlebnisse und Zungenrede dringen scheinbar unwiderstehlich und
ohne Hindernis in die Gemeinden ein.

4. Schwärmerei in dogmatischer Hinsicht

4.1. Gottesunmittelbarkeit oder Heilsmittel?
Wir sagten in der einleitenden Definition, daß Schwärmerei von dem Gedanken getragen
sei, der Mensch bzw. der Christ sei ganz oder teilweise gottesunmittelbar. Wir müssen nun
diesen mit der Definition verfolgten und in der Geschichte dargestellten Ansatz dahingehend
weiterdenken, daß hier das Mittel, welches Gott gegeben hat, um sich dem Menschen mitzuteilen,
ausgeklammert oder in seiner Bedeutung gemindert wird. Gott redet aber nicht in
pneumatischer Unmittelbarkeit zu uns und mit uns, denn wir sind noch nicht im Himmel,
sondern auf der gefallenen Erde. Er zeigt sich in dieser gefallenen Welt nicht in offenbarer
Herrlichkeit, weil wir sonst vergehen müßten. Er bleibt berechtigterweise und gnädigerweise
verborgen. Deswegen hat er Mittel und Mittler eingesetzt, durch die er mit den Menschen
kommuniziert.

Diesem Zweck dienten im Alten Testament das Amt des Propheten, des Priesters
und des Königs mit ihrer jeweils besonderen Stellung und Aufgabe. Auch der Neue
Bund besteht im Dienst des einen Mittlers, im historischen Werk Christ. Daher kann es keine
unmittelbare Heils- oder Geisteserfahrung geben, die dem einmaligen Werk Christi nebenoder
nachgeordnet wäre. Es kann sich bei der Heilserfahrung nur um die Teilhabe am gekreuzigten
und auferstandenen Herrn handeln. Dieser aber kommt als der Erhöhte im Heiligen
Geist wiederum nicht in schwärmerischer Unmittelbarkeit zu uns, sondern im Mittel des apostolischen
Zeugnisses von seinem Werk, also im inspirierten biblischen Wort, welches der
Glaube empfängt. Indem der Mensch glaubt, anerkennt er, daß er in sich noch nicht heil ist,
sondern nur im Herrn. Und er vertraut darauf, daß diese in Jesus ergangene Heilszusage vor
Gott hier und dort gültig ist, ja daß die Heilswirklichkeit im gekreuzigten und erhöhten Herrn
genug ist.

Wo aber der Weg Wort-Glaube verlassen wird, steht der Mensch in seiner blanken
Existenz in einer angemaßten, schwärmerischen Unmittelbarkeit zu Gott. Da wohnt Christus
nicht mehr durch den Glauben im Herzen, sondern er ist auf mystischem Wege derart mit dem
menschlichen Herzen einsgeworden, daß der Mensch sich anmaßt, bei sich selbst schon rein,
geistlich und gut zu sein. Gerade dies aber ist ein Ausdruck des sündigen Willens, wie Gott
sein zu wollen. Der Mensch will eben nicht eingestehen, daß er auch in seinem Inneren im
Tode steht und gerichtet werden muß. Luther sagt daher in den Schmalkaldischen Artikeln zu
Recht: „Summa, der Enthusiasmus stecket in Adam und seinen Kindern, von Anfang bis zu
Ende der Welt, von dem alten Drachen in sie gestiftet und gegiftet, und ist aller Ketzerei, auch
des Papsttums und Mahomets Ursprung, Kraft und Macht. Darum sollen und müssen wir darauf
beharren, daß Gott nicht will mit uns Menschen handeln denn durch sein äußerlich Wort
und Sakrament. Alles aber, was ohn solch Wort und Sakrament vom Geist gerühmt wird, das
ist der Teufel“ (Münchener Ausg. III, S. 315).

4.2. Schwärmerei oder Glaube?
Wir betonen, daß der Glaube keineswegs eine bloße Denkbewegung ist, sondern er wird,
weil der Mensch in seinem Denken und Tun einer ist, auch das Verhalten des Christen prägen.
Es ist aber nicht so, daß bei einer Betrachtung des Christen in seiner diesseitigen Gestalt
im Raster des Gesetzes Gottes eine wesentliche, seinshafte Gerechtigkeit feststellbar wäre. Im
Glaubenden stehen Geist und Fleisch feindselig einander gegenüber, und der Christ wird immer
wieder Dinge tun, die er um Christi willen nicht bejahen kann. Die gefallene, fleischliche
Wirklichkeit wird durch den Glauben nicht aufgehoben. Sonst bräuchte Gott über dem Christen
nicht mehr das Todesurteil zu vollstrecken. Aber im Kampf des Glaubens wird der Christ
immer wieder das neue, im auferstandenen und erhöhten Herrn wirkliche und herrliche Recht
beanspruchen, vor Gott in der Gerechtigkeit Christi zu wandeln. Das gegenwärtige Wirken
Gottes im Heiligen Geist besteht also wesentlich darin, den Menschen zur Erkenntnis Christi
zu führen, so daß er durch den Glauben an Christus Heil empfängt. Rechtfertigung und Heiligung,
Führung, Bewahrung, Gebetserhörung und dergleichen empfängt er nur im Namen des
Christus, der ihn mit seiner durch Tod und Auferstehung gewirkten Gerechtigkeit bedeckt.

Hier sind die Heiligung sowie alle christliche Erfahrung Frucht des Glaubens. Im anderen
Falle wird Heiligung zur Selbstverwirklichung und bedeutet praktisch nichts anderes als die
Entwicklung und Pflege eines frommen Innenlebens, welches nicht selten den Wandel im
Heil im Bereich der leiblichen, beruflichen und weltlichen Lebensordnungen vergißt, weil die
leibliche Diesseitigkeit nur die Unterlage ist, auf der sich die innere, psychologische Veränderung
vollzieht. Darin gewinnt auch der Unglaube als Ungehorsam gegenüber Gottes Ordnungen
eine neue Dimension. Was vordergründig wie Frömmigkeit aussieht, ist im Grunde weltflüchtiges
Verleugnen der Herrschaft Jesu.

Das eigentliche Problem, vor dem sowohl fundamentalistische als auch als evangelikale
Christen stehen, ist die Vermischung von Glauben und schwärmerischem Denken. Mit den
traditionellen evangelischen Bekenntnissen wird gesagt, daß der Glaube selbstverständlich
und notwendig sei, jedoch gleichzeitig die Vorstellung geteilt, der auf das Wort hörende und
ihm gehorchende Glaube nicht genüge und eine unmittelbare Berührung unserer Existenz
oder unseres Inneren durch den Heiligen Geist noch erfolgen müsse. Es wird also in der
Heilserfahrung unterschieden zwischen dem Zum-Glauben-Kommen und der „Wiedergeburt“.

Der Glaube wird dabei bloß als intellektuelle Zustimmung zum Wort verstanden, aber
die Wiedergeburt als die eigentliche, innere Berührung mit dem Geist, die Einerschaffung
eines neuen Lebens in der Seele. Dieses ist ein spezifisch schwärmerisches Element selbst im
Umfeld anticharismatischen, formal-bibeltreuen Denkens.

Diese so verstandene „Wiedergeburt“ trägt immer mystische Züge. Sie ist nicht mit Worten
beschreibbar, denn sie geht über das Wort der Schrift hinaus. Die hier wirksam gedachten
Kräfte sind nicht eigentlich redende, sondern mehr motivierende Kräfte. Sie sollen zu einem
heiligen Wandel befähigen und ihn unmittelbar veranlassen. Das klingt zwar biblisch, jedoch
muß gesehen werden, daß diese Kräfte nicht durch den Glauben kommen, sondern eben neben
oder über dem Glauben auf direktem, mystischem Wege. Angesichts dessen spielt es keine
Rolle, ob diese Kräfte an die Kette anticharismatischen Denkens gelegt werden oder ob
man ihnen in Gestalt von Zungenreden, Visionen, inneren Stimmen, Wundergaben, seelischer
Erregung usw. freien Lauf läßt. Die letztgenannten Erscheinungen sind nur mehr eine augenfälligere
Form der Wirksamkeit mystischer Kräfte.

5. Schluß

Wir schließen unsere Ausführungen mit einem Bild: Wir stellen uns die biblische Heilsanwendung
vor als Kreis: Wie vom Mittelpunkt des Kreises viele Strahlen zum Rand des
Kreises führen, so geht von Jesus Christus und seinem vollbrachten Heilswerk im Zentrum
die Fülle der vollkommenen Heilsgaben aus und kommt durch den Glauben zum Menschen.
Damit aber, daß ein weiteres Wirken des Geistes am Menschen dem Wirken Christi zugeschaltet
wird, bekommt der Kreis ein zweites Zentrum und wird zur Ellipse, denn es gehen
nicht mehr alle Heilsgaben vom historischen Christus aus. Im Bereich des einen Zentrums
gelten Wort und Glaube, im Bereich des zweiten Zentrums schwärmerisches Erfahren und
Schauen, das zu einer neuen Werkheiligkeit führt. Somit erkennen wir Schwärmerei als Angriff
auf die Allgenugsamkeit des Werkes Christi, dem wir das biblisch-reformatorische Bekenntnis
zum „Christus allein“ entgegenstellen.
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