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"Niemand hatte den Mut, für mich zu kämpfen"


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Rolf

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ZWANGSEHEN IN GROSSBRITANNIEN





"Niemand hatte den Mut, für mich zu kämpfen"




Von Stefan Marx, London

Eine neue Studie erschüttert Großbritannien: Der Brauch, Teenager in Zwangsehen zu drängen, ist unter Migranten stärker verbreitet als bisher angenommen. Tausende Jugendliche gelten als vermisst - viele von ihnen könnten von ihren eigenen Eltern verschleppt worden sein.

Als die Alten über Noras* Schicksal entschieden, da war sie gerade ein Jahr alt. "Mein Vater hatte meiner Großmutter sein Wort gegeben, die arrangierte Hochzeit durchzuziehen", erzählt die junge Frau aus dem südenglischen Luton. Ihre Eltern mochten den Bräutigam noch nicht einmal.

Doch "niemand hatte den Mut, für mich zu kämpfen", sagt Nora. Und so wurde sie von ihren Eltern noch als Teenager nach Pakistan gebracht und musste dort den ungeliebten Mann heiraten. Während der Hochzeit weinte und schrie ihr Vater vor Verzweiflung – doch sein einmal gegebenes Wort hielt er, auch wenn das seine junge Tochter unglücklich machte.

Noras Fall ist einer von vielen, die jetzt auch in Großbritannien die Aufmerksamkeit auf das Thema Zwangsehen lenken. Die Sozialforscherin Nazia Khanum legte auf 90 Seiten eine Fallstudie aus ihrer Heimatstadt Luton bei London vor. Ein Jahr brauchte sie, um Zugang zu den Betroffenen zu bekommen - viel länger als gedacht: "Ich musste erst ihr Vertrauen gewinnen", sagt Khanum SPIEGEL ONLINE. Als sie jetzt ihre Studie präsentierte, konnte sie sich maximaler Aufmerksamkeit sicher sein: Gerade hatte der für Kinderschutz zuständige Staatsminister Kevin Brennan vor einem Parlamentsausschuss offen gelegt, dass das Problem der Zwangsehen viel größere Ausmaße hat als gedacht.

Hunderte Kinder verschwanden aus den Schulregistern

So verschwanden beispielsweise in der nordenglischen 500.000-Einwohner-Stadt Bradford, in der Muslime die Mehrheit der Bevölkerung stellen, 33 Kinder unter 16 Jahren spurlos, erklärte der Minister den erstaunten Abgeordneten. Ob die Polizei in Bradford nach den Kindern suche, wisse er nicht.

In 14 weiteren Kommunen mit hohem Anteil an Migranten sähen die Statistiken ähnlich aus, so Minister Brown. Insgesamt seien Hunderte von Kindern in Großbritannien aus den Schulregistern verschwunden – Aufenthaltsort unbekannt.

Jetzt herrscht auf der Insel eine rege Diskussion. Es geht um Religion, archaische Familientraditionen und britische Identität. Nahrung erhält die Debatte durch immer neue Statistiken. Die Regierung korrigierte ihre Zahlen über Zwangsehen erst auf 2000, dann auf 3000 Fälle pro Jahr nach oben.

Sozialforscherin Khanum zweifelt selbst diese Statistik an: Allein in Luton riefen jedes Jahr 300 Menschen beim Nottelefon für Opfer von Zwangshochzeiten an. "Wir haben es hier mit etwas zu tun, das im Verborgenen stattfindet", sagt Khanum. Sie schätzt, dass es jedes Jahr bis zu 4000 Fälle landesweit sein könnten - Kinder und Jugendliche, die gegen ihren Willen verheiratet und dazu auch außer Landes gebracht werden.

In 15 Prozent der Fälle werden Jungen zur Ehe gezwungen

Die Forscherin traf Mädchen, die wie Gefangene ihrer eigenen Familie lebten. Auch wenn sie in der Schule bestens voran kamen und sich aufs Abitur vorbereiteten - mit 16 Jahren oder noch jünger wurden sie in die Ehe gezwungen. Khanum berichtet von Kindern, die sich einen schönen Urlaub im Heimatland versprachen.

Doch nach der Ankunft erfuhren sie plötzlich, dass es keine Rückreise gab, weil der Bräutigam schon wartete.

Der Widerstand der Mädchen, sagt Nazia Khanum, werde meist mit Drohungen gebrochen: Die Eltern würden sich ob der Schmach scheiden lassen, die Mutter werde Selbstmord begehen, wenn sich die Tochter der Eheschließung verweigere. Es wird mit Geschenken gelockt, mit Vergewaltigung bestraft. Und: Nicht alle verschwundenen Kinder sind Mädchen. In 15 Prozent der Fälle handelt es sich um Jungen, die in die Ehe gezwungen werden.

Khanum hörte von einem Fall, in dem die Familie eines stark behinderten Jungen eine Braut aus dem Ausland heranschaffte. Erst nach der Ferntrauung traf das Mädchen ihren Bräutigam zum ersten Mal – und war schockiert. "Ihre Schwiegereltern zwangen sie mit unvorstellbarer Gewalt, die Ehe zu vollziehen", berichtet die Forscherin. Der jungen Frau gelang es, in ein Frauenhaus zu fliehen.

"Ich habe nur geheult, selbst auf dem Hochzeitsvideo"

Doch selbst, wenn sich die Frauen aus den Fängen der Familie retten können - die Angst bleibt. Die Studentin Emine* hält sich in Luton versteckt. Sie war mit ihren Eltern in den Urlaub nach Pakistan geflogen. Dort zwangen sie die Eltern in eine Ehe mit einem Mann, der es nur aufs Aufenthaltsrecht in Großbritannien abgesehen hatte: "Ich habe nur geheult", sagt Emine, "selbst auf dem Hochzeitsvideo, aber das war allen egal."

Nach der Hochzeit ließen ihre Verwandten sie wissen, sie sei nun Untertanin ihres Mannes: "Ich musste tun, was er sagte." Erst nach drei Jahren kam sie mit ihm nach England zurück – und trennte sich. Ihr Ex-Mann hat sich damit abgefunden, nicht aber Emines Eltern und der Bruder. Die drohen, sie umzubringen, weil sie "Schande" über die Familie gebracht habe. Emine ist auf die Frauenhilfsvereine in Luton angewiesen. In ihrem alten Freundeskreis ist sie eine Außenseiterin, weil sie ihren Eltern den Gehorsam verweigert hat.


TV-Show "Arrange me a Marriage" - Kuppelei ist chic


Die Stimmen der Opfer und die hohen Zahlen entfachen die Diskussion um die Werte unter den britischen Muslimen und der britischen Mehrheitsgesellschaft, die zuerst nach den Terroranschlägen in London im Juli 2005 geführt worden war, von Neuem. 1,6 Millionen Muslime leben auf der Insel. Das entspricht drei Prozent der Bevölkerung. Auf den ersten Blick eine geringe Zahl, aber Muslime haben im Schnitt weitaus mehr Nachwuchs als andere Gruppen. In vielen Teilen Londons und in den alten Industriestädten Nordenglands stellen sie eine stark wachsende Minderheit, mancherorts bald die Mehrheit.

In der Vergangenheit hatte sich der britische Staat aus Minderheitenfragen so weit wie möglich herausgehalten. Die Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien des Empire machten die Arbeit im Billiglohnsektor - viel mehr wurde von ihnen nicht verlangt. Großbritannien galt als Heimstatt des Multikulturalismus. Englischlernen war keine Voraussetzung fürs Leben auf der Insel. Viele offizielle Formulare gibt es nicht nur in Englisch, sondern auch auf Arabisch, Urdu oder Bengalisch.

Aus religiösen Fragen hielt sich der Staat komplett heraus – und ließ zu, dass radikale Kräfte archaische Praktiken wie Männergewalt gegen Frauen zum Ausdruck kultureller Identität umdefinieren konnten. Islamistische Hassprediger durften noch bis 2001 ungeschoren zum heiligen Krieg aufrufen.

Nach den Terroranschlägen von 2005 fordert die britische Regierung nun das Erlernen der englischen Sprache und ein Bekenntnis zu britischen Werten ein. Doch noch vor sechs Wochen dachte Erzbischof Rowan Williams, immerhin das Oberhaupt der anglikanischen Christen, laut darüber nach, Elemente der Scharia ins britische Rechtssystem zu integrieren.

TV-Show "Arrange me a Marriage" - Kuppelei ist chic

Im vergangenen Herbst erzielte die BBC mit ihrer Show "Arrange me a Marriage" ("Bring mich unter die Haube") einen Quotenhit. Darin suchten britische Singles die Hilfe einer asiatischen Kupplerin, um endlich den Traumpartner zu finden. Arrangierte Hochzeiten, weit verbreitet in Einwandererfamilien, galten plötzlich als chic. Der Skandal um die vermissten Kinder wird diesen Trend wohl stoppen: Obwohl die übergroße Mehrzahl der arrangierten Partnerschaften freiwillig entsteht, bleibt ein Zweifel.

Auch das alte englische Gebot, dass sich der Staat aus dem Privatleben heraushält, verliert seine Geltung - die Politik der Nichteinmischung in die Angelegenheiten früherer Kolonien in Asien und Afrika gleich mit. Großbritannien müsse die Spur der verschwundenen Teenager verfolgen, fordert der Innenausschuss des Parlaments.

Als erstes wollen die Abgeordneten nun Mitarbeiter der britischen Botschaft in Pakistan zum Thema vorladen. Forderungen nach schärferen Kontrollen in den religiösen Gemeinschaften werden laut, Schluss müsse sein mit der Rücksichtnahme auf kulturelle Empfindlichkeiten. Vertreter der Muslime weisen allerdings darauf hin, dass Zwangsehen auch in anderen Kulturgemeinschaften mit dominanten Familienvätern vorkommen.

16 verschwundene Kinder im Londoner Bezirk Tower Hamlets

Den Zahlen der Regierung zufolge hält der Ostlondoner Stadtbezirk Tower Hamlets einen traurigen Rekord.

Jedes Jahr gibt es hier die meisten Zwangsverheiratungen. Der Bezirk umfasst weite Gebiete östlich des Tower, darunter die berühmte Brick Lane mit ihren asiatischen Restaurants und Discos. 16 Mädchen gelten hier derzeit als vermisst. Tony Finnegan, Sprecher der Bezirksverwaltung, bestätigt zwar die Zahl 16. Aber: "Es kann viele Gründe geben, warum die Kinder als vermisst gelten", sagte er SPIEGEL ONLINE. "Wir nehmen das Thema Zwangsverheiratung ernst, aber wir glauben nicht, dass es etwas mit dem Verschwinden der Kindern zu tun hat", so Finnegan.

Sozialforscherin Nazia Khanum schüttelt über so viel Zurückhaltung nur den Kopf: "Wenn die Gemeinde das Problem nicht erkennt, dann kann sie auch nichts unternehmen, um was zu verändern. Wir müssen endlich diese Menschenrechtsverletzungen aufdecken."

Nora hat inzwischen wieder regelmäßig Kontakt zu ihren Eltern. "Manchmal hasse ich sie, aber ich fühle mich schuldig dafür", sagt die junge Frau. "Wenn ich in einer anderen Kultur groß geworden wäre, wären meine Eltern nie gezwungen gewesen, mir so etwas anzutun."

Nora ist nach Luton zurückgekehrt, gemeinsam mit dem Mann, dessen Ehefrau sie nicht sein will. An Scheidung denkt sie nicht. Der Gehorsam ist stärker.

*Name von der Redaktion geändert














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