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Stell dir vor, du treibst ab – und keiner fragt warum


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Rolf

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Stell dir vor, du treibst ab – und keiner fragt warum





1971 bekannten 374 Frauen öffentlich, abgetrieben zu haben. Die Kampagne für ein liberaleres Abtreibungsrecht war ein großer Erfolg. Heute ist an die Stelle des politischen Bekenntnisses das Schweigen einer ganzen Gesellschaft getreten. Viele Frauen treiben ohne erkennbare Not ab. Und niemand fragt warum.

Eleonore Möding sieht sich immer noch ähnlich. Die Haare lang und glatt, genau wie damals, im Gesicht derselbe skeptisch-ironische Ausdruck. Dabei liegen fast 37 Jahre zwischen der Frau, die heute in einem Berliner Café sitzt und sich eine Zigarette ansteckt, und jenem jungen Mädchen, das sich 1971 gemeinsam mit 27 anderen Frauen für das Titelbild des Magazins „Stern“ mit der Schlagzeile „Wir haben abgetrieben“ ablichten ließ. Die Aktion brachte die Republik zum Beben, weil sie ein doppelter Tabubruch war: Erstmals bekannten Frauen öffentlich, abgetrieben zu haben – wohl wissend, dass sie damit gegen geltendes Recht verstießen.

Eleonore Möding war eher zufällig ins Zentrum der Ereignisse geraten. 19 Jahre war sie, als sie das Leben aus einer niedersächsischen Kleinstadt nach Berlin spülte. Politik wollte Möding studieren und stellte schnell fest, dass das Studium größtenteils auf der Straße stattfand. Begeistert nahm sie an Sitzstreiks und Demos teil. Über den Sozialistischen Frauenbund erreichte sie die Anfrage, ob sie sich für eine Kampagne öffentlich der Abtreibung bezichtigen würde. Das passte zum Happening-Charakter der damaligen Zeit. Möding sagte sofort zu. „Dabei war ich nie Feministin“, sagt die heute 56-Jährige. „Aber ich fand und finde, dass jede Frau allein entscheiden können muss, ob sie ein Kind bekommt.“
Die „Stern“-Aktion war Höhepunkt einer Protestbewegung gegen den berüchtigten Paragrafen 218. Der stammt ursprünglich aus dem Jahr 1871, war aber in den 60er-Jahren fast unverändert in Kraft. „Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleib tötet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft“, heißt es dort.

"Mein Bauch gehört mir"

Schon um die Jahrhundertwende hatten Frauenrechtlerinnen gegen diesen Paragrafen protestiert. Doch erst im Zuge der Revolte von 1968 erhielt das Thema die entscheidende Dynamik. Zu Hunderttausenden gingen Anfang der 70er-Jahre Frauen auf die Straße, um unter dem Motto „Mein Bauch gehört mir“ die Abschaffung von Paragraf 218 zu fordern. Das Recht auf Abtreibung wurde für sie zum ultimativen Ausdruck der Selbstbestimmung.

Einige der Frauen gingen noch weiter. Indem sie sich namentlich der Abtreibung bezichtigten, riskierten sie eine Strafverfolgung. Niemand fragte, ob das der Wahrheit entsprach. Tatsächlich hatten die meisten der Frauen, die sich an der Kampagne beteiligten, nicht abgetrieben. Es ging ihnen ums Prinzip.

Wie Eleonore Möding. Wenige Wochen später erhielt sie einen Brief der Staatsanwaltschaft Berlin. Darin wurde sie gefragt, ob sie ihre „Leibesfrucht selbst abgetrieben“ habe oder ob andere Beihilfe dazu geleistet hätten. Sie reagierte nicht – und hörte nie wieder etwas von der Behörde. „Die war überfordert, weil wir einfach zu viele waren“, glaubt Möding. Das Kalkül der Organisatorinnen der Aktion war aufgegangen.

Kleine Ironie der Geschichte: Als Eleonore Möding mit 39 schwanger wurde, behielt sie das Kind – obwohl ihre Situation schwierig war: Beruflich hatte sie nur eine befristete Stelle, mit dem Erzeuger des Kindes eine Affäre ohne Zukunftsperspektive. Tochter Amira ist heute 17 Jahre alt. Die selbstbewusste Gymnasiastin mit den dunklen Locken findet „cool“, was die Mutter damals tat. „Ich bin ähnlicher Meinung“, sagt sie. „Entscheiden muss der Mensch, der das Kind großzieht – sonst hat das Kind auch nichts davon.“ Dass ihre Meinung nicht typisch für ihre Generation ist, merkte Amira, als das Thema an ihrer Schule im Biologieunterricht diskutiert wurde. „Die Mädchen in meiner Klasse waren gespalten, die eine Hälfte war für das Recht auf Abtreibung, die andere dagegen“, sagt Amira. Nur die sechs Jungen in der Klasse hielten sich heraus.

Immer mehr Abtreibungen

Knapp 40 Jahre nachdem die Frauen der 68er-Generation das Recht auf Abtreibung zum Menschenrecht erklärten, ist der Kampf darüber, wer über ungeborenes Leben entscheiden darf, immer noch nicht entschieden. Am deutlichsten zeigt sich dies bei der aktuellen Gesetzeslage. Paragraf 218 steht immer noch im Strafgesetz, Schwangerschaftsabbrüche sind bis heute rechtswidrig. Allerdings gelten seit 1995 Ausnahmeregelungen, unter denen Frauen straffrei abtreiben können (siehe Kasten).

Offiziell werden rund 120000 Schwangerschaften jährlich in Deutschland vorzeitig beendet. Das ist deutlich weniger als noch vor zehn Jahren. Damals waren es rund 140000 Schwangerschaftsabbrüche. Doch die Zahl täuscht. Gemessen an den Geburten, ist die Zahl der Abtreibungen angestiegen. Wurde 1996 noch jedes siebte Kind abgetrieben, ist es heute durchschnittlich eines unter 6,6 Kindern. Gleichzeitig ist die Zahl der Geburten im selben Zeitraum um 15 Prozent gesunken.
Auffällig ist auch, welche Frauen abtreiben. Das Klischee von der sehr jungen ledigen Frau, die eine ungewollte Schwangerschaft beendet, trifft längst nicht mehr zu. Nur rund sechs Prozent der Frauen, die 2006 abtreiben ließen, waren minderjährig. Mehr als die Hälfte war zwischen 25 und 40 Jahre alt; 42,7 Prozent der Frauen waren zum Zeitpunkt des Abbruchs verheiratet. Viele Frauen, so legt die Statistik nahe, entscheiden sich für eine Abtreibung, obwohl ihre Lebensumstände äußerlich als „abgesichert“ gelten können: Die Ausbildung ist bereits abgeschlossen, ein Lebenspartner gefunden. 40,7 Prozent der Frauen, die abtrieben, hatten zuvor noch keine Kinder bekommen. Gerade für die Älteren unter ihnen dürfte der Schwangerschaftsabbruch deshalb zum generellen Entschluss gegen Kinder werden.

So wie bei Susanne Deißler (Name geändert). Als sich die Kölner PR-Managerin gegen ein Kind entschied, war sie 36 Jahre alt. Über eine Kontaktanzeige hatte Deißler einen Mann kennengelernt und war gleich in der ersten gemeinsamen Nacht schwanger geworden. „Mir war sofort klar, dass ich es abtreibe, und auch er wollte keine Kinder“, sagt Deißler, heute 42. Sie selbst wuchs als Kind einer Alleinerziehenden auf, die ständig ums wirtschaftliche Überleben kämpfen musste. „Ich wollte nicht, dass sich meine Familiengeschichte wiederholt.“

Hinzu kam, dass sie sich gerade mit einer Werbeagentur selbstständig gemacht hatte: „Die Agentur war mein Baby, da passte nicht auch noch ein anderes Baby in mein Leben.“ Das für den Abbruch vorgeschriebene Beratungsgespräch absolvierte Deißler wie eine lästige Pflichtübung. „Ich habe mich einfach nie als Mutter gesehen“, sagt sie. Bis heute ist sie kinderlos geblieben.

Geschichten wie die von Susanne Deißler hört Luzia Wörle öfter. Seit sechs Jahren berät die Bonner Sozialpädagogin für Donum vitae schwangere Frauen in Konfliktsituationen. Die der katholischen Kirche nahestehende Organisation wurde 1999 gegründet, nachdem Papst Johannes Paul II. den katholischen Verbänden untersagt hatte, die für einen Abbruch notwenige Beratungsbescheinigungen auszustellen. Wörle hat festgestellt, dass die Zukunftsangst bei jenen Frauen, die ihren Rat suchen, zugenommen hat: „Die Gesellschaft vermittelt den Frauen, dass sie alles im Griff haben müssen – das übersetzen viele dann mit Schwangerschaftsabbruch.“ Der wachsende Druck, beruflich wie privat flexibel zu sein, führt dazu, dass viele Frauen auf eine ungeplante Schwangerschaft unflexibel reagieren. „Die Bereitschaft, sich auf etwas Unerwartetes einzulassen, ist deutlich gesunken.“

Es ist ein seltsames Erbe, das die 68er-Generation der Gesellschaft beim Umgang mit der Abtreibung hinterlassen hat. In der strafrechtlichen Praxis hat sie einen Sieg errungen: Jede Frau kann abtreiben. Auch Verfahren wie der sogenannte Hexenprozess von Memmingen wären heute undenkbar: Von 1988 bis 1999 stand in Memmingen der Arzt Horst Theißen vor Gericht, weil er Frauen zum Abbruch verholfen hatte. Am Ende erhielt er eine Freiheitsstrafe auf Bewährung von eineinhalb Jahren. Ein zunächst ausgesprochenes Berufsverbot wurde in späterer Instanz wieder aufgehoben.

Für Abtreibungen existiert offensichtlich weiterhin das Sprech- und Bildtabu

Ein Tabuthema ist die Abtreibung jedoch immer noch. „Im Unterschied zur Empfängnisverhütung existiert in Hinblick auf die Abtreibung offensichtlich das Sprech- und Bildtabu weiter“, sagt Robert Jütte, Medizinhistoriker und Herausgeber des Buches „Geschichte der Abtreibung“. So scheuen sich Frauen noch heute oft, über eine Abtreibung zu sprechen. Auf das politische Bekenntnis folgte gesellschaftliches Schweigen. Abtreibung ist zur Privatsache geworden. Selbst die Frauenrechtlerinnen von einst fragen nicht mehr, warum sich so viele Frauen ohne erkennbare Not gegen ein Kind entscheiden und welche Rolle die Männer dabei spielen.

Politischen Zündstoff bieten lediglich die sogenannten Spätabtreibungen. Das sind Abbrüche nach der zwölften Schwangerschaftswoche, die meist dann erfolgen, wenn beim Ungeborenen eine schwere Behinderung diagnostiziert wurde. Voraussetzung ist, dass ein Arzt attestiert, dass das Kind nicht lebensfähig wäre oder mit einer schweren Gefährdung der körperlichen oder psychischen Gesundheit der Frau zu rechnen ist. Für die Gegner von Spätabbrüchen wurde das „Oldenburger Baby“ zur Symbolfigur. 1997 überlebte ein Junge mit Downsyndrom seine eigene Abtreibung. Das behinderte Kind lebt heute bei einer Pflegefamilie.

Die CDU fordert für Spätabbrüche eine Pflichtberatung und eine Frist, bevor der Abbruch vorgenommen werden kann. SPD-Politiker, Verbände wie Pro familia und die Feministin Alice Schwarzer sehen darin den Versuch, das Abtreibungsrecht generell zu verschärfen.

Viele der Gegner einer Gesetzesänderung zweifeln, dass mit verschärften Gesetzen die Zahl der Spätabbrüche wie auch der Abtreibungen gesenkt werden kann.

Auch Susanne Deißler, die PR-Managerin aus Köln, hätte kein Gesetz dazu bringen können, das ungewollte Kind zu behalten. Bereut hat sie ihre Entscheidung nicht. Nur manchmal spürt sie ein Ziehen in der Magengrube: „Dann fragt man sich: Wer erbt, was ich erarbeite? Wem kann ich etwas weitergeben?“

Beinahe wäre auch Katharina Binder (Name geändert) ein Fall für die Abtreibungsstatistik geworden. Kurz nach dem Scheitern ihrer langjährigen Beziehung vor drei Jahren stellte die Erzieherin aus Münster fest, dass sie schwanger war. „Ich hatte die totale Panik, dass mein Lebensplan zerstört sein könnte“, erinnert sich die heute 33-Jährige. Die Mitarbeiterin einer kirchlichen Beratungsstelle, die sie aufsuchte, erlebte sie ähnlich hilflos wie sich selbst. Ein Arzt versuchte, sie zur Abtreibung zu ermutigen: „Sie müssen sich keine Gedanken um das Ungeborene machen.“

Doch wenige Tage vor dem geplanten Abbruch entschied sich Katharina Binder für das Kind. „Ich merkte plötzlich: Ich kann das nicht.“ Ihr Sohn Leon ist inzwischen zwei Jahre alt. Für Katharina Binder ist er das größte Glück. Und nicht nur ihres, sondern auch das seines Vaters, mit dem Binder wieder zusammenfand.


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