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Allahs verlorene Stadt


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Rolf

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Allahs verlorene Stadt




Von Carolin Emcke

Islamabad sollte dem Islam ein stolzes Zuhause geben, heute kämpfen dort Muslime gegen Muslime. Was ist das für ein Ort, dessen Name für die Bedrohung des Weltfriedens steht?

Oben auf den Bergen über der Stadt, den Margalla Hills, in den weitläufigen Parkanlagen mit ihren kurz geschorenen Rasenflächen und prächtigen Kronen der Jakarandas, sitzt ein kleines graues Äffchen. Die Schultern hängen herab. Als ob die Kraft aus den Muskeln geprügelt worden wäre. Die Füße stehen zusammen. Als ob sie Schutz suchen müssten beieinander. Die grünen Augen schauen an der ledernen Leine entlang, die das zu eng geschlossene Halsband mit seinem Herrn verbindet.

Der sitzt auf dem Boden des gepflasterten Wegs zur Terrasse mit dem Panoramablick über Islamabad und wartet auf die Besucher: verliebte, händchenhaltende Paare oder elegant gewandete Großfamilien mit übermüdeten Kindern. Bei jedem, der hierherkommt, um im orangefarbenen Licht die Hauptstadt unter sich liegen zu sehen, reißt der Mann an der Leine, durch das Äffchen fährt ein Stoß angstvoller Erinnerung, und es stellt sich auf wie ein zitternder Zinnsoldat.

Dabei schaut es ein wenig fassungslos auf seinen Herrn, der ungeschickt auf einer quäkenden Blockflöte spielt, und es fällt in sich zusammen, sobald die schmunzelnden Spaziergänger an ihnen vorbeigezogen sind. So hockt es dann bis zum nächsten Besucher und bis zum nächsten Riss an der Leine. Eine Farce, die das gequälte Äffchen mit seinem struppigen Fell längst begriffen zu haben scheint, nur die Menschen um es herum wollen festhalten an den Riten und Spielen der Inszenierung.

Auf der Aussichtsplattform stehen dunkelblau uniformierte Polizisten neben mannshohen Fernrohren, und nach jedem einzelnen Betrachter putzen sie die inneren Sichtflächen der Gläser sauber. Ein kleiner Kiosk bietet milchigen, gezuckerten Tee feil. Überall pflücken Angestellte behände Müll von den Wegen, gelangweilte Wächter stehen anlasslos, aber allseits bereit. Alles ist organisiert und präpariert, gereinigt und geordnet für den konstruierten Blick auf die konstruierte Stadt.

Vielleicht erwarten das die Besucher von ihrer Hauptstadt, vielleicht kommen sie hierher, um genau das bestätigt zu finden: dass an dieser Stadt gearbeitet wird, dass sie täglich wieder neu aufbereitet wird, dass sie eine permanente Erfindung bleibt – Islamabad, abad, die Stadt, in der der Islam einen Ort findet, vielleicht wollen sie, dass sie sich für sie streckt und aufstellt, wie das graue Äffchen an der Leine.

Vielleicht aber kommen sie auch hierher, um sie zu suchen, die Stadt, von der aus ihr Land regiert wird, vielleicht wollen sie den Blick von oben, um das zu ordnen, was jeden Tag in größerer Unordnung und Gewalt zu versinken scheint. Vielleicht stellen sie sich aus der Nähe dieselben Fragen wie der fremde Betrachter aus der Distanz: Was ist das für eine Stadt, die vom Rand der strategischen Weltkarte auf einmal ins Zentrum gerückt ist, seitdem der amerikanische Präsident George W. Bush sich in seinem »Krieg gegen den Terror« abhängig gemacht hat von Pakistan? Was ist das für eine Stadt eines islamischen Staats, der von Islamisten an seinen Grenzen und im Innern bedroht wird? Was ist das für eine Hauptstadt, in der ein General immer einsamer in einem Labyrinth aus Repression und Korruption regiert?

Es gibt Städte, denen nähert man sich am besten vom Wasser her, in diesem sanft schaukelnden Modus, mit dem Blick auf die Stadt wie auf ein Versprechen, das plötzlich in Erfüllung geht. Es gibt Städte, die entdeckt man am besten über die Peripherie, über die verfransten und ausufernden Ränder und Ringe, die sich im Lauf der Jahre um das ursprüngliche Dorf gelegt haben. Es gibt Städte, die lassen sich nur aus dem innersten Kern heraus erkunden, dem umkämpften Berg mit seinen Heiligtümern, von einer Anhöhe her, die sich über die verwinkelten Gassen und ihren jeweiligen Eigensinn erhebt. Die Geschichten dieser Städte sind die Geschichten ihrer Bewohner, der Menschen, die sie geprägt und besungen, verteidigt und beweint haben, sowie ihrer Spuren und Signaturen, mit denen sie sich eingeschrieben haben in die Textur ihrer Stadt.

Islamabad, die pakistanische Hauptstadt an den Ausläufern des Himalaya, verweigert sich solchen Annäherungen. Die Wasser sind künstlich angelegte Seen, die Peripherie ist schon der Beginn der nächsten, ungleich älteren Stadt, Rawalpindi, und der innerste Kern ist hohl. Es gibt keine Menschen, deren Geschichten oder Lieder die Geschichte der Stadt erzählen könnten. Alle sind sie Zugezogene in Islamabad, Migranten aus anderen Teilen des Landes, die ihre früheren Leben und Bezüge hinter sich lassen mussten, um einen Neuanfang zu wagen in dieser neu entworfenen Stadt. Islamabad lässt sich am ehesten erkunden über den architektonischen Masterplan der griechischen Firma Doxiadis Associates, die 1960 mit dem Bau beauftragt wurde, als Präsident Ajub Khan beschloss, die Hauptstadt von Karatschi in das zentrale Hochplateau zu verlagern. Islamabad ist ein Gitternetz, ein Schachbrett mit exakten Feldern, eine topografische Utopie.

eder Block misst anderthalb Meilen mal anderthalb Meilen und umschließt einen Marktplatz wie eine Frucht ihren Kern. Die quadratischen Blöcke und die Straßen haben keine Namen. Nicht von historischen Ereignissen, nicht von berühmten Personen. Die Adressen erzählen keine Geschichten. Islamabad besteht aus zeitlosen Buchstaben und Nummern: mathematische Brandzeichen auf einem urbanen Körper. Eine typische Adresse in Islamabad lautet: H-4, St. 87, G-6-3. Das ist Haus Nummer 4 in der 87. Straße im Planquadrat G-6, im 3. Viertel des Quadrats. Man beginnt mit E, direkt am Fuß der Berge im Norden, und buchstabiert sich südwärts bis zur bisher letzten Letter I.

Das Alphabet der Stadt kennt nicht nur kein Ende, sondern auch keinen Anfang. A bis D fehlen. Als ob die eigene Geschichtslosigkeit miterzählt werden sollte. Drei große mehrspurige Alleen durchschneiden die Anlage und teilen die Stadt zusätzlich in zweckgebundene Enklaven auf: ein diplomatisches Viertel, ein Geschäftsviertel, ein Universitätsviertel – eine nach Funktionen aufgeteilte Ansammlung von bewachten Siedlungen, die keine Schranken brauchen, weil Herkunft und Scham höhere Schwellen bedeuten als jeder Zaun.

Die feinen Unterschiede zeigen sich an den verspannten Rücken. Die höheren Ränge der Reitergarde des Präsidenten schlürfen im Sitzen unter den Pinienbäumen ihren Tee. Die einfachen Soldaten stehen in kniehohen schwarzen Stiefeln, und die straffe Hierarchie des Militärs schmerzt ihnen seit Stunden im Kreuz, hier oben auf dem Vorplatz des neu gebauten nationalen Ehrenmals, wo die Leibwächter des Präsidenten auf ihren Einsatz bei der Flaggenparade warten. Bis die Generäle vorfahren, werden noch die knochigen Pferderücken gestriegelt und die brüchigen Hufe mit schwarzer Lackfarbe überzogen. Als es dann endlich losgeht, die grün berockte Armeekapelle aufspielt, die Ehrenlegion aus Marine, Armee und Luftwaffe mit den jeweiligen Wappen im Stechschritt vor den Zuschauerrängen aufmarschiert, da sitzen die für diesen Dienst abgesandten Generäle mit ihren ungezogenen Kindern ein wenig abseits des Exerzierplatzes vor der Fahne.

Es ist ein Schauspiel, in dem jeder mitspielt, auch die schüchternen Zuschauer, denn jede Inszenierung braucht ihre Kulisse. Erst recht eine Junta, die eine Regierung spielt. Ohne demokratische Legitimation an der Macht, versichert sich das Regime in dauernden symbolischen Akten seiner selbst. Und sei es auch nur durch eine Fahne, die vom Mast geholt und zusammengefaltet wird.

Sie haben das Land zu einem ewigen Provisorium verdammt, die Militärs in Pakistan, zu einem Staat, der nie zur Ruhe kommt, seit seiner Unabhängigkeitserklärung von Indien vor 60 Jahren nicht. Keine Verfassung haben sie geduldet, nicht die von 1956, die General Ajub Khan außer Kraft setzte, nicht die von 1962 und auch nicht die vorläufig letzte Verfassung von 1973. Sie haben sie suspendiert und das Kriegsrecht ausgerufen oder sie durch schleichende Ergänzungen ihrer demokratischen Prinzipien beraubt und ihren jeweiligen Herrschern gefügig gemacht. Die Gewaltenteilung wurde schrittweise untergraben, die föderale Struktur eingeschränkt, die Autorität der Legislative ausgeweitet und die Regierungszeit des amtierenden Staatschefs verlängert.

Darin unterschieden sich die Militärregierungen kaum von ihren zivilen Gegenspielern. Ob durch direkten Putsch der Armee, wie 1958, 1969, 1977 und schließlich durch Musharraf im Jahr 1999, oder durch indirekten Missbrauch der zivilen Regenten: Jede Institution, jede Bewegung, jedes Gesetz, das Pakistan innere Stabilität und rechtliche Transparenz hätte geben können, wurde geschwächt.

Und so verausgaben sich die Machthaber in Islamabad seit dem Sommer mal in brutaler Repression und mal in symbolischen Ritualen. Das ganze Land hält den Atem an und schaut, wie General Musharraf seine Macht gegen das Verfassungsgericht und gegen die Opposition zu verteidigen versucht. Parallel dazu führen sie hier oben auf dem Nationaldenkmal noch mal in voller Kostümierung und nagelneuer Kulisse das Stück des Militärs auf. »Wir wollen dem Volk etwas beibringen«, sagt zum Schluss der schnauzbärtige junge General, als die Nationalflagge endlich gefaltet und unter lauten Fanfaren abtransportiert ist. Da ist das Volk längst verschwunden. Der Wächter des pakistanischen Nationaldenkmals hat schon den kläglichen See Pferdepisse von den Marmorplatten gewischt. Er ist etwas erstaunt über die Frage, wozu denn dieses ganze Ritual eigentlich diene. »Damit das Volk weiß, was wir tun«, sagt er, und ganz kurz scheint es, als verblüffte ihn die Ehrlichkeit dieser Antwort selbst.

Hamjadali weiß, was er tut. Er weiß nichts von dem General, nichts von dem Ritual des Flaggeeinholens in der Hauptstadt, er weiß nichts vom Ausnahmezustand oder von dessen Aufhebung, er kennt noch nicht einmal die Hauptstadt selbst. Nur zwei Kilometer trennen den elfjährigen Jungen von Islamabad, und doch hat er die Stadt noch nie gesehen. Nicht einmal das Wort kann er schreiben: Islamabad. Er versucht es. Mit dem Zeigefinger malt er im körnigen Staub vor seinen Füßen. Und bricht ab. »Keine Zeit«, sagt er, und das ist noch nicht einmal gelogen. Zu lange schon hat er ihn unterbrochen, den eingespielten Bewegungsablauf, aus dem sein ganzes Leben besteht: Mit einem Griff rupft er einen Klumpen aus dem nassen, schweren Lehm, schlägt und knetet ihn zu einer rotbraunen Rolle, mit einem Wurf klatscht er die Masse in den Metallrahmen vor seinen nackten Zehen, klopft darauf, bis sie sich fügt, wie er will, dreht den Rahmen mit dem losen tönernen Untersatz herum und schlägt von oben noch einmal darauf, sodass die rhombenförmigen Muster der Tonplatte sich in den Lehm prägen, dann nimmt er den Deckel ab, zieht den Rahmen von dem roten Rechteck und säubert das stählerne Gerüst für den nächsten nassen Haufen Lehm.

amjadali weiß, was er tut. Jeder Handgriff sitzt. Lehm abmessen, Rolle kneten, in die Form pressen, aus der Form lösen, zum nächsten Klumpen. Der Rhythmus seiner Hände strukturiert seinen Tag. Seit fünf Jahren schon. Er hat keine Zeit, seinem jüngeren Bruder beizubringen, wie man die Haut der Hände schützen kann vor Rissen und eitrigen Wunden. Er muss die Ziegel in Zehnerreihen aufstellen und die Zehnerreihen übereinanderschichten. Jede Reihe wird verrechnet mit den Zahlen auf dem Stück Papier, das sein Vater vor mehr als zwölf Jahren einmal mit seinem Daumenabdruck abgezeichnet hat.

Was genau ein Schuldschein ist, weiß der Junge nicht; niemand hat ihm erklärt, wie der Eigentümer der Ziegelei seinen analphabetischen Vater damit in die Leibeigenschaft gezwungen hat. Aber er weiß, dass er diese Ziegel formen muss über den Tod des Vaters hinaus. Die vorgeblichen Schulden sind größer als ihrer beider Leben. So viel weiß er schon jetzt.

Das Vermögen, das Familien wie die von Hamjadali für andere unsichtbar erwirtschaften, wird sichtbar in den eleganten Wohnvierteln von Islamabad, den E-Nummern am Fuße der Margalla Hills mit ihren mehrstöckigen, Bougainvillea-bewachsenen Villen. Private Sicherheitsfirmen patrouillieren hier auf und ab oder beschützen aus kleinen Wachtürmchen auf dem Gehweg heraus den Reichtum der wohlhabenden Elite der Hauptstadt. Eine eigene Klasse hat sich hier angesiedelt. »Military Inc.« nennt die Wissenschaftlerin Ayesha Siddiqa in ihrem gleichnamigen Buch diese autonome Kaste ehemaliger Militärs, die zu einer gewaltigen Wirtschaftsmacht in Pakistan geworden sind.

Sie operieren im Schatten der offiziellen Finanzpolitik der Militärregierung, ihr Kapital wird nicht im Verteidigungsetat geführt, doch sie gründen ihre Unternehmungen mit Hilfe von Pfründen und Privilegien, welche die Armee ihnen garantiert. Staatlicher Grundbesitz wandert so in die Hände ehemaliger Offiziere. Fischereirechte werden lokalen Kommunen entzogen und Ranger mit der Lizenzvergabe betreut.

Vielleicht sichern sich die Militärs so in vorausschauender Vorsicht ihren erzwungenen Rückzug aus der Politik. Vielleicht übernehmen sie aber neben der Regierung auch nur den nächsten Sektor gesellschaftlicher Macht und durchsetzen noch die letzte zivile Sphäre dieses fragilen Landes.

Vor dem Clubhaus des Shalimar Cricket Ground mit seinem roten Schieferdach sitzt Rizwan Ahmad im Gras und schaut seinen Kollegen von der Midas-Advertising Company zu. Alle sechs Monate spielen sie hier gegeneinander: die Kreativabteilung und die Marketingabteilung von Midas. Sie befinden sich im ersten Inning. Ein Sieger ist noch nicht abzusehen. Aber die Mitarbeiter von Midas gehören auf jeden Fall zu den Gewinnern. Sie schreiben die Kampagnen für die Militärs wie für Parteien der Opposition.

Ob die Militärs an der Macht bleiben, ob die nächsten Wahlen eine Veränderung bringen, Midas wird an den Siegern und den Verlierern verdienen. »Wir machen nichts Kreatives«, sagt Rizwans Kollege Hassan Ahsan trocken. Er steht ohne die weiße Kricketkleidung am Rand und betrachtet das Spiel ebenso distanziert wie seine eigene Arbeit in einem Militärstaat: »Wir machen Propaganda. Nichts weiter.«

Es ist dieser leicht melancholische Ton, der sich durch alle Gespräche in Islamabad zieht. Sie sprechen von ihrem Land, als wäre es nicht ihres. Sie analysieren die Geschicke der Regierung, als bestimmte die nicht über ihr Leben. Sie kritisieren die despotischen Verhältnisse, als unterdrückten die nicht auch sie selbst. Vielleicht ist es das, was diese Geschichte aus Korruption und Putsch, diese Geschichte aus aneinandergereihten Ausnahmezuständen mit den Menschen gemacht hat: Sie leben entkoppelt von einem Staat, der von einer losgelösten militärischen Elite aufrechterhalten und manipuliert wird. Und sie beobachten das öffentliche Schauspiel, wie diese Elite auf einmal unruhig wird. Wie diese erfundene Stadt Islamabad, die doch Stolz und Selbstbewusstsein demonstrieren sollte, auf einmal Unsicherheit und Zweifel verrät.

Die rote Moschee ist schon lange nicht mehr rot. Stacheldraht rankt sich vor dem abgeriegelten Areal wie Dornenbüsche. Weiß gewandete zivile Polizisten harren dahinter aus. Uniformierte, hochgerüstete Antiterroreinheiten und einige Hundertschaften der Polizei stehen davor. Die berüchtigte Moschee ist geschlossen, die Anführer des islamistischen Widerstands sind im Juli getötet oder inhaftiert worden, als das Militär das Gotteshaus stürmte. Der Ort ist heute umstellt und gesichert – und doch strahlt dieser inzwischen ockergelb übertünchte Bau der Moschee nicht Musharrafs Macht, sondern seine Ohnmacht aus, nicht seine militärische Unbesiegbarkeit, sondern nur seine mediale Verwundbarkeit.

Denn er konnte diese Bilder nicht verhindern, die im ganzen Land verbreitet wurden: wie die überlebenden und verbliebenen Gläubigen der roten Moschee die gelbe Fassade wieder rot pinselten und wie die Regierung sie wieder gelb streichen ließ.

Er konnte die Bilder nicht kontrollieren, die sich vor den Augen der Hauptstädter abspielten und die in den Nachrichten zu sehen waren: wie Hunderte Gläubige sich zum Freitagsgebet versammelten, friedliche Muslime, vor deren Moschee die nationale Polizei aufgerüstet stand – in Islamabad, der Stadt, die dem Islam einen Ort geben wollte –, und die nun auf dem Asphalt knien und gen Mekka sich verneigen.

Die Angst vor diesen Bildern produziert wieder neue Bilder, die Angst verbreiten. Mit immer größerer Brutalität geht der Regierungschef gegen Angriffe auf seine Macht vor und schafft damit immer neue Angriffsflächen. So entstanden die jüngeren Bilder von eleganten Hauptstädtern, Männern ohne Bärte, Frauen ohne Kopftuch, Intellektuellen, Anwälten und Journalisten, die gegen Musharraf demonstrierten. Nun sind es nicht mehr nur die Gläubigen, die der säkulare Militär als rückwärtsgewandt oder islamistisch abtun kann, jetzt sind es die Angehörigen der urbanen Mittelschicht, die dieselben Rufe »Go, Musharraf, go!« skandieren. Er kann sie verhaften und einsperren lassen, er kann die Opposition mit einem Ausnahmezustand zu spalten versuchen, aber er kann die Bilder nicht verhindern, die um die Welt gehen.

Seit Monaten schon nimmt die Zahl der Anschläge gegen Armeebastionen und Polizeieinheiten zu. Nicht nur an den Rändern des Landes, sondern in der Hauptstadt, im Zentrum der Macht. Die Zeiten, in denen ihre Hauptquartiere Ruhe und Ordnung ausstrahlen konnten, sind vorbei.

Sie sind voneinander abhängig, der einsame General Musharraf in seinem Regierungspalast von Islamabad und die Terroristen, die sein Land an den umstrittenen äußeren Grenzen und im umkämpften Inneren bedrohen. Solange die undefinierten Kämpfer Terror verbreiten, so lange verbriefen sie absichtlich oder unabsichtlich das Existenzrecht des überfälligen Generals. Und solange Musharraf mit übertriebener Brutalität gegen die Islamisten vorgeht und dabei auch unbeteiligte Gläubige drangsaliert oder töten lässt, so lange verstärkt er absichtlich oder unabsichtlich den Widerstandswillen der Radikalen.

Der Ausnahmezustand hat die Lage des Generals nur noch verschlimmert: Die Opposition, die er zu unterdrücken suchte, hat sich nun erst recht formiert. Benasir Bhutto, die noch im Exil eine zwielichtige Absprache über ihre Machtteilung mit Musharraf eingegangen war, musste sich dem Druck der Straße und ihrer eigenen Partei beugen und sich auch zur Gegnerin erklären.

Wozu, könnten sich Menschen in Pakistan und auch im Westen fragen, sollte ein undemokratisches Militärregime unterstützt werden, wenn es nicht mal Sicherheit und Ordnung garantieren kann? Wozu einen General dulden, wenn er nicht mal die militärischen Schlachten gewinnen kann? Wozu einen Despoten unterstützen, der nicht einmal seine Angst kontrollieren kann?

»Der oberste Repräsentant von Pakistan repräsentiert nicht Pakistan«, sagt Nasira Iqbal, pensionierte Richterin und eine der wichtigsten Stimmen der zivilgesellschaftlichen Opposition. Sie sitzt beim klassisch britischen afternoon tea im exklusiven Islamabad Club, sie hat den Mitgliedsausweis auf den Tisch gelegt, um sich vor ungebetenen Nachfragen der Ober zu schützen. Sie hat keine Angst, dem Souverän die Souveränität abzusprechen.

Nasira Iqbal kann sich solchen Mut leisten: Sie trägt den Namen, der sie unangreifbar macht. Die Geschichte ihrer Familie schützt sie wie ein geerbter Schild. Denn die Idee Pakistans verkörpert der Name Iqbal wie kaum ein anderer: Mohammed Iqbal, ihr Schwiegervater, war es, der den Traum eines eigenen muslimischen Staats geträumt hatte. Auf einer Rede vor der All-India Muslim League hatte er 1930 die organische Einheit von Geist und Form, von Glaube und Staat gepriesen. Der Islam sei nicht nur ein ethisches Ideal, sondern solle auch ein politisches Gemeinwesen stiften, hatte Iqbal damals gefordert und so den Grundstein für den Staat Pakistan gelegt.

Nasira Iqbal, die Schwiegertochter, die in Harvard Jura studiert hat, ringt mit diesem Erbe. Ihr gilt die Verfassung als ethisches Ideal und der demokratische Rechtsstaat als Form. Der Showdown der im Ausnahmezustand neu erstarkten Opposition gegen Musharraf ist noch nicht entschieden. Sie weiß das, aber es hält sie nicht auf. »Islamabad liegt 20 Kilometer außerhalb von Pakistan«, sagt sie schmunzelnd und entschwindet zu ihrem Fahrer, der sie zum Flughafen bringt, raus aus Islamabad – rein nach Pakistan.

»Islamabad liegt 20 Kilometer außerhalb von Pakistan« heißt eine gern zitierte Redensart. Die verwenden junge Schriftstellerinnen wie Sheehan Khan, und sie meinen damit, wie fremd sie sich manchmal in ihrem eigenen Land fühlen. Sie können den Spalt beschreiben zwischen ihrer unbegrenzten Sprache und der begrenzten Möglichkeit, sich auszudrücken, zwischen ihren Empfindungen und den Gelegenheiten, sie auch auszuleben. »Islamabad liegt 20 Kilometer außerhalb von Pakistan«, das sagen Bewohner des christlichen Slums von Islamabad, und sie meinen damit, dass sie nicht dazugehören zu diesem Pakistan. »Islamabad liegt 20 Kilometer außerhalb von Pakistan«, das sagt auch Kamal Hyat, integrer Kopf des privaten Pakistan Poverty Alleviation Fund, und er meint damit, dass die Demokratisierung und Reform Pakistans auf dem Land beginnen müsse.

Es gibt sie also doch, die Zugezogenen und die Nachgeborenen, über die sich die Geschichte Islamabads erzählen ließe. Es ist eine andere Erzählung als die offizielle. Sie erzählt sich nicht in Ritualen und Inszenierungen. Sie verläuft nicht entlang der Planquadrate des architektonischen Masterplans. Sie wiederholt nicht mehr die Versprechen der militärischen und der zivilen Machthaber. Sie erzählt nichts vom Militär als dem Garanten eines friedlichen Pakistan. Sie reckt und streckt sich nicht jedes Mal wie ein Äffchen, wenn die Leine sich enger um den Hals schnürt.

Die Geschichte der Zukunft des Kriegs gegen den Terror wird diesen Winter nicht zwischen General Musharraf und Benasir Bhutto und nicht in Islamabad entschieden. Sondern außerhalb. »Islamabad«, so sagen zu viele, »liegt 20 Kilometer außerhalb von Pakistan«, und man wünscht sich für Pakistan, es möge stimmen.

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