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Gottes Mann des Todes


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Rolf

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Gottes Mann des Todes





95-mal musste er dem Tod zur Hand gehen und verurteilte Mörder zur Hinrichtung begleiten. Seine Skrupel behielt Pfarrer Carroll Pickett für sich.

Von M. Gösele


Viele Menschen sprechen von der Hölle. Doch nur die wenigsten haben sie gesehen. Der 74-jährige Gefängnispfarrer Carroll Pickett ist einer von ihnen. Im Staatsgefängnis von Huntsville, einer kleinen Stadt nördlich von Houston, ist er Augenzeuge geworden.

Mit 95 Menschen hat Pickett hier die letzten 18 Stunden ihres Lebens verbracht. 95-mal hat er mit angesehen, wie sie danach getötet wurden. Denn Huntsville ist der Ort, an dem der Staat Texas seine Todesurteile vollstrecken lässt. Es ist der Ort, an dem der Staat „mordet“, sagt der Geistliche.

Was Pickett in den Momenten der Hinrichtung denkt, bleibt lange Zeit sein Geheimnis. Keiner darf wissen, wie er zu der Todesstrafe steht. Denn einen, der dagegen ist, kann der Staat in so einem Amt nicht brauchen. 13 Jahre hält Pickett den Mund und begleitet die zum Tode Verurteilten auf ihrem letzten Gang. Erst heute, lange nachdem er den Dienst quittiert hat,

Vergessen kann der Geistliche keine einzige der 95 Exekutionen. Vor allem nicht die Geschichte von Häftling EX 670, James David („J.D.“) Autry: Er soll im Oktober 1983 der zweite Häftling in Texas werden, der mit der Todesspritze hingerichtet wird. Mit 25 Jahren hatte er einen Ladenbesitzer erschossen. Die Beute: ein Sechserpack Bier.

Früh am Morgen, um sechs Uhr, wird J.D. Autry aus der Todeszelle von Ellis, wenige Meilen außerhalb von Huntsville, angeliefert. Die Arme auf den Rücken gekettet und mit einem dicken Ledergürtel auf Hüfthöhe fixiert: So sieht ihn Pfarrer Pickett zum ersten Mal.

Autry habe wegen der Fußschellen nur kleine Schritte machen können, erinnert sich Pickett. Neun schwere Eisentüren gehen vor ihm auf, neun Pforten in die Freiheit. Aber „Freiheit“ meint an diesem Ort immer nur den sicheren Tod.

„Verbranntes Fleisch“ im Todeshaus


Als Carroll Pickett 1980 im Gefängnis in Huntsville anfängt, will er nicht lange dort arbeiten: ein Jahr vielleicht, als Übergangslösung. Die letzte Exekution ist zu diesem Zeitpunkt schon 16 Jahre her, Pickett denkt an Gefangenenseelsorge, Gottesdienste, Chorproben. „Hinter den Mauern“, spottet ein Freund, „können dir die Schäfchen wenigstens nicht weglaufen.“ Man lacht, ohne zu wissen, was noch kommen soll.

Im November 1982 verändert sich Picketts Stellenbeschreibung. Gefängnisdirektor Jack Pursley kündigt an: Es wird wieder hingerichtet, schon am 7. Dezember. Die weltweit erste Hinrichtung mit der Todesspritze. Bis dahin wolle er ein funktionierendes Team zusammenbekommen. „Diese Ankündigung war für mich wie eine Sonderzustellung aus der Hölle“, sagt Pickett.

Der Pfarrer ist der erste Mensch ohne Uniform und Waffen, den die Todeskandidaten in Huntsville zu sehen bekommen. Und, wenn aus Sicht der texanischen Justiz „alles glatt läuft“, auch der letzte.

Auge um Auge, Zahn um Zahn

Pickett ist ein Südtexaner durch und durch: aufgewachsen in einer Gegend und einer Zeit, als Viehdiebe noch ohne große Umschweife aufgeknüpft wurden. Groß geworden in einer Gesellschaft, deren Bibelkenntnis sich bis heute vor allem auf das Alte Testament beschränkt: Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Lange weiß Reverend Pickett nicht, ob er für oder gegen die kapitalste aller Strafen sein soll. Eigentlich ist er dagegen, aber vielleicht gibt es ja doch Ausnahmen. Bei Kindermördern vielleicht? Vielleicht.

Als er zum ersten Mal das Todeshaus betritt und den in einer Kiste verpackten elektrischen Stuhl riecht — „wie verbranntes Fleisch“ —, verschwinden seine Zweifel: Picketts Welt ist nicht die der Rache, sondern die der Vergebung.

Am Tag der Autry-Hinrichtung sieht er auf der Straße einen Mann mit einem Schild. Aufgemalt eine mit Bier gefüllte Todesspritze und die Worte: „Hey, J.D., dieses Budweiser ist für dich!“ Welcher Teil der Gesellschaft, fragt sich Pickett in solchen Momenten, ist eigentlich kränker: Sind es die vor oder die hinter der Mauer?

„So etwas hat kein Mensch verdient“

Im Todeshaus kümmert er sich um die Delinquenten. Brauchen sie tröstende Worte? Eine kalte Coke? Ein Gebet? Die letzte Beichte? Pickett ist da, immer und für alles. Er muss die Todgeweihten auf ihre Hinrichtung vorbereiten. Sie so weit beruhigen, dass sie sich in den letzten Minuten nicht zur Wehr setzen. Beistand, Menschlichkeit, Gebete — so lautet sein Auftrag, „eine Art Totenwache, wie sie Geistliche bei Sterbenden machen“. Nur dass die Männer im Todeshaus von Huntsville gesund sind, kräftig und jung. Und nicht bereit zu sterben.

Pfarrer Pickett zeigt den Gefangenen immer ein Foto der Todeskammer. Er erklärt ihnen, wie sie festgeschnallt werden, wie man die Nadeln sticht, auf welches Zeichen hin das Gift anfängt zu strömen. So wissen sie wenigstens, was auf sie zukommt: „Ich wollte den Verurteilten keine Überraschungen zumuten“, sagt er.

Auch Autry hatte er alles genauestens erklärt: wie der Himmel hinter den Zellenfenstern finster wird, wie man ihn zum Duschen abholen und in Zivilkleidung stecken wird. Und dass er sich eine letzte Mahlzeit wünschen darf.

„Wie lange habe ich noch zu leben?“

J.D. Autry bestellt sich einen Hamburger. Ganz still sei er da schon gewesen und habe kaum einen Bissen herunterbekommen, sagt Pickett. Um eine Minute nach Mitternacht soll die Hinrichtung vollzogen werden. Eine Stunde vorher holt man ihn ab: „Es ist so weit“, sagt der Gefängnisdirektor. Reverend Pickett schreitet dem Trauerzug voran, hinter ihm J.D. Autry, begleitet von zwei Wärtern.

In der Todeskammer klettert der Verurteilte auf die Bahre. Das Fixierteam legt ihm die Gurte an und zurrt die Hände mit Klebeband fest. Ein Wärter habe Autry einen letzten Zug von einer Zigarette angeboten, sagt Pickett.

Als der Henker die Kanülen in die Arme sticht und die Schläuche aufsetzt, wird es Autry heiß. Er schwitzt. Er spürt den Angstschweiß, der direkt aus der Seele zu kommen scheint. Pickett tupft Autry die Stirn trocken. Der spricht ein schmales „Danke“ und lächelt zum ersten Mal an diesem Tag. Die Kochsalzlösung kriecht Autry bereits in die Venen. Er fragt: „Wie lange habe ich noch zu leben?“

Aufschub in letzter Minute

Die Uhr zeigt 20 Minuten vor Mitternacht. Dann tritt der Direktor in die Todeskammer: Es komme zu einer einstweiligen Verzögerung. Autry weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Carroll Pickett weiß es auch nicht. Selbst Direktor Pursley scheint es nicht wirklich zu wissen, bis dann kurz vor Mitternacht aus der einstweiligen Verzögerung ein einstweiliger Aufschub wird. Und wenig später dann ein Aufschub auf Dauer: Die Anwälte hatten in letzter Minute Erfolg mit einer Berufung vor dem Supreme Court. Man zieht Autry die Nadeln wieder aus dem Arm, nach mehr als einer Stunde.

Carroll Pickett atmet schwer und blickt sich um im „Café Texan“. In dieses Lokal in der Hauptstraße von Huntsville kommen sie alle und essen ihre Burger: Wärter, Richter, Staatsanwälte und Verteidiger. Pickett ist der einzige Mann ohne Cowboystiefel und ohne Hut. Er beugt sich über den Tisch: „Er lag mehr als eine Stunde auf der Bahre. Oh mein Gott! So etwas hat kein Mensch verdient.“

Die letzte Mahlzeit, das letzte Gebet

An der Wand des Lokals hängt ein Holzschild. Darauf eine grinsende Karikatur mit Schrotflinte im Anschlag. „We don´t dial 911“ steht darüber: „Wir machen keine Notrufe.“ Was zu erledigen ist, erledigt man selbst, dafür braucht man keine Polizei. „Das ist Texas“, sagt der Pfarrer leise.

Autry, erinnert sich Pickett, sei aufgebracht gewesen. Er wollte es damals einfach hinter sich bringen. Den Tod nicht noch einmal vor sich haben. Nicht noch einmal diese Angst durchstehen. Nicht noch einmal dieser Schweiß. Denn alle haben in diesem Moment ganz genau gewusst: Man wird sich bald wiedersehen. Schon sehr bald.

Heute fragt sich Pickett, ob er sich als Teil des Tötungsapparats versündigt hat. Durfte er zusehen, wie Menschen umgebracht werden? Der Staat fordert diese Höchststrafe, die Mehrheit der Amerikaner auch — aber musste unbedingt er dabei mitmachen? Warum nur hatte Gott ihm diese Prüfung auferlegt?

Das letzte Stück Menschlichkeit

Zweifel kommen dem Geistlichen schon damals. Trotzdem macht er weiter und tut, was er schon immer am besten konnte: sterbenden Menschen beistehen. Bis heute, schätzt er, hat er in fünf Jahrzehnten gut 2000 Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet. Das letzte Geleit gegeben für einen friedlichen Tod, einen natürlichen Tod. Doch in Huntsville war der Tod nicht friedlich. Es habe dort zwar wie in einem Krankenhaus gerochen, aber geheilt sei hier niemand worden. „Die einzige Bestimmung dieses Hauses“, sagt Pickett, „ist es, Menschen zu töten.“

Er war ständig dabei. Als Teil dieser Tötungsmaschine. Ein Sündenfall, der ihn noch heute nachts aus dem Schlaf reißt, wenn ihm wieder bewusst wird, dass hinter den Mauern des Todeshauses für die Verurteilten alles zum letzten Mal geschah: die letzten Besuche, der letzte Abschied von der Mutter, den Kindern, den Freunden, das letzte Telefongespräch, die letzten Worte und Briefe, die letzte Mahlzeit, das letzte Gebet. Wenn er daran denkt, hofft der Geistliche, dass er in dieser Hölle vielleicht das letzte Stück Menschlichkeit verkörpert hat.

Kaum Mitgefühl für den Kindermörder

Der Pfarrer erlebt mit, wie Unschuldige hingerichtet werden, Schwachsinnige und Kranke. Aber auch Schwerstverbrecher wie etwa der „Candy Man“, Ronald O´Bryan mit bürgerlichem Namen. Jener Mann, der an Halloween Süßigkeiten vergiftet hatte, um nach dem Tod seiner eigenen Kinder die Versicherungsprämie zu kassieren. Der zusah, wie sein Sohn qualvoll durch Zyankali starb, und der im Todeshaus keine Spur von Bedauern zeigte, dafür umso mehr Selbstmitleid. Pfarrer Pickett fragt sich noch heute, warum er für O´Bryan so wenig Mitgefühl aufbringen konnte. Vielleicht, weil er den vergleichsweise friedlichen Tod des Kindermörders mit dem qualvollen Todeskampf von dessen Sohn verglich. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Ein anderer Todeskandidat, Carlos DeLuna, war geistig derart unterentwickelt, dass er gar nicht verstand, wo er überhaupt war. Irgendwann wollte er dann doch wissen, ob die Nadel „aua machen würde“, wie ein Kind. Und wie lange es wohl dauern würde, bis er einschliefe. Sieben bis zwölf Sekunden, beruhigte ihn der Pfarrer. Doch bei DeLuna dauerte es länger. Weit mehr als zwölf Sekunden starrte ihn der junge Mann mit weit aufgerissenen Augen an. Fragend und enttäuscht. Als Carlos DeLuna nach endlos langen Sekunden endlich starb, hatte Pickett das Gefühl, den Jungen im Stich gelassen zu haben. Bis heute.

Bananenpudding – nach jeder Hinrichtung

n einer anderen Nacht wird Pickett Zeuge, wie sie innerhalb weniger Stunden zwei Männer hinrichten. Wie am Fließband. Zwischen den beiden Exekutionen habe man die Bahre sauber gewischt — „wie ein Tisch in einem Restaurant zur Stoßzeit“.

In dieser Nacht wird der Seelsorger zum Mittäter. So zumindest habe er sich gefühlt. Während die Exekutionen sonst immer auf Mitternacht terminiert waren, muss der Pfarrer diesmal nach der ersten Hinrichtung dem Direktor mitteilen, dass Kandidat Nummer zwei bereit sei. „Ich war in der Falle. Ich musste den Zeitpunkt der Hinrichtung festlegen.“

Nach dieser Nacht beschließt Pickett, seinen Dienst zu quittieren. Ein Jahr später muss er sich einer dreifachen Bypass- und einer Augenoperation unterziehen. Herz und Augen hatten offenbar am meisten unter den Bildern aus dem Todeshaus gelitten. Seine Seele leidet leiser. „Gott wollte nicht, dass diese Menschen allein sterben“, sagt der alte Mann im breiten, langsamen und gedehnten texanischen Slang. Es ist seine Art der Rechtfertigung. Aber er weiß: Eine Antwort auf diese Erklärung wird er hier auf Erden nicht bekommen.

Gefängnispfarrer als Totengräber

Auf dem Gefängnisfriedhof liegen rund 30 der 95 Hingerichteten begraben. Auf einigen Grabsteinen steht ein profanes „X“ für „execution“. Pickett selbst hat sie beerdigt. „Heute halten Sie mir die Hand, morgen bringen Sie mich unter die Erde“, sagte ihm mal einer. Und er hatte Recht damit.

Schließlich muss Carroll Pickett auch J.D. Autry bestatten. Ein knappes halbes Jahr nach dem ersten Hinrichtungstermin wird er zum zweiten Mal nach Huntsville gebracht. Im Todestrakt von Ellis ist er inzwischen zur Berühmtheit geworden, weil er dem Henker einmal von der Klinge gesprungen war. Am Ende hätten die Todeskandidaten Wetten auf Datum und Uhrzeit der Hinrichtung angeboten. J.D. selbst habe dagegengehalten. „Eine Wette, die er nicht gewinnen konnte“, sagt Pickett. Denn der Staat Texas beendet, was er einmal begonnen hat.

Zum zweiten Mal in die Todeskammer

Am 13. März 1984 ist es für J.D. Autry so weit. Er habe viel über sein Leben nachgedacht, gesteht er Pfarrer Pickett: „Ich war nie im Zoo, nie auf einer Hochzeit und noch nicht einmal auf einer Beerdigung.“ Dann, um Mitternacht, kommt er in die Todeskammer. Zum zweiten Mal. Wieder rinnt der Schweiß von J.D. Autrys Gesicht. Um 0.26 Uhr nimmt Direktor Pursley die Brille ab — das Zeichen für den Henker, die tödlichen Chemikalien strömen zu lassen. Um 0.40 Uhr wird James David Autry von einem Arzt für tot erklärt.

Spät in der Nacht geht Pfarrer Carroll Pickett über die Straße zurück in sein Haus. Duschen, den Schmutz abwaschen, wie immer. Und noch ein wenig schlafen, bevor er um acht Uhr wieder zum Dienst antreten wird. Im Kühlschrank steht ein Schälchen Bananenpudding von seiner Frau — wie nach jeder Hinrichtung.

Am nächsten Tag hält Pfarrer Pickett dann die Beerdigung ab. Die einzige, bei der J.D. Autry jemals dabei war.
 


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