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Der Missionar und die Mafia


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Rolf

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Der Missionar und die Mafia




Don Stefano ist Pfarrer in San Luca – der Heimat der kalabresischen Mafiaorganisation "Ndrangheta". Von der Verbrecherorganisation will im Ort allerdings niemand etwas wissen. Ein Besuch in der unumschränkte Hochburg der mächtigsten Mafia-Organisation Europas.

Der Teint Don Stefanos ist zartbitter, sein Lächeln Milchschokolade. Schon mit 13 Jahren wollte der zarte, sanfte Mann Missionar werden. Als Ministrant wollte er noch ganz Indien bekehren. Denn in der Nation Mahatma Gandhis sind ja auch im dritten Jahrtausend nach Christus nur knapp zwei Prozent der Bevölkerung getauft – und das trotz der christlichen Heldentaten Mutter Teresas. Haben nicht aber auch hier alle Menschen ein Anrecht, das Evangelium kennenzulernen? Solche Gedanken und Fragen wollten ihm keine Ruhe lassen. Ruhe hat er aber auch jetzt noch nicht gefunden, wo sein Wunsch endlich in Erfüllung gegangen ist.

Mit 60 Jahren ist er wirklich Missionar geworden, doch nicht in seiner Heimat Indien, sondern in Italien. In der am längsten christianisierten Nation Europas gibt es schon lange mehr Magier, Zauberer und Kartenlegerinnen als Priester, hat Don Gabriele Amorth, der berühmteste Exorzist des Landes, kürzlich in Rom erzählt. Missionare tun in Italien an vielen Orten Not. Don Stefano aber kam nach San Luca. Das nach dem Evangelisten benannte Dorf ist die unumschränkte Hochburg der ’Ndrangheta, es ist das Corleone der kalabresischen Mafia, ein wahres Wespennest. Gottes Wege, das ist klar, können mehr als verschlungen sein.

Die Wirtschaft Italiens stagniert, der Mafia aber geht es blendend

Seit sieben Jahren ersetzt Stephen Fernando, wie er in seinem Pass heißt, hier in der Pfarrei „Santa Maria della Pietà“ in den heißen Sommermonaten den jüngeren einheimischen Pfarrer, der in dieser Zeit die Pilger im kühleren Heiligtum der Muttergottes von Polsi in den Bergen des Aspromonte betreut. Geboren wurde Don Stefano in Manapad in Tamil Nadu, tief im Süden Indiens, wo der Subkontinent am heißesten ist. Franz Xaver, der legendäre Asien-Missionar unter den ersten Jesuiten, hat – wie er weiß – vor 450 Jahren seinen Urururururgroßvater persönlich getauft.

on Stefano kann in San Luca von den Stufen der Kirche über die Dächer des Dorfes bis zum Ionischen Meer sehen. Das Portal ist mit Ranken aus Benjaminfeigen und weißen Seidenrosen für eine Hochzeit geschmückt, innen proben drei junge Frauen die Lieder zum Fest. Don Stefano lächelt. Hier ist nicht das Wellness-Italien, hier herrscht nicht der Kult vollbusig besetzter Telenovelas. Der televisionäre „Glitz & Glamour“, den Silvio Berlusconi als Sternenregen über dem Land niedergehen lässt, scheint diesen Winkel ausgespart zu haben. Hier ist der Mezzogiorno, mit Dörfern aus Neubauruinen und schwarz gekleideten Frauen, die kerzengerade Ölfässer auf ihren Köpfen nach Hause tragen. San Luca ist arm, katholisch, Arbeit gibt es hier nur wenig, und außerdem ist der Ort eine zentrale Schaltstelle des organisierten Verbrechens. Mit Drogen, Erpressung, Schmuggel, Schutzgeldern, Waffen oder illegaler Atommüllverklappung an so wundervollen Orten wie Sassi di Matera erwirtschaftet die Mafia jährlich 90 Milliarden Euro. Die Wirtschaft Italiens stagniert, dem illegalen Mammutunternehmen aber geht es blendend. Mit ihren Mördern, deren Arme bis nach Duisburg reichen, schafft „Die Firma“ mittlerweile rund sieben Prozent des Bruttoinlandproduktes an.

Die Kirche ist jeden Sonntag voll

Daneben sieht jede Konkurrenz blass aus. San Luca sieht man nichts davon an, von manch tollen Autos einmal abgesehen. Die Killer des Mariä-Himmelfahrt-Massakers kamen hierher. Gefasst sind sie bis heute nicht, trotz immer neuer Verhaftungen. Eine Wallfahrt aus der ganzen Welt setzte danach hierhin an, jedoch nicht des heiligen Lukas oder der Madonna wegen. Medien aus Ost und West, von Print, Funk und Fernsehen setzten ihre Ermittler in Marsch, um herauszufinden, was die Polizei hier schon seit je nicht in den Griff bekommt. In dieser Zeit hätte San Luca sicherlich keinen besseren Anwalt finden können als Don Stefano.

Hat er denn keine Angst? „Angst?“ fragt er lächelnd, „Wieso? Vor wem?“ Gibt es keinen Rassismus? „Quasi nicht.“ Die Leute würden ihn „grosso modo“ schätzen. Ein paar arbeitslose Jugendliche schnitten den leidenschaftlichen Fußgänger manchmal mit ihrem Motorino. Andere verbreiten hinter seinem Rücken, er wolle sie kommandieren. Doch das sei es schon. Kleinkriminalität sei hier unbekannt. San Luca ist clean. Drogenprobleme? Die hat die ehrenwerte Gesellschaft streng in den Rest Europas exportiert. Die Kirche ist jeden Sonntag voll, an Werktagen kann er sich auch nicht beklagen. „Die Frauen kommen. Die Männer eher nicht, außer bei Beerdigungen und Festen.“

Alles hat seine Gründe, natürlich auch die Mafia

Das trauen sich die tapferen San Luceser nicht, aus Angst, sie könnten als Weicheier gelten. Allerdings sitzen manche von ihnen auch am Morgen schon im Schatten der Kirche und spielen Karten. Don Stefano kennt und begrüßt sie alle persönlich wie Freunde.

Alles habe seine Gründe, natürlich auch die Mafia, weiß er im Pfarrhaus zu berichten, wo er sich immer neu in das Studium einer Ergründung vertieft.

„Warum kommt der Staat nicht dagegen an?“, fragt er. „Keiner kann diese Frage beantworten. Klar ist nur, dass diese Kultur, wenn man sie so nennen will, älter ist als der Staat, älter als Italien. Den Italienern ist die Mafia fremd, so paradox es klingt. Denn im Grunde ist hier Griechenland. Hier im Süden, wo die Mafia Sizilien beherrscht, die Camorra Neapel, die Sacra Corona Apulien und die Basilicata und die ’Ndrangheta Kalabrien, ist immer noch das heidnisch-attische ‚Magna Graecia‘ lebendig, die vorchristlichen Seeräuberkolonien.“ Die italienischen Dialekte des Südens täuschten, fährt er fort. Die Mafia sei kein italienisches, sondern ein archaisches Phänomen: „Mord, Totschlag, Lüge, Betrug, Diebstahl, Willkür waren schon vor den Zehn Geboten da. Das Gesetz vom Sinai ist die ultimative Anstrengung zur Zivilisierung der Welt – von der letzten Kühnheit der Bergpredigt gar nicht zu reden.“ Die Mafia selbst sei deshalb nur zufällig hier: „Es ist der alte Bodensatz Europas. Der Geist der Mafia ist überall. Es ist der Ungeist der Erbsünde.“

Die Mafia ist so geheim wie die Freimaurer

Sein Vater war Fischer. Er zeigt ihn auf einem alten Foto, das ihn mit seiner Mutter und seinen vielen Geschwistern zeigt, als er in Poona in strahlendem Weiß ins Seminar eintrat. In Indien ist der Aushilfspfarrer Professor für Philosophie und moderne Sprachen. Außer Tamilisch spricht er auch Englisch, Französisch, Deutsch und Italienisch fließend. Sein Zimmer ist vollgestopft mit Büchern: Bücher auf dem Bett, dem Schrank, auf und unter dem Sofa, Bücher einfach überall.
Don Stefano fischt ein Foto hervor, das eine Nichte mit ihrer Tochter in bunten Saris zeigt, die der Tsunami daheim in die Tiefe gerissen hat. Er erfuhr davon, als er gerade Beichte hörte. – Ja, die Leute kommen zur Beichte. Das Bekenntnis der Sünden klingt hier nicht anders als anderswo. Natürlich kommt nicht jeder. „Ich bin Priester, kein Polizist, kein Richter, kein Staatsanwalt. Rund 30 Prozent, sagen die Carabinieri, sollen hier im Netz der ’Ndrangheta auf die eine oder andere Weise verwickelt sein. Doch ob die Polizei das weiß? Die Mafia ist so geheim wie die Freimaurer. Kennen Sie die Freimaurer in ihrer Straße in Rom?“

Die Kirche muss der Welt die Hoffnung zurückgeben

Im oktoberlich warmen Kalabrien trägt Don Stefano eine Daunenjacke, als vermisse er immer noch die Hitze seiner Kindheit. Manchmal überkommt ihn Heimweh, nach der scharfen Küche seiner Heimat etwa. Es ist ein Weh, das sich auch mit Penne all’arrabiata nicht richtig lindern lässt.

Natürlich ist er allein. „Doch am richtigen Platz!“, sagt er. „Der Staat ist draußen: Er ist bei den Carabinieri, die die Zugänge nach San Luca kontrollieren. Doch ich stehe hier am Altar. Nur die Kirche ist mitten in San Luca.“

Was aber hat der Intellektuelle den Leuten hier zu sagen? „Unser Leben ist bedeutend! Gerade als Minderheit muss die Kirche der Welt die Hoffnung zurückgeben – und die Vergebung, das Erbarmen. Sonst wird alles sinnlos, friedlos.“ Zum Abschied packt er uns frische kalabresische Würste ein, Olivenöl, eingelegte wilde Artischocken und andere Köstlichkeiten, allesamt Geschenke aus dem Ort, die er allein gar nicht alle essen kann. „Schreiben Sie nichts Schlechtes über die Leute!“, sagt er und lächelt. „Schreiben Sie nichts Schlechtes, es sind gute Menschen.“ Danke, danke, sage ich, halt, nicht so viel, und denken die Leute nicht manchmal, Sie sind verrückt? Jetzt lacht er: „Verrückt? Wir sind das Salz der Erde.“
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