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Die Christen haben nicht mehr das Heft in der Hand


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Rolf

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25. September 2007, 00:00 Uhr




Um im Libanon existieren zu können, muss man einer Konfession angehören





Die Christen haben nicht mehr das Heft in der Hand





Von Jacques Naoum

Die christlich-orthodoxe Gemeinde der zweitgrößten libanesischen Stadt Tripoli (850 000 Einwohner) zählt ungefähr 50 000 Mitglieder. Orthodox deshalb, weil sie Dogma und Ritus der byzantinischen Kirche beibehalten hat, die während der Islamisierung im Osmanischen Reich beinahe vollständig verschwand. Die übrigen Einwohner der Stadt sind fast vollständig sunnitische Muslime. Mehrheitlich konservativ, prägen sie das Profil der Stadt. Die zahlreichen Moscheen und Minarette, die überall aus der Skyline der dreiteiligen Stadt ragen, das Gassengewirr der Altstadt um den zentralen Marktplatz (Souk), die ernsten Männer und verschleierten Frauen und die exotischen Düfte aus den Kaffeehäusern und Restaurants verleihen der Stadt eine mittelalterliche Atmosphäre, die im Libanon ihresgleichen sucht.

Auf einem Hügel vor dem libanesischen Bergmassiv ragt die Zitadelle des fränkischen Kreuzritters Raimund von Toulouse und Saint-Gilles aus dem 12. Jahrhundert empor, von der aus man die Grenze zu Syrien am Fluss Nahr al-Bared erblicken kann sowie das gleichnamige palästinensische Flüchtlingslager, wo die fast vier Monate andauernden heftigen Kämpfe zwischen der libanesischen Armee und Freischärlern der Fatah al-Islam, bei denen über 150 Soldaten und ebenso viele Milizionäre starben, endlich ein Ende gefunden haben. "Vier Monate lang lebten wir in Angst. Den ganzen Tag über hörten wir die dumpfen Schläge der Granaten, die Nacht war erleuchtet vom Mündungsfeuer der Kanonen", sagt der orthodoxe Professor Anton.

Wie die Angehörigen aller 19 Konfessionen des Libanon bleiben auch die Orthodoxen unter sich. Drei mal am Tag und fünfmal an Sonn- und Feiertagen läuten die beiden Glocken in Tripoli zum Gottesdienst. Jeden Sonntag begibt sich die orthodoxe Schülerschaft in Reih und Glied zur heiligen Messe. Jeden Tag findet Religionsunterricht statt. Mischehen mit anderen christlichen Konfessionen sind nicht gern gesehen, mit Muslimen enden sie für gewöhnlich in einem Drama mit Selbstmord. Alle Versuche der kaum vorhandenen aufgeklärten Zivilgesellschaft, den strengen Konfessionalismus zu lockern, scheitern am erbitterten Widerstand der Konservativen aller religiösen Fraktionen. "Um im Libanon existieren zu können, muss man einer Konfession angehören, Leute die aus Überzeugung oder Trotz keiner angehören, können weder heiraten oder sich scheiden lassen, können weder erben noch wählen oder gewählt werden." konstatiert der Jurist und Akademiker G.A. Sabra.

Zu Mandatszeiten versuchten die maronitischen Christen, das Land zu einer frankophonen Provinz zu machen. "Der Libanon ist ein christliches Land. Lasst die Muslime in Mekka leben.", antwortete der damalige maronitische Staatspräsident Emile Edde 1940 auf die Beschwerde der Muslime, sie würden als zweitklassige Bürger behandelt. Im Zweiten Weltkrieg gelang es den Briten, das Frankreich unter Vichy aus dem Libanon abzudrängen. Sie schufen den modernen libanesischen Staat, in dem die politischen Ämter nach einem strengen Proporzsystem unter den Konfessionen verteilt sind. Bis zum Bürgerkrieg 1975-90 hatten die Christen mit dem Amt des Staatspräsidenten, der gleichzeitig Armeechef war, das Heft in der Hand. Ein funktionierender Staat wurde nicht geschaffen. Im Moment blockiert der seit einem Jahr andauernde Protest der Hisbollah und ihrer Anhänger im Zentrum von Beirut das politische Leben. Sie beharrt auf den Rücktritt der Regierung vor der Wahl des neuen Staatspräsidenten am 25. dieses Monats. Aber auch die drittgrößte Konfession, die der maronitischen Christen, verhält sich in diesem babylonischen Durcheinander kompromisslos. Das maronitische Establishment lehnt es bislang ab, einem der Kandidaten zuzustimmen. General Michel Aoun, Erzfeind Syriens, paktiert mit seiner neuen Partei zur Überraschung aller mit der Hisbollah, in der Hoffnung, die Wahl zu gewinnen.

Warum ist nach so vielen Jahrzehnten innerer Selbstzerfleischung im Libanon kein Ausgleich zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen möglich? In den 70 Jahren seit der Unabhängigkeit haben es die führenden Schichten versäumt, Strukturen zu schaffen. Die Christen sehen sich als etwas Besonderes und wollen nicht mit den Muslimen identifiziert werden. Diese wiederum fordern eine klare arabische Identität, die das kulturelle Fundament des Landes ausmachen soll. So ist es nicht verwunderlich, dass in dem gerade mal zehntausend Quadratkilometer großen Land die kulturelle Landschaft und die Ausbildung alles andere als einheitlich sind.

Im christlichen Revier des Libanon sprechen die Einwohner Französisch, schicken ihren Nachwuchs für teures Geld auf französische Schulen, während die Muslime in öffentlichen Schulen oder islamischen Lehranstalten auf arabisch ausgebildet werden. An den Christen im Libanon ist die abendländische Aufklärung und Säkularisierung vorbeigegangen, sie sind Außenseiter geblieben wie die Moslems. Sowohl Moslems als auch Christen im Libanon nehmen in der Stunde der Bedrohung die schauerlich ausgemalten Endzeitvisionen ihrer heiligen Bücher wörtlich. Den religiösen Autoritäten der verschiedenen Lager ist so der wirksamste Propagandastoff in die Hände gelegt um die Leute zu fanatisieren. Die meisten Menschen im Libanon - Assyrer, Armenier, Palästinenser, Drusen, Kurden - mussten irgendwann ihre angestammten Wohngebiete in Furcht verlassen. Die Bilder schrecklicher Gewalt haben sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Ein neuer Bürgerkrieg würde sich im Land der Zedern schnell in alle vier Himmelsrichtungen ausbreiten.

Der libanesische Autor wurde in Tripoli geboren und lebt als Publizist in Berlin. Er schreibt für libanesische und englische Medien.
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