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Heilung durch den Geist als Thema neuer Religiosität


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Reinhard Hempelmann




Heilung durch den Geist als Thema neuer Religiosität





Mit dem Stichwort “neue Religiosität” wird auf den Vorgang hingewiesen, daß Modernisierungsprozesse in westlichen Gesellschaften nicht nur durch fortschreitende Säkularisierungstendenzen bestimmt sind, sondern auch durch die Ausbreitung einer häufig unbestimmten Religiosität, die sich selbst als “dogmenfrei” versteht und überaus individuell geprägt ist. Ohne Übertreibung kann gesagt werden, daß dabei das, was im Zuge neuzeitlicher Aufklärung als Magie oder Aberglaube bezeichnet wurde, eine neue Renaissance erfahren hat. Mit dem Schwinden eines bewußt gestalteten Glaubens breiten sich offensichtlich nicht nur Indifferenz und religiöse Gleichgültigkeit aus, sondern auch eine archaische Religiosität, die keine Scheu kennt vor Astrologie, Okkultismus und Spiritismus und die offen ist für die Aufnahme von Traditionen, Weltanschauungen und religiösen Praktiken und Ritualen aus unterschiedlichen Religionen. Ein wichtiger Bestandteil dieser neuen Religiosität ist eine überaus facettenreiche und alternativ geprägte Heilungspraxis, die sich in deutlicher Distanz zur modernen Medizin begreift.

Zwar gibt es in den hiesigen Kirchen inzwischen respektable Versuche, neue Zugänge zum Heilungsauftrag des Evangeliums zu entdecken. Vielfach ist das Thema “Heilung” aus dem Kontext christlicher Glaubenspraxis jedoch ausgewandert und Gegenstand säkularer Medizin und Therapie geworden.1 Gleichzeitig ist die Heilungsthematik in der alternativen Religionskultur der westlichen Welt allerdings beherrschend. Prospekte und Werbezettel laden ein zur Heilung durch den Geist, zur Heilung durch Farben, zur Heilung aus früheren Leben (Reinkarnationstherapie), zur Heilung durch die Heilkraft der Gedanken, zu heilsamen Trance-Ritualen. “Geistiges Heilen” ist ein wichtiges Schlagwort, und das Interesse an der eigenen Heilung ist für viele das entscheidende Tor des Eingangs in die vielfältigen Ausprägungen neuer Religiosität.
Die Ausdifferenzierung der Arbeits- und Forschungsbereiche einer überaus erfolgreichen modernen Medizin ruft offensichtlich paradoxe Effekte hervor.

Sie verstärkt die Sehnsucht nach dem einen Arzt und Heiler, der nicht nur für die Augen, das Herz oder den Hals-Nasen-Ohren-Bereich zuständig ist, sondern für den ganzen Menschen. Nicht technische Medizin soll im Kontext neuer Religiosität im Vordergrund stehen, die die Funktionsfähigkeit einzelner Organe untersucht und den Patienten zum “Spezialisten” schickt, sondern ganzheitliche Heilung, die bereits von ihrem Anspruch her zu einer Spiritualisierung und religiösen Übersteigerung therapeutischer Konzepte und Methoden neigt.2 Esoterische Heilungspraktiken und alternative Heilmethoden werden dabei immer populärer.3


1. Die heilende Kraft der Hände und der Gedanken


Um gleich zwei Beispiele für die Zentralität der Heilungsthematik im Kontext gegenwärtiger Religionskultur zu nennen, kann auf “Reiki” und auf “Positives Denken” verwiesen werden.

Das Wort Reiki (rei – universal; ki – Energie) ist zu übersetzen mit “universaler Lebensenergie”. “Rei” und “ki” verhalten sich aus der Sicht westlicher Reiki-Meister wie “Ozean” und “Welle”. Reiki ist eine Methode des Heilens durch Handauflegung. Sie hat einen japanischen Ursprung und wurde insbesondere mit taoistischem und esoterischem Gedankengut verbunden. In der westlichen Welt ist sie ausgesprochen populär geworden.4 Reiki-Meister beanspruchen, “spürbar wirkende Kraft” zu vermitteln, “die jeder, der damit in Berührung kommt, empfindet”5. In der Reiki-Technik werden diejenigen Positionen und Handstellungen vermittelt, die den Reiki-Praktiker dazu befähigen, heilende Energieströme weiterzugeben, um Schmerzen zu lindern und Heil- und Lichtenergie in die erkrankten Bereiche des Körpers zu bringen. In Initiationskursen wird der “Reiki-Kanal geöffnet”, so daß der Behandelnde wie “ein hohles Bambusrohr” wird, durch das die heilende Kraft “ungehindert hindurchfließen kann”6.

Zwar hat der Reiki-Praktizierende eigentlich “nichts anderes zu tun als dem Strom der heilenden Energien aus dem Weg zu gehen, also sein begrenztes persönliches Ich aus dem Prozeß herauszuhalten”, dies dürfte aber für viele, die die Qualifikation als Reiki-Meister erreicht haben, gar nicht einfach sein, da die Geistenergie als verfügbar angesehen und von einer magischen Wirksamkeit ausgegangen wird. Das Bewußtsein, jemand zu sein, durch den heilende Kräfte zu anderen Menschen kommt, macht es offensichtlich schwer, die “Ego-Falle” zu vermeiden, über die in Anweisungen zur Reiki-Praxis vereinzelt geredet wird.

Es ist einfach, Reiki zu erlernen. Nach dem ersten und zweiten Grad, der schon nach einem Wochenende zum Abschluß gebracht werden kann, wird die Teilnehmerin bzw. der Teilnehmer dazu befähigt, “bei sich und im Bekanntenkreis Reiki anzuwenden”.7 Die Kosten für Einweihungskurse sind freilich nicht gering. Wie weit die Wirksamkeit von Reiki reicht, ist allerdings auch unter den “Meistern” umstritten. Jedenfalls glaubt man, daß es auch “bei Pflanzen und Tieren, ja angeblich sogar bei nicht anspringenden Autos” funktioniert.8 Ausdrücklich kann darauf verwiesen werden, daß Reiki kein Ersatz für andere Formen des Heilens ist. Es ist bezeichnend, daß sich in den Lehr- und Lernbüchern für die Reikitechnik zahlreiche Hinweise finden, die Ursachen von Krankheiten zu erkennen. Krankheiten werden als Zeichen der Unordnung auf der geistigen Ebene interpretiert.

Techniken Positiven Denkens leiten dazu an, die Heilkraft der Gedanken zu entdecken und Einfluß zu nehmen auf Körper und Seele, um Wohlbefinden und Gesundheit zu fördern. “Wenn Sie krank sind, möchten Sie vielleicht affirmieren: `Ich bin vollkommen, ich bin heil, ich bin gesund.` Seien Sie sich bewußt: Affirmieren bedeutet, festzustellen, daß es so ist. Außerdem müssen Sie auch empfinden, daß es so ist. Auf diese Weise erreicht die Affirmation Ihr Unterbewußtsein. Das Unterbewußtsein urteilt nicht, es geht davon aus, daß die Behauptung stimmt. Das Wunderbare am Unterbewußtsein ist seine Fähigkeit, Dinge geschehen zu lassen.”9 Das Positive Denken stellt für jedes Problem Lösungen in Aussicht10 und geht von der schöpferischen, ja göttlichen Kraft der Gedanken aus. “Denken Sie daran: Sie werden zu dem, was sie denken! Üben Sie daher, ein positiver Denker zu sein. (…) Sie können sich selber krank oder gesund machen, durch die Gedanken, die Sie gewöhnlich denken.

Erlauben Sie kranken Gedanken nicht in Ihren Körper einzufließen”.11 Hingewiesen wird auf Techniken von Affirmation, Visualisierung und auch Schlaftechniken, die zur Gesundung des Menschen führen sollen.
Positives Denken ist dem weltanschaulichen Konzept der Neugeist-Bewegung (New Thought) verpflichtet, das Gott als unpersönliche und gesetzmäßig wirkende Kraft versteht und die Übel und Unvollkommenheiten des Lebens als Folge der Nichterkenntnis des wahren göttlichen Lebens ansieht. Zahlreiche Vertreter dieser Richtung greifen Worte der Bibel, insbesondere Jesusworte auf (“Dein Glaube hat dir geholfen”), um ihre Anliegen vorzutragen. Sie geben ihnen freilich einen anderen Sinn und vereinnahmen sie für das zentrale Anliegen, daß die entscheidende Hilfe für die Meisterung des Lebens “aus der Kraft des Geistes durch richtiges Denken” kommt.


2. Heilung durch Bewußtwerdung von Krankheitsbildern

Thorwald Dethlefsen und Rüdiger Dahlke weisen auf dem Hintergrund eines esoterischen Welt- und Lebensverständnisses in zahlreichen Publikationen darauf hin, daß Krankheiten Ausdruck geistigen und seelischen Geschehens sind.12 “Der Körper ist niemals krank oder gesund, da in ihm lediglich die Informationen des Bewußtseins zum Ausdruck kommen. (...) Der Körper verdankt seine Funktion ja gerade jenen beiden immateriellen Instanzen, die wir meist Bewußtsein (Seele) und Leben (Geist) nennen.”13 Wie beispielsweise auch die Christian-Science-Bewegung gehen Dethlefsen / Dahlke davon aus, daß die wahrnehmbare Welt Widerspiegelung des geistigen Wesens ist. Krankheit ist “Sprache der Seele”, also nicht (äußere) Belastung und Begrenzung, sondern Ausdruck eines inneren Geschehens. Sie ist insofern als “Tor der Wandlung” oder – nach einem bekannten Buchtitel – als “Weg” zu sehen, als etwas, was man, insofern es wichtige Informationen vermittelt, willkommen heißen kann. “Krank sein heißt, daß der Mensch aus einer Ordnung herausgefallen ist, heißt, daß er nicht mehr im Gesetz lebt.

Dieses Kranksein wird signalisiert durch Symptome. Symptome haben Signalfunktion und können – richtig verstanden – uns einen Weg zum Kranksein und dessen Heilung zeigen. Die Symptome selbst sind keine Krankheit. Die Symptome zum Verschwinden zu bringen, ist deshalb das Unwichtigste der Welt”.14 Damit aber sehen sie die moderne Medizin beschäftigt. Sie laboriert an den Symptomen, die lediglich Sekundärphänomene und äußere Begleiterscheinungen derjenigen Lern-Lektionen sind, die sich in Krankheiten dem Menschen mitteilen. Verständlich wird daraus die zentrale Bedeutung, die die Schulmetaphorik bei Dethlefsen und Dahlke spielt. Krankheiten informieren uns über noch nicht gemachte “Hausaufgaben” (auch aus früheren Leben), sie sind “in die Stofflichkeit gestürzte Schattenteile des Bewußtseins”15.

Dem Krankheitsverständnis von Dethlefsen und Dahlke entspricht das Verständnis von Heilung. Somatische wie psychische Symptome gehören zur Ebene des Ausdrucks. Heilung aber kommt durch Bewußtwerdung und Erkenntnis. Es kann sogar gesagt werden, daß Erlösung durch Erkenntnis kommt, womit an eine klassische gnostische Maxime erinnert wird. Denn Heilung ist priesterlicher Dienst, der den Menschen mit dem göttlichen Urprinzip versöhnt und insofern auch Heiligung und Heil schafft.

Auch der Tod wird von Dethlefsen / Dahlke auf eine letztlich zu vernachlässigende Symptomebene gezogen. Entsprechend ist die “Aussöhnung mit dem Tod als (Er)Lösung unseres Lebens die beste Basis für Heilung. (…) Wir müssen lernen, unsere westliche Art des Wertens, die in der Einstellung gipfelt, daß das Leben gut und der Tod schlecht ist, zu überwinden. Betrachtet man das Leben wie die esoterische Philosophie als Schule, verschieben sich sogleich die Gewichtungen. Möglichst lange in der Schule zu bleiben ist keine besonders hervorragende Leistung”16. Mit solchen Sätzen werden die Unterscheidung zwischen Leben und Tod, aber auch ethische Kriterien weich gemacht. Das esoterische Welt- und Lebensverständnis führt hier zu einer verharmlosenden Betrachtung von Krankheit, Leiden und Tod.

In ihren Büchern haben Dethlefsen und Dahlke umfassend die Lektionen und seelischen Fehlhaltungen aufgelistet, auf die sich die entsprechenden Symptome beziehen: Wenn “ein Mensch in seinem Leben (…) unbeugsam wird, korrigiert ein Wirbelbruch diese Einseitigkeit – es wird ihm das Rückgrat gebrochen –. Dem kann man vor-beugen, indem man sich freiwillig beugt”.17 Solche “erklärenden” Sätze, die in der Konfrontation mit leidenden Menschen nur als respektlos bewertet werden können, lasten die Verantwortung für alle leidvollen Erfahrungen allein dem Individuum an. Jeder Mensch sucht sich seine Unfälle und Krankheiten gleichsam selber aus. “Die Verantwortung für das, was uns in unserem Leben zustößt, tragen wir immer selbst. (…) Wenn jemand leidet, leidet er immer nur unter sich”.18 Ein Verständnis von Krankheit als Träger von Informationen neigt offensichtlich dazu, Kausalzusammenhänge herzustellen und Lektionen zu formulieren, die dem konkreten Leiden nicht mehr gerecht werden. Jörg Wichmann wirft in seinem Buch über “Die Renaissance der Esoterik” in diesem Zusammenhang mit Recht die Frage auf: “Was soll denn ein Säugling aus seinem Tumor lernen?”19


3. Heilung durch die Kraft des Vertrauens der Seele

Eugen Drewermann, dessen zahlreiche Publikationen immer auch wichtige Hinweise für gegenwärtige religiöse Trends enthalten, macht die tiefenpsychologische Traum- und Mythendeutung von C. G. Jung zum methodischen Schlüssel seiner Bibelexegese und sieht darin für den neuzeitlichen Menschen einen nachvollziehbaren Weg zum Verständnis biblischer Texte.20 Hatte für Sigmund Freud die Religion die Funktion einer universellen Zwangsneurose, so kann sie nach C. G. Jung einen Beitrag zur Heilung der Neurosen leisten. “Unter allen meinen Patienten jenseits der Lebensmitte, d. h. jenseits 35, ist nicht ein einziger, dessen endgültiges Problem nicht das der religiösen Einstellung wäre.

Ja, jeder krankt in letzter Linie daran, daß er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben und keiner ist wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht, was mit Konfession und Zugehörigkeit zu einer Kirche natürlich nichts zu tun hat”.21 Im Anschluß an C. G. Jung zielen die Drewermannschen Empfehlungen darauf ab, die Selbstannahme des Menschen, und zwar auch seiner Schatten, zu fördern und damit den Weg zur Individuation zu eröffnen. Das Offenbarungsgeschehen wird dabei in Anknüpfung an Jung mit dem therapeutischen Geschehen in einen Zusammenhang gebracht. Der Offenbarer wird gewissermaßen zum Therapeuten, der die Bilder des Heils auf den Plan ruft, die in jeder Seele angelegt sind. Gott bzw. das kollektive Selbst enthüllt sich in den archetypischen Bildern der Seele, die in der gesamten Religionsgeschichte präsent sind und aus denen die Kräfte der Heilung erwachsen.
Am Beispiel seiner Deutung der neutestamentlichen Heilungswunder läßt sich seine Konzeption veranschaulichen.

Ihre anthropologische Voraussetzung ist die “Gottgemäßheit der menschlichen Seele, ihre wunderbare Fähigkeit, sich in den Schichten ihres Unbewußten dem Geheimnis des Daseins in den ewigen Bildern der Religion zu öffnen”.22 Inspiriert von S. Kierkegaard sieht Drewermann, daß diese Möglichkeit der menschlichen Seele durch vielfältige Gestalten der Daseinsangst gefährdet wird, die der eigentliche Grund aller seelischen und körperlichen Erkrankungen ist. Das therapeutische Geschehen verfolgt deshalb das Ziel, Vertrauen zu stärken und Angst abzubauen. Wo Angst bestimmend war, soll Vertrauen wachsen. Ich und Selbst sollen wieder im Einklang leben.

Da körperliche Krankheiten nach Drewermann ihre Ursache in verdrängter seelischer Angst haben, erzählen die neutestamentlichen Heilungsgeschichten von den Heilungen der Seele, von “religiösen Psychotherapien”. Sie erzählen, wie jemand das Vertrauen zurückgewinnt und welche “Erfahrungen ihn dazu bringen (…), gegen alle Angst, das Laufen, das Sehen, das Hören, das Sprechen wiederzuerlernen”.23 Jesus tritt in diesen Geschichten als Archetyp des Therapeuten in Erscheinung, denn er versteht es auf geniale Weise, in der Seele des Menschen die Kräfte der Selbstheilung zu wecken. Jesus heilt bzw. heilte also nach Drewermann nicht körperliche Krankheiten und Leiden auf wunderbare Art und Weise. Die Heilung des Körpers ergab sich vielmehr als Folge einer inneren Heilung durch die Kraft des Vertrauens.

Da das religiös Wesentliche nach Drewermann “ubiquitär” ist, also überall und zu jeder Zeit zu finden, kann er empfehlen, bei den Schamanen in die Lehre zu gehen, um einen vertieften Zugang zum Sinn der Heilungsgeschichten zu finden. Die schamanistische Praxis ist für ihn vorbildlich, da sie einen unmittelbaren Zugang zu “übersinnlichen Kräften” besitzt und die heilenden Kräfte zu wecken in der Lage ist, die in allem Dasein gegenwärtig sind. 24


4. Die Wiederkehr der Schamanen oder Heilung durch Kontakt zu den Geistern

Im Kontext neuer Religiosität sind Personen keine Seltenheit, die sich als Schamanen bezeichnen oder als solche bezeichnet werden. Dies gilt auch für jenen Bereich, für den Schamanen u.a. Zuständigkeit besaßen, nämlich den Bereich von Krankheit und Gesundheit. Für den Schamanismus konstitutiv sind: Ekstase, Verbindung mit jenseitigen Mächten und Geistern, Formgebundenheit und gemeinschaftsdienliche Zielsetzung des Handelns.25 “Schamanistisches Tun hat eine altruistische Zielsetzung als Mittler zwischen Diesseits und Jenseits, als Anwalt der Seele und des Lebens, das vor negativen Einflüssen geschützt werden soll. Schamanen sollen durch ihr Wirken für die Gruppe Leben sichern und Lebensqualität verbessern”.26 Als wesentliches Moment des Schamanismus wird man die Seelenreise in andere Welten ansehen können, auf die sich der Schamane durch Anwendung ekstatischer Techniken begibt.

Die dabei stattfindende Ausweitung des Bewußtseins schafft für ihn die Möglichkeit, mit Geistern in Kontakt zu treten oder mit Hilfe von Hilfsgeistern, “Geister der Krankheit zu erkennen und sie aus Patienten herauszulocken oder auszutreiben”.27 Diese “archaischste und am weitesten verbreitete okkulte Tradition” (M. Eliade), die mit einem magischen Weltverständnis verbunden ist und sich in verschiedenen Religionen und Kulturen finden läßt, übt auf das, was als “neue Religiosität” bezeichnet wird, eine anhaltende Faszination aus. Freilich gibt es grundlegende Unterschiede zwischen dem Schamanismus der Stammeskulturen und dem der Workshops. Vor allem wird im Neoschamanismus die ekstatische Erfahrung wie auch die “Reise” der Seele in die Unterwelten und Überwelten für jedermann zugänglich gemacht. “Jeder will sein Krafttier entdecken und sich seine Hilfsgeister dienstbar machen”.28 Ekstatische Erfahrungen und schamanistische Trancereisen sollen dem einzelnen bei seiner spirituellen Vervollkommnung helfen.

Der Versuch, in die Urmöglichkeit schamanistischen Handelns zurückzukehren, ist freilich mehr Wunschtraum als Wirklichkeit. Die enge Verbindung des Schamanismus mit Ekstasetechniken enthält jedoch eine Strategie, wie heilende Kräfte zugänglich gemacht werden sollen. Dabei kommt nach Meinung von Michael Harner dem Schamanen die Aufgabe zu, “die Menschen auf liebevolle Art von ihrer Besessenheit zu befreien. (…) Ein erfolgreicher Schamane sieht dabei nicht nur das, was andere nicht sehen. Er bringt auch Ereignisse hervor – Heilungen, Wunder, wenn Sie so wollen –, die die Gültigkeit dessen beweisen, was er wahrnimmt”.29


5. “Du kannst das haben, was du bekennst.”30

“Heilung in der Kraft des Geistes” ist auch Motto charismatisch-pfingstlicher Frömmigkeit; nicht nur der Titel eines wichtigen Buches des 1997 verstorbenen Gründers und Inspirators der Vineyard-Bewegung, John Wimber, sondern auch ein zentrales Anliegen nahezu aller Ausprägungen pentekostal-charismatischer Frömmigkeit.
Sucht man ein pointiertes Beispiel für die These der Geistbestimmtheit von Welt und Mensch im Kontext pfingstlich-charismatischer Frömmigkeit, so kann auf die Erfolgstheologie von Kenneth Hagin und Kenneth Copeland bzw. auf die Glaubensbewegung verwiesen werden, die freilich auch in der charismatischen Bewegung selbst überaus umstritten ist. Die in vielen Strömungen der neuen Religiosität virulente These, daß der Geist die letztlich bestimmende Wirklichkeit ist, kann auch im Blick auf diese Bewegung belegt werden, in der sich der pfingstlich-charismatische Impuls mit der Kraft des Positiven Denkens verbunden hat.

Sie lehrt, daß von der Erneuerung des menschlichen Geistes ausgehend, eine umfassende – auch körperliche – Heilung des Menschen und aller seiner Beziehungen möglich ist. Über Essek William Kenyon (1867–1948), der die Vertreter der Glaubensbewegung maßgeblich beeinflußte, kamen zentrale Anliegen der Neugeistbewegung auch in den Bereich pfingstlich-charismatischer Frömmigkeit. Wie Kenyon unterstreicht auch die Glaubensbewegung, daß der Geist zentrale Wirklichkeit des Menschen ist. Die Gesamtperson, ihre Identität und Eigenart, wird demnach durch die Summe ihrer Denkinhalte bestimmt, nach dem Motto: “Wie der Mensch denkt, so ist er.” Bewußtsein konstituiert Sein.

Ein biblisches Schlüsselwort, auf das sich die Glaubensbewegung beruft, ist Röm 10, 8. Ein wesentlicher Grundsatz ist die vorausgesetzte Gesetzmäßigkeit von “Glauben, Proklamieren und Besitzen”. Es ist die Überzeugung der Vertreter dieser Bewegung, daß Realität durch die Vorstellungskraft des Geistes und das Bekenntnis des Mundes geschaffen wird. Durch das Proklamieren des göttlichen Gesetzes kann der Mensch Armut und Krankheit überwinden und seine Lebenssituation grundsätzlich verändern. Von der Erneuerung des menschlichen Geistes ausgehend, sieht man eine umfassende, auch körperliche Heilung des Menschen und aller seiner Beziehungen, in denen er lebt, als möglich an. Die diesem Denken zugrundeliegende Anthropologie geht davon aus, daß der Mensch primär ein geistbegabtes Wesen ist, das mit Hilfe seines Geistes und seiner Vorstellungskraft, sofern diese mit Gottes Geist verbunden sind, teilhat an göttlicher Macht und erneuernden und heilenden Einfluß auf Seele und Leib ausüben kann, so daß eine enge und organische Verknüpfung von Evangelium und Wohlergehen, Wohlstand und Heilung entwickelt wird.

Die Möglichkeit, daß man mit Hilfe der übernatürlichen Kraft des Geistes alle Lebensprobleme in den Griff bekommen kann, wird entsprechend positiv eingeschätzt. Die Vertreter der Glaubensbewegung leiten daraus eine übergroße Ausstattung mit geistlicher Macht und Energie für die christliche Existenz ab. “Wir werden mit ihm herrschen.” Diese in der Bibel streng futurisch gemeinte Verheißung wird ins Präsenz gehoben. Die Herrschaft der Gläubigen über Krankheit ist dabei nur ein Beispiel unter anderen, freilich ein sehr wichtiges Beispiel, dessen Zentralität weit in die Vorgeschichte charismatischer Frömmigkeit hineinreicht. Mit ihr verbunden ist die explizite Hervorhebung der Zusammengehörigkeit von Heil und Heilung. Die Ausstattung mit göttlicher Kraft und Autorität bezieht sich im Prinzip auf alle Lebensbereiche. Die neutestamentliche Aussage, daß “alle Dinge möglich sind, dem der da glaubt” löst man aus ihrem religiös-metaphorischen Sprachzusammenhang heraus und zieht sie ins Ultrakonkrete.

Publizistisch wird die Glaubensbewegung in den Schriften von Kenneth Hagin, Kenneth Copeland, Frederick K. C. Price, Paul bzw. David Yonggi Cho u. a. konkret. In Uppsala / Schweden ist es Ulf Ekman, der als Gründer des dortigen Word of Life-Bibelzentrums die Bewegung in zahlreichen Publikationen verbreitet hat. In Deutschland haben neben den Übersetzungen der englischsprachigen Autoren vor allem die Schriften von Wolfhard Margies Theorie und Praxis der Glaubensbewegung bekannt gemacht.31


Schlußüberlegungen

1. Die Attraktivität alternativer Heilmethoden wie sie in unterschiedlichen Bereichen gegenwärtiger Religionskultur zum Ausdruck kommt, zeigt an, daß die Suche nach Heilung und Heil eine zentrale Kraft gegenwärtigen religiösen Fragens ist. Auch wenn die skizzierten Antworten verkürzt, vordergründig, falsch und zum Teil äußerst fragwürdig sind, ist die Sehnsucht, die hinter ihnen steht, als Herausforderung für das gegenwärtige christliche Zeugnis ernst zu nehmen. Die Suche nach seelischer und körperlicher Heilung muß offensichtlich in verschiedenen gemeindlichen Handlungsvollzügen (Gottesdienst, Seelsorge, Katechetik) deutlicher berücksichtigt werden.

2. Die genannten Beispiele lassen sich nicht über einen Kamm scheren. Kritische Auseinandersetzungen mit ihnen können nicht pauschal erfolgen. Für alle genannten Beispiele ist allerdings kennzeichnend, daß sie sich unter das Ideal der Ganzheitlichkeit stellen. Dies ist jedoch insofern unberechtigt, als letztlich eine den Leib als etwas Äußeres abwertende Tradition durchweg bestimmend ist. Menschsein wird primär als durch den Geist konstituiert verstanden. Die gnostisierende These, daß der Geist die Materie bzw. die Seele den Leib regiert, steht im Widerspruch zu der behaupteten Konzeption der Ganzheitlichkeit, von der man erwarten muß, daß sie die Leiblichkeit des Menschen mitein-schließt. Heilung durch den Geist ist einem idealistischen Verständnis des Menschen verpflichtet, das der Wechselseitigkeit leiblicher und geistig-seelischer Prozesse in der Wahrnehmung des Menschen nicht gerecht zu werden vermag.

3. Auch die Aussagen Drewermanns können und müssen als eine originelle Variante des Konzepts “Heilung durch den Geist” angesehen werden, was ihm selbst offensichtlich bewußt ist. So betont er, daß er anders als die Christian Science-Bewegung keinen Rückgang in eine vorwissenschaftliche Denkweise vollziehen möchte. Gleichzeitig fordert er unter Bezugnahme auf Fritjof Capra ein Welt- und Menschenbild, “das die cartesianische Entgegensetzung von Subjekt und Objekt, Denken und Gefühl, Geist und Körper, Gott und Welt endgültig hinter sich läßt”32 und das Erbe der Schamanenweisheit für den Umgang mit Krankheit fruchtbar macht.

4. Es ist bezeichnend, daß eine ganze Reihe von Anliegen, die einst die sog. Neugeistbewegung vortrug, sich heute großer Beliebtheit erfreuen, vermischt und abgewandelt freilich durch Angebote moderner Gebrauchsesoterik. Insbesondere die antimaterialistischen und antiorthodoxen Affekte dieser Bewegung haben offensichtlich breite kulturelle Akzeptanz gefunden.
Krankheit und Heilung werden in den skizzierten Beispielen fast ausschließlich aus einer individualistisch geprägten Anthropologie betrachtet. Die psycho-soziale Dimension von Krankheit und Gesundheit wird weitgehend ausgeblendet.

5. Die These von der Dominanz des Geistes bzw. des Geistigen führt bei nicht wenigen Ausprägungen neuerer Religiosität zu einem unrealistischen Heilungsoptimismus, überzogenen Heilungsversprechen und einer Verharmlosung der Gebrochenheit und Begrenztheit menschlichen Lebens. Nicht berücksichtigt wird dabei, daß zu den Grundfähigkeiten des Menschen nicht nur die Bekämpfung und Abwehr von Krankheiten gehört, sondern auch die Fähigkeit, unvermeidbares Leiden auszuhalten bzw. denen, die es aushalten müssen, solidarische Hilfe für eine menschliche Bewältigung von Krankheit und Leid zu gewähren.

6. Aus christlicher Perspektive ist es unverzichtbar, zwischen Heil und Heilung zu unterscheiden, auch dann, wenn man darum bemüht ist, das Thema Heilung dem Thema Heil nicht so unterzuordnen, daß es für die Praxis seelsorgerlichen und gottesdienstlichen Handelns praktisch bedeutungslos wird. Der Christus medicus steht durchaus im Zentrum des Zeugnisses der Evangelien. Für das christliche Verständnis des Heils ist allerdings grundlegend, daß der Mensch nicht bei sich selbst bleibt, sondern dahin kommt, die heilenden Kräfte im Geheimnis der Selbstmitteilung des dreieinigen Gottes zu suchen und zu finden. Die heilvolle Erfahrung der Nähe Gottes ist deshalb auch möglich für den, der die Heilung nicht erlangt.

7. Die erwähnten Ausdrucksformen neuer Religiosität verbinden die Suche nach Heilung mit der Sehnsucht nach Heil und Ganzsein. Darüber hinaus beanspruchen sie, Erklärungen für Krankheiten zu geben. Die Gefahr, daß hier Interpretationsschemata wirksam werden, die für sich beanspruchen, die Rätsel von Krankheit und Leiden, schnell und überzeugend lösen zu können, ist innerhalb der verschiedensten Ausprägungen neuer Religiosität überaus groß. Die skizzierten Beispiele sind bestimmt von einer erschreckenden Unempfindlichkeit gegenüber der Theodizeefrage und von Oberflächlichkeit in der Wahrnehmung menschlichen Leidens.

Mit Recht verweist Jörg Wichmann in seinem bereits erwähnten Buch darauf, daß das Kranksein, “wie das Leben selbst, am Ende ein Geheimnis” bleibt. “Wir können aus manchen Aspekten etwas lernen, aber keine Erklärung kann ihm gerecht werden – weder funktional noch esoterisch. Vor allem die Kranken und ihr Leiden, ihre Schmerzen und ihre Ratlosigkeit dürfen bei der Bildung weitschweifiger Theorien nicht unterschlagen oder gar verniedlicht werden.”33 Eine christliche Theologie wird unterstreichen, daß es nicht möglich ist, die letzten Ursachen von Leiden und Krankheit aufzuklären. Hält man sich an das Hiobbuch der Bibel und den Psalter, so ist darauf hinzuweisen, daß vor allem dem kranken und leidenden Menschen selbst eine Stimme verliehen wird. Er hat ein Recht zu reden, aus der Tiefe zu rufen und zu klagen.


Anmerkungen

1 Völlig anders stellt sich die Situation im Blick auf das Christentum der Zweidrittelwelt dar, wo Heilungsgebet und -praxis häufig ein wesentliches Moment der Glaubenspraxis sind.
2 M. Utsch, Spirituelle Psychotherapien? Zum Unterschied von Psychotherapie und Weltanschauung, in: MD 1998, 289–320.
3 Vgl. dazu M. Nüchtern, Die Kritik an der wissenschaftlichen Medizin und die Attraktivität der westlichen “alternativen” Heilmethoden, in: Concilium 34 (1998), 487–495.
4 Vgl. U. Dehn, Reiki, in: MD 1997, 221–224, und R. Hummel, Reiki – Heilungsmagie aus Japan, in: MD 1991, 163–166.
5 U. Guhl-Popat u. a., Reiki – Wer heilt denn hier?, in: Connection 11/1996, 43–46.
6 Ebd., 44.
7 Vgl die entsprechenden Hinweise in: D. Luczyn, Esoterik-Führer Stuttgart / Baden-Württemberg, Niedertaufkirchen 1993, 132.
8 Ebd.
9 P. L. Mischell, Techniken des Positiven Denkens, in: D. von Weltzien (Hrsg.), Esoterik-Lexikon, 429.
10 Vgl. den Titel des Buches von R. H. Schuller, Es gibt eine Lösung für jedes Problem, München 21991.
11 Ebd., 421 und 424 f.
12 Th. Dethlefsen, Schicksal als Chance. Das Urwissen zur Vollkommenheit des Menschen, München 351992; R. Dahlke, Krankheit als Symbol. Handbuch der Psychosomatik, München 1996; Th. Dethlefsen / R. Dahlke, Krankheit als Weg. Deutung und Bedeutung der Krankheitsbilder, München 1990.
13 Th. Dethlefsen / R. Dahlke, Krankheit als Weg, 17.
14 Th. Dethlefsen, Schicksal als Chance, 150.
15 Th. Dethlefsen / R. Dahlke, Krankheit als Weg, 127.
16 R. Dahlke, Krankheit als Symbol, 24.
17 Ebd., 316.
18 Ebd., 307.
19 J. Wichmann, Die Renaissance der Esoterik. Eine kritische Orientierung, Stuttgart 1990, 264.
20 Vgl. u. a. E. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. I und II, Freiburg i. Br. 1984 ff.
21 C. G. Jung, Über die Beziehung der Psychotherapie zur Seelsorge (1932), in: Psychologie und Religion (Studienausgabe, Olten 1971), 138.
22 E. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese Bd. II, Freiburg i. Br. 21986, 129.
23 Ebd., 238.
24 Ebd., 101 ff.
25 Vgl. A. Quack, Art. Schamanismus, in: Lexikon der Religionen, hrsg. von H. Waldenfels, Freiburg – Basel – Wien 1987, 580–582.
26 G. Schmid, Art. Schamanismus, in: Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, hrsg. von H. Gasper u. a., Freiburg – Basel – Wien 1990, 922.
27 Ebd.
28 Ebd., 946.
29 Irene Dalichow im Interview mit Michael Harner, “Schamanen und die Geister sind Alliierte”, in: esotera 5/1997, 26.
30 Vgl. K. Hagin, Der gute Kampf des Glaubens, München 31991, 121.
31 Näheres vgl. R. Hempelmann, Licht und Schatten des Erweckungschristentums, Stuttgart 1998, 123 ff.
32 E. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese Bd. II, Freiburg i. Br. 21986.
33 J. Wichmann, Die Renaissance der Esoterik, Stuttgart 1990, 264.




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