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"Der ganze Mist ist raus"


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Rolf

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"Der ganze Mist ist raus"





Tausende von Menschen driften jährlich in Psychosekten und autoritäre religiöse Gemeinschaften ab, ein Alptraum für Eltern und Freunde. Kultmitglieder aus ihrer totalen Abhängigkeit von solchen Gruppen zu lösen ist schwer. In Deutschland betreiben den heiklen Job inzwischen professionelle Ausstiegsberater - meist gegen viel Geld.

Zu Silvester versammelte sich Familie Knack um den knorrigen Eichentisch des Schweizer Chalets zum Kartenspiel. Der älteste Sohn gab das Blatt - und mischte eine ganz besondere Karte darunter: seinen Mitgliedsausweis von Scientology.

So teilte Herbert Knack, 34, seinen Angehörigen mit, daß er mit der Sekte gebrochen habe.

Die Runde freute sich enthusiastisch. Sieben Tage lang hatte die Familie aus Frankfurt am Main zusammen mit der saarländischen Ausstiegsberaterin Jeanette Schweitzer, 43, um den Sohn gerungen.

Tag und Nacht redete sie in dem Urlaubsdomizil auf Knack ein, um ihm seine Illusionen über die Psycho-Sekte zu rauben: Sie erzählte von Repressalien gegen Kritiker, vom Scientology-Geheimdienst, der Freund und Feind bespitzele, von Erziehungslagern, in denen sich ungehorsame Scientologen mit körperlichen Arbeiten und einfachster Kost demütigen lassen müßten.

Schweitzer kennt sich im Innenleben von Scientology bestens aus, sie war bis vor drei Jahren selbst Mitglied. Seit ihrer Abkehr von der Sekte fühlt sie sich berufen, auch andere aus der Abhängigkeit des Vereins zu befreien.

Jeanette Schweitzer gehört einem jungen Berufsstand mit Zukunft an, der unter dem sperrigen Namen Sekten-Ausstiegsberaterin firmiert. Bislang gibt es davon in Deutschland kaum ein halbes Dutzend. Die Profis arbeiten mitunter gegen hohes Honorar, zwischen 300 und 2.000 Mark täglich plus Spesen. Der Einsatz dauert im Schnitt drei bis vier Tage.

Schweitzer zeigte Knack Dokumente, Erlebnisberichte von Aussteigern, die niedergeschrieben hatten, wie sie von der Organisation terrorisiert wurden. Sie führte ihm vor, wie Scientologen das Denken, Fühlen und Handeln ihrer Jünger kontrollieren und sie erbarmungslos in den finanziellen Ruin treiben.

Knack, Maschinenbauingenieur und Freizeithandballer, war in einer persönlichen Krise an die Scientologen geraten. Er hatte seinen Job bei Porsche aufgegeben und lebte ohne Freunde in einer fremden Stadt. Die Sekte bot ihm Halt und köderte ihn mit dem Versprechen, er werde Teil jener Elite sein, die zu vollkommener geistiger Freiheit und zum Glück finde.

Knack verschuldete sich. In weniger als einem Jahr zahlte er 110.000 Mark für sogenannte Kommunikationskurse und "Auditing", eine Psycho-Technik mit einer Art Lügendetektor, die dem Probanden angeblich hilft, von den Traumata und Leiden seiner Vergangenheit gereinigt zu werden.

Die Anhänger des Scientology-Gründers L.Ron Hubbard hielten für alle Fragen eine Antwort parat. Sie trainierten mit Knack in einer Art Verhaltenskurs, sich gegen Verletzungen und Beleidigungen unempfindlich zu machen.

Im Gesprächsmarathon mit der Ausstiegsberaterin verhielt sich Knack zunächst, wie es ihm seine Sektenlehrer beigebracht hatten: Die sogenannte Tonskala der Scientologen sieht für jede Lebenslage eine optimale Reaktion vor, die roboterhaft einstudiert wird. Das heißt etwa, dem Blick von Kritikern standzuhalten oder bei Feindseligkeit mit Desinteresse und Langeweile zu reagieren.

Nach einer Woche war der Widerstand gebrochen. Der junge Mann fing an, die "Gegenseite als Existent" (Knack) zu akzeptieren. Er stellte sich die entscheidende Frage: "Darf ich ein totalitäres System in Kauf nehmen, nur weil ich mich dort aufgehoben fühle?"

Ausstiegsberatung ist ein heikles Geschäft. Die Profis sind zumeist die letzte Hoffnung für Eltern von Kindern, die in obskure Sekten und Lebensgemeinschaften, sogenannte destruktive Kulte, geraten sind. Von diesen Kulten gibt es in der Bundesrepublik etwa 300, mindestens eine halbe Million Deutsche sind Sektenmitglieder.

Scientology gilt als aggressivster Psycho-Verein mit etwa 30.000 Mitgliedern allein in Deutschland. Scientologen hämmern ihren Jüngern ein, jeder könne, gottgleich, Herrscher über Materie, Energie, Raum und Zeit werden, wenn er sich nur einer intensiven Psycho-Erziehung unterwerfe.

Zu den bekanntesten Kulten gehört die Sekte des inzwischen gestorbenen indischen Gurus Bhagwan. Auch die religiöse Gruppe "Universelles Leben" verehrt eine selbsternannte Prophetin: Gabriele Wittek legt das Neue Testament für ihre Jünger recht eigenwillig aus.

Alt-Kulte wie die Mun- und die Hare-Krishna-Bewegung sind bis heute ebenfalls auf Expansionskurs. Die Munies, die mit spektakulären Massenhochzeiten für Aufsehen sorgen, halten ihren Führer San Myung Mun, einen koreanischen Geschäftsmann, für den Messias und wollen ihm zur Weltherrschaft verhelfen; die Anhänger der Hare-Krishna-Gruppe hoffen durch ständiges Wiederholen von "Mantras", religiösen Formeln, eins zu werden mit dem Hindu-Gott Krishna.

Gemeinsam ist all diesen Organisationen das Bestreben, das Verhalten ihrer Mitglieder zu kontrollieren, durch sie den Einfluß und nicht selten auch das Vermögen der Sekte zu mehren.

In Amerika bietet die "Kultklinik des Jüdischen Familiendienstes" In Los Angeles seit 18 Jahren fachkundige Beratung. In ganz Europa findet sich nirgendwo ein Zentrum, in dem Kultgeschädigte professionelle Hilfe erfahren.

Zwar gibt es inzwischen ein engmaschiges Netz aus staatlichen und kirchlichen Beratungsstellen, Sektenbeauftragten und Elterninitiativen. Aber mehr als Verständnis und Solidarität haben sie meist nicht anzubieten.

Menschen, die sich religiös verbrämten totalitären Gruppen anschließen, tun dies in den meisten Fällen freiwillig, häufig werden sie durch einen Freund oder Partner angeworben. Die Werte und den Glauben der Sekte lernen sie erst nach und nach kennen.

Die "wahre Identität" werde im Laufe der Zeit von der "Kultidentität" überlagert, sagen Psychologen - eine Form des "psychologischen Totalitarismus".

Gegen die Psycho-Sekten und ihre Methoden gibt es keinerlei rechtliche Handhabe, solange dem Mitglied nicht Gefahr für Leib und Leben droht. Versuche von Angehörigen bei Gericht, die Bewußtseinskontrolle als Körperverletzung zu brandmarken, blieben erfolglos.

Der Amerikaner Ted Patrick, dessen Sohn in den siebziger Jahren in den christlichen Kult "Kinder Gottes" geraten war, griff als einer der ersten zur Selbstjustiz: Er entführte den jungen Mann und "deprogrammierte" ihn. Patrick und seine Mitarbeiter haben nach eigenen Angaben auch andere Leute im Auftrag ihrer Eltern mit Gewalt aus solchen Gemeinschaften herausgeholt, insgesamt mehrere tausend.

Die Methode, im Fachjargon als "Deprogramming" geläufig, ist brutal. Die Adepten werden an einen bestimmten Ort gelockt oder auf offener Straße gekidnappt, ins Auto gezerrt und fortgebracht.

In einem entlegenen Motel oder Landhaus ist alles bestens vorbereitet: Die Türklinken sind abmontiert, Steckdosen, Glasfenster und Spiegel verklebt, um Selbstmordversuche zu verhindern: Fanatische Kultmitglieder ziehen es mitunter vor, sich eher umzubringen als vom Glauben abzufallen.

Die Entführten werden tagelang mit Informationen bombardiert. Chuck, ein ehemaliger Mitarbeiter Patricks, bringt die Taktik auf den Punkt: "Es ist, wie wenn ein Topf Bohnen auf dem Herd steht und wir die Hitze hochdrehen: Irgendwann explodiert der Topf, und der ganze Mist ist raus."

Die Methode hat eine Erfolgsquote von über 80 Prozent, aber sie bringt die Deprogrammierer mit der Justiz in Konflikt. Ein dutzendmal stand Patrick deshalb schon vor Gericht, mehrmals wanderte er hinter Gitter. Er war auch der erste, der aus der Hilfe ein Geschäft machte. Sein Einsatz kostet, je nach Schwere des Falles, mehrere 10.000 Dollar.

Die Schweizer Krankenschwester Petra, 31, die von Bern als eine von drei illegalen Deprogrammierern in Europa arbeitet, ist überzeugt, daß bei "bestimmten Härtefällen" nur Brutalität zum Erfolg führe. Sieben Fälle übernahm die Frau, die fast fünf Jahre lang der Mun-Sekte angehörte, in den letzten vier Jahren. Alle sieben Ex-Mitglieder hätten wieder "sicheren Boden" unter den Füßen, sagt sie stolz. '"Wenn einer gesund ist, dann schafft er das. Mir geht es ja heute auch wieder gut."

Nach dem Ausstieg wohnen Petras Schützlinge mit ihr und ihrer Familie in einem Bauernhaus. Dort sollen sie sich über ihre Vergangenheit und Zukunft klarwerden. Für ihre Dienste nimmt Petra 500 Franken täglich während der Deprogrammierung und eine Monatspauschale von 3.000 Franken für die Nachbetreuung.

Gelingt der Absprung, fangen die Probleme richtig an

Andere Ausstiegsberater lehnen Gewalt strikt ab. Er weise Ratsuchenden zwar diesen "letzten Ausweg", sagt der Münchener Psychologiestudent Dieter, 35, der sich imposant "Counselor" nennt. Entscheide ein Klient sich aber für die illegale Variante, "bin ich raus". Dieter betreibt sein Gewerbe schon seit elf Jahren.

Die "sanfte" Ausstiegsberatung ist meist langwierig. Den Eltern empfehlen die Berater, sie sollten Streit mit ihren fremd gewordenen Kindern vermeiden, ihnen Verständnis und Interesse entgegenbringen. Damit könne zerstörtes Vertrauen wiederhergestellt werden.

In einer zweiten Phase, "offene Intervention" genannt, ist das von den Eltern umworbene Kind im Idealfall bereit, mit einem Experten zu sprechen. Der versucht dann, dem Sektenmitglied die Widersprüche zwischen Idee und Wirklichkeit seiner Gemeinschaft beizubringen.

Ein zweiter Weg, die "verdeckte Intervention", erfordert mehr Raffinesse" Die Eltern sorgen dafür, daß alte Freunde, Verwandte und Geschwister Kontakt mit dem Sektenmitglied aufnehmen und sich mit ihm treffen. Irgendwannn wird der Ausstiegsberater als neuer Freund vorgestellt, der sich scheinbar zufällig mit Religionen und Kulten auskennt..

Aber selbst wenn der Ausstieg gelingt - für viele Aussteiger fangen die Probleme erst danach richtig an. Fast alle kämpfen mit Depressionen, Einsamkeit, Schuld- und Angstgefühlen, mit psychosomatischen Störungen.

Am schwersten zu verarbeiten ist die Erkenntnis, daß sie zweimal die Kontrolle über ihr Leben verloren haben. Erst wurden sie von der Sekte betrogen und ausgebeutet. Dann, bei der Rückkehr ins bürgerliche Leben, ließen sie sich von Eltern und Ausstiegsprofis manipulieren.

Herbert Knack zum Beispiel hat mit seinen Eltern nie wieder über jenen Silvesterabend in der Schweiz gesprochen. "Es ist so peinlich", sagt der Frankfurter heute, eineinhalb Jahre später. "Man denkt, man ist selbständig, und dann wird man auf den Stand eines Halbwüchsigen zurückgeworfen."
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