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"Als Frau in Afghanistan lernst du, dich zu hassen"


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"Als Frau in Afghanistan lernst du, dich zu hassen"






Wie Tausende Afghaninnen wurde die 15-jährige Sahar Gul von ihrer Familie zwangsverheiratet und schwer misshandelt. Doch sie floh, klagte – und bekam Recht. Jetzt macht sie weiter.


Von Dietrich Alexander


Sahar Guls Kindheit endet, als sie 14 Jahre alt ist. Ihr Bruder hat Schulden beim Kartenspiel gemacht, die er nicht bezahlen kann. Und der Gläubiger fordert sein Geld ein. Der Bruder, Kind der zutiefst patriarchalischen Stammesgesellschaft im Norden von Afghanistan, tut das aus seiner Sicht Nächstliegende: Er verkauft seine Schwester an die Familie seines Gläubigers, für 5000 Dollar. Damit ist er schuldenfrei und zugleich seine Schwester los, die ernährt und ohnehin verheiratet werden musste. Ein gutes Geschäft also für die ganze Familie.

Sahar muss einen 30-jährigen Soldaten der afghanischen Armee ehelichen, ohne dass sie ein Mitspracherecht hat. In Afghanistan beträgt das gesetzliche Mindestalter für die Heirat bei Mädchen 16 Jahre. Aber das beachtet außerhalb von Kabul niemand, eigentlich auch in Kabul selbst nicht.

Mitte des vergangenen Jahres zieht Sahar in das Haus der Familie, das nicht nur ihr Gatte, sondern auch dessen Eltern sowie eine Schwester und ein Bruder bewohnen. Ein halbes Jahr später, im Dezember, befreien Polizisten das inzwischen 15 Jahre alte Mädchen aus einem dunklen fensterlosen Kellerraum im Haus der Schwiegereltern.

Deutliche Spuren von Folter und Misshandlung

Sahars Onkel hat die Beamten alarmiert. Zu diesem Zeitpunkt ist sie halb tot. Jawid Bascharat, Polizeioffizier in der Provinz Baghlan, berichtet, das Mädchen weise deutliche Spuren von Folter und Misshandlungen auf.

Während man Sahar im Rollstuhl ins Krankenhaus bringt, wollen die Polizisten wissen, wer sie so zugerichtet habe. Sahar antwortet mit schwacher Stimme: "Mein Schwiegervater, meine Schwiegermutter, meine Schwägerin, mein Schwager und mein Ehemann."

Die Ärzte untersuchen sie und stellen fest: Dem Mädchen fehlen eine Fingerkuppe und einige Fingernägel. Ihr Körper ist mit Narben und Blutergüssen übersät, ein Auge ist zugeschwollen, ihr Haar ausgerissen, die Kopfhaut blutig.

Sie leidet unter einem Schulterbruch und einem Schädeltrauma. "Sie war in einem schlimmen Zustand", sagt Rahima Sarifi von der Abteilung für Frauen-Angelegenheiten der Provinzregierung von Baghlan, "sie ist körperlich und psychisch gefoltert worden." Zunächst spricht Sahar gar nicht mehr. Es dauert zwei Monate, bis sie wieder lächelt.

Schwiegereltern wollen Prostitution erzwingen

Das ist Alltag in Afghanistan, auch noch mehr als zehn Jahre nach dem Sieg über die Taliban. Laut einer Studie der Hilfsorganisation Oxfam sind 87 Prozent der Afghaninnen schon Opfer von Gewalt in der Familie geworden.

Noch im März dieses Jahres konstatierte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch: "Afghanische Frauen leiden unter Belästigung, Bedrohungen und manchmal sogar Mord. Zwangsheiraten, die Verheiratung Minderjähriger und häusliche Gewalt sind weitverbreitet und noch immer zu sehr akzeptiert." Ein verbreitetes Sprichwort in Afghanistan lautet: "Der Platz der Frau ist entweder das Haus ihres Mannes oder ihr Grab."

An den zweiten Ort wäre Sahar beinahe gelangt. Die Schwiegereltern wollten sie zur Prostitution zwingen, um die Familienkasse aufzufüllen. Sie weigerte sich, und die Tortur begann: Fingernägel und Haare wurden ihr ausgerissen, eine Fingerspitze abgetrennt, andere Finger gebrochen. Sie wurde mit brennenden Zigaretten und glühenden Eisenteilen gebrannt, immer wieder geschlagen und getreten, von allen, manchmal von allen zugleich.

Eine Peitsche fürs Vieh, eine für die Gattin

Dass sie dieser Hölle entkommen konnte, ist auch das Verdienst von Nurdschahan Akbar. Die 19-Jährige stammt aus einfachen Verhältnissen, aber ihre Mutter unterstützt und fördert sie, statt sie zu verkaufen. Nurdschahan ist ein moderner Teenager in Kabul, spricht fließend Englisch, kleidet sich westlich.

Ihr einziges Zugeständnis an die afghanische Kleiderordnung: ein Kopftuch, bunt zumeist, modisch. Sie weiß, wie Frauen in ihrem Land leiden. "Mein Großvater", sagt sie, "hatte zwei Peitschen an der Wand hängen: eine für sein Vieh und eine für seine Gattin."

Die junge Frau, die zurzeit mit einem Stipendium in den USA studiert, will etwas verändern. "Das Problem ist, dass die afghanischen Frauen nicht einmal einander respektieren und achten", sagt sie. "Als Frau in Afghanistan lernst du, dich selbst zu hassen. Du lebst nicht, du kämpfst! Jeder Tag ist ein Kampf. Es wird dir beigebracht, dich zu schämen, eine Frau zu sein."

Regierung kann und will Frauen nicht schützen

Nurdschahan will sich nicht schämen, und sie will sich nicht mehr fürchten müssen. Viele mutige Frauen, die für ihre Rechte und die ihrer Geschlechtsgenossinnen eintraten, haben ihr Engagement mit dem Tod bezahlt: Eine Polizistin in Kandahar, eine Provinzabgeordnete in Helmand, eine Rechtsanwältin in Herat.

Sie alle waren ohne Schutz, die Regierung in Kabul ist entweder nicht in der Lage oder nicht willens, diese Frauen, die offene Morddrohungen erhalten, zu beschützen.

Nurdschahan hat eine Selbsthilfegruppe gegründet: "Junge Frauen für den Wandel" heißt sie. Mehr als 50 Freiwillige, auch Männer, unterstützen Frauen, die vor drogenabhängigen und gewalttätigen Ehemännern fliehen oder vor einer Zwangsverheiratung. Vor einem Jahr hat die Gruppe 20 Frauen nach ihren Erlebnissen auf Kabuls Straßen befragt.

Tägliche Beschimpfungen und sexuelle Belästigungen

Das schockierende Ergebnis: 18 von ihnen gaben an, täglich Beschimpfungen und sexuellen Belästigungen ausgesetzt zu sein, 14 sagten aus, sie seien auf offener Straße unsittlich berührt worden. In der afghanischen Gesellschaft fehlt grundsätzlich der Respekt vor Frauen – und den Frauen fehlt Selbstvertrauen.

Das hat auch mit mangelnder Bildung zu tun: Nur 13 Prozent der Afghaninnen können schreiben und lesen. Noch immer ist ihnen der Zugang zu Schulen und Universitäten – wiewohl verfassungsrechtlich garantiert – praktisch sehr erschwert, vor allem wenn sie nicht in Kabul oder einer anderen Großstadt aufwachsen, sondern in entlegenen Provinzen.

Warum das so ist? Die afghanisch-amerikanische Rechtsanwältin Mariam Atasch Nawabi sagt: "Die Jahre des Krieges in Afghanistan haben die Gewalt in die Häuser getragen. Die Stammesgesetze sind noch immer dominant. Der Weg, dies zu ändern, wird nur über Schulbildung und einen besseren Zugang zur Justiz führen." Es braucht nichts Geringeres als einen Kulturwandel.

Bemerkenswertes Urteil gegen Sahars Folterer

Sahars Folterer – bis auf den noch flüchtigen und in Abwesenheit verurteilten Ehemann und den Schwager – wurden Anfang Mai von einem afghanischen Gericht zu zehn Jahren Haft verurteilt. Angesichts der weitverbreiteten Korruption und Ineffizienz in der afghanischen Justiz ist dieses Urteil bemerkenswert, denn kaum ein Fall häuslicher Gewalt gegen Frauen wird überhaupt verhandelt.

Und wenn, dann ist ein Urteil zugunsten einer Klägerin sehr unwahrscheinlich, denn Richter und Geschworene sind meist ultrakonservative Geistliche und damit der gleichen Meinung, wie die Beklagten: Frauen sind nichts wert. Das Urteil gegen die Folter-Familie markiert einen Meilenstein afghanischer Rechtsprechung, mit dem Richter Sibghatullah Rasi Mut bewiesen hat.

Wegen des großen öffentlichen Interesses – immerhin hatte Präsident Hamid Karsai Sahar an ihrem Krankenbett besucht und damit den Fall zum Politikum gemacht – und der augenscheinlichen Straftaten gegen ein Kind konnte der Jurist wohl gar nicht anders urteilen.

Sahar hat nun sogar den Mut, in Revision zu gehen, um eine längere Haftstrafe für jene zu erreichen, die ihr Leben zerstörten. Denn sie fürchtet die Rache der Familie nach deren Freilassung in zehn Jahren. Dann wird sie 25 Jahre alt sein.

"Sahar spricht und lacht wieder"

In ihrem Kampf für Gerechtigkeit ist Sahar nicht mehr allein, und sie ist für viele afghanische Frauen zu einer Symbolfigur geworden – im Negativen wie im Positiven. Ihr Leiden wurde öffentlich und hat ein Schlaglicht auf die fatale Situation der Frauen in Afghanistan geworfen, auch wenn viele Tausend ähnlich trauriger Geschichten unerzählt bleiben.

Doch zugleich ist sie ihrem Martyrium entkommen, konnte mithilfe afghanischer Frauenschutz-Organisationen sogar ihre Peiniger hinter Gitter bringen und hat nun im Schutz eines Kabuler Frauenhauses der Organisation Women for Afghan Women (WAW) gefunden, weit weg von ihrer Familie und der ihres brutalen Ehemannes. Das könnte vielen ihrer Leidensgenossinnen Mut machen.

Huma Safi von der Frauenorganisation WAW sagt, Sahar sei froh über das Urteil. Sie werde psychologisch betreut, befinde sich noch immer in der Rehabilitation, habe ihre Ausbildung aber wieder aufgenommen. Die Programmleiterin der vom US-Außenministerium unterstützten Organisation hat 430 zum Teil ehrenamtliche Mitarbeiter und ist in acht der 34 afghanischen Provinzen aktiv, acht Familienberatungszentren, sieben Schutzhäuser, zwei Not- und Übergangsunterkünfte für Familien, drei Kinderschutzeinrichtungen gehören dazu.

"Sahar spricht und lacht wieder, sie plant ihr Leben", sagt die Helferin. Das Mädchen fühle sich nun sicher und habe Zutrauen gewonnen. Später, so habe Sahar ihren neuen Freundinnen berichtet, wolle sie studieren und vielleicht Ärztin werden. Und Frauenrechtlerin.
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