Zum Inhalt wechseln

Welcome to Irrglaube und Wahrheit
Register now to gain access to all of our features. Once registered and logged in, you will be able to create topics, post replies to existing threads, give reputation to your fellow members, get your own private messenger, post status updates, manage your profile and so much more. If you already have an account, login here - otherwise create an account for free today!
Foto

Die Türkei und der politische Islam


  • Bitte melde dich an um zu Antworten
Keine Antworten in diesem Thema

#1
Rolf

Rolf

    Administrator

  • Administrator

  • PIPPIPPIP
  • 34210 Beiträge
  • Land: Country Flag

Please Login HERE or Register HERE to see this link!





Die Türkei und der politische Islam



Mit ihrem Wahlsieg nimmt die AKP eine schwere Bürde auf sich – Sie muss das Land im Sinne Europas umgestalten – Ende des säkularen Staates?


DT vom 02.08.2007

Von Klaus Wilhelm Platz

„Die Türkei ist in der näheren Zukunft noch nicht dazu in der Lage, Mitglied der Europäischen Union zu werden“, hat der Brüsseler Kommissionspräsident José Manuel Barroso am vergangenen Sonntag in einem Interview zum Ausgang der türkischen Parlamentswahlen eine Woche davor erklärt. Auf türkischer Seite geht es dem Wahlsieger Recep Tayyip Erdogan, der schon seit vier Jahren Ministerpräsident ist, darum, sein Land durch Reformen für einen Beitritt zum vereinten Europa bereit zu machen. Was – und in welchem Sinn – zu reformieren ist, hat die Union 2005 bei Beginn der Beitrittsverhandlungen mit Ankara recht klar definiert. Erdogan ist bemüht, diese europäischen Bedingungen in einer absehbaren Zeit zu erfüllen. Aber dazu muss er in einigen Punkten die Verfassung ändern. Um dies zu können, muss er im Parlament über eine Zweidrittelmehrheit verfügen.

Ein schwerer Schlag für die „alte“ Republik von Atatürk

Das Wahlergebnis vom 22. Juli sorgt für gewisse Verwirrung, weil die konservativ-religiöse AKP deutlich mehr Stimmen – bis zu dreizehn Prozentpunkte mehr als 2002 – gewonnen hat, aber weniger Sitze im Parlament, als diese Stimmenzahl vermuten lässt. Grund dafür ist das komplexe türkische Wahlrecht und seine Gewichtung der Stimmen bei der Errechnung der Sitze. Die AKP wird zwar allein die Regierung stellen können, braucht aber die Unterstützung einer der anderen Parteien, um einige der angestrebten bedeutenderen Veränderungen durchzusetzen. Trotzdem kann die Partei zufrieden sein: Nach fünf Jahren als Regierungspartei genießt sie in der Bevölkerung mehr Unterstützung als zuvor, während sich die Opposition als unfähig erwiesen hat, sie ernsthaft herauszufordern.

Der haushohe Sieg der gerne als „mild islamisch“ charakterisierten AKP bedeutet, dass die alte von Kemal Atatürk in den 1920-er Jahren als säkularer Staat geformte türkische Republik einen schweren Schlag erlitten hat. Dies heißt allerdings nicht zwangsläufig, dass die Türkei ein islamischer – oder gar islamistischer – Staat werden wird. Der Sieg bedeutet für diese Partei auch eine Bürde, die sie auf sich nimmt, um das Land gegen tiefsitzende Widerstände im europäischen Sinn umzugestalten.

Atatürk (1881 bis 1938) betrachtete den Islam als wichtigen Bremsfaktor für den Fortschritt der Türkei. Er war deshalb bemüht, die Religion als politische und soziale Kraft aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, auch wenn natürlich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung muslimisch blieb. Für Atatürk waren Verwestlichung und Modernisierung zwei Seiten einer Medaille. Und tatsächlich zeigte die Türkei unter seiner Führung beachtliche Erfolge – größere jedenfalls als jeder andere Staat mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung weltweit: Es gelang, eine Demokratie zu errichten, die staatliche Stabilität zu gewährleisten und wirtschaftliche Fortschritte zu erzielen.

Das Ausmaß von Erdogans Wahlerfolg wird am deutlichsten bei einem Blick auf die politische Landkarte der Türkei: In nahezu allen der 81 Provinzen des Landes – einschließlich der mehrheitlich von Kurden bewohnten – siegte die AKP. Der Anteil der weiblichen Abgeordneten verdoppelte sich. Die liberalen Reformen, welche die AKP bereits in ihrer bisherigen Regierungsführung durchgesetzt hat, waren letztlich der Grund dafür, dass die Europäische Union 2005 die lange verzögerten Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufnahm. Diese Reformen waren es nun auch, die für den Wahlsieg vor zehn Tagen eine wichtige Rolle spielten. Entscheidend für diesen Sieg dürften allerdings die jüngsten türkischen Wirtschaftszahlen gewesen sein: 6,8 Prozent Wachstum im ersten Quartal 2007, ausländische Investitionen in Rekordhöhe und eine merkliche Senkung der Inflationsrate. Die Wahlbeteiligung am 22. Juli betrug 85 Prozent; viele Angehörige ärmerer Schichten gingen erstmals zur Wahl; Wohlhabendere unterbrachen ihren Urlaub, um in ihrem Heimatort ihre Stimme abzugeben.

Nachdem die Ergebnisse vorlagen, versuchte Erdogan die Wähler aus den städtischen Mittelschichten zu beruhigen, die heute die stärkste Kraft für die Aufrechterhaltung des laizistischen Staats von Atatürk bilden. Er sagte, ihre Stimmen für die Oppositionsparteien machten „den Reichtum der politischen Kultur des Landes aus“.

Nur zwei weitere Parteien – die sozial-nationale Republikanische Volkspartei (CHP) mit 21 Prozent und die rechtsgerichtete Partei der Nationalen Bewegung (MHP) mit vierzehn Prozent – schafften auf Anhieb die für den Einzug ins Parlament erforderliche Zehnprozenthürde. Wie die Nachrichtenagentur Anadolu am vergangenen Sonntag meldete, hat sich jetzt noch eine Gruppe von zwanzig Kurden, die als Unabhängige kandidiert hatten, der pro-kurdischen Partei der Demokratischen Gesellschaft (DTP) angeschlossen, die damit ebenfalls – sogar mit Fraktionsstatus – im Parlament vertreten ist. Abdullah Gül, der als „zu religiös“ geltende Außenminister, dessen Kandidatur für das Amt des Staatspräsidenten von dem auf die säkulare Republik Atatürks eingeschworenen Militär abgelehnt worden war, hat jetzt gewisse Chancen, die Zweidrittelmehrheit im Parlament zu erlangen. Der pensionierte General Edep Pasar sagte zwar in der vergangenen Woche der italienischen Zeitung „Repubblica“: „Sollte die Staatspräsidentenwahl noch einmal wie im April aus dem Ruder laufen, kann die Armee wieder eingreifen, und dieses Mal nicht nur mit Worten“. Aber der allzu eindeutige Wahlsieg der „mild islamischen“ AKP wird nach Auffassung der meisten Beobachter die Streitkräfte vorläufig in ihren Kasernen halten.

Zunehmende Bedeutung der islamisch geprägten Schichten

Ein wesentlicher Faktor für die Abkehr vieler Türken von der „Republik Atatürks“ ist sicherlich die zunehmende Bedeutung der Macht traditionell und religiös denkender Bevölkerungsschichten aus Zentralanatolien. Aus vielen der dortigen Kleinunternehmen sind inzwischen große Firmen geworden, die stärker islamisch geprägte Bevölkerungsteile wohlhabend machen. Gleichzeitig zogen Millionen von Türken aus den Dörfern in die Städte, wo sie oft nur im Islam einen ersten Halt in der Fremde fanden. Frauen, die häufig jetzt erstmals zur Wahl gingen, sind traditionell meist religiös gesonnen und wählten AKP. Hinzu kommt, dass das Ende des Kalten Krieges, in dem die Türkei ein Grenzstaat war, und das Heranwachsen des politischen Islams andernorts zum Wiederaufstieg des Islam auch in der politischen Arena der Türkei beigetragen haben.

Nur wenige befürchten, dass die Türkei in Kürze mit dem Iran und anderen Staaten eine Achse des radikalen Islam bilden könnte. Dies mag sich ändern, falls beispielsweise Europa die Türkei in den Beitrittsverhandlungen schwer brüskieren sollte. Im Augenblick fürchtet die Türkei den islamistischen Terrorismus kaum weniger als Europa. Aber die Zahl junger Türken, die neuerdings vor allem nach Pakistan ausreisen, um sich dort radikal-islamisch und terroristisch schulen zu lassen, lässt jetzt erstmals auch seriöse türkische Medien ernsthafte Befürchtungen äußern.


  • 0