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"Ich war ein Täter"


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Rolf

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blickpunkt/0001/index.html

"Ich war ein Täter"



Wilfried Handl war ein führendes Mitglied der Psychosekte
Scientology. Vor vier Jahren ist er ausgestiegen. Er sagt,
dass er aus der tiefsten Kälte kommt
25.10.2005

Blickpunkt - Seite 03


Frank Nordhausen



BERLIN, im Oktober. Was er erzählt, will einfach nicht zu dem
Mann passen. Wilfried Handl, 51 Jahre alt, ist ein angenehmer
Mensch, offen und zugewandt. Er lächelt gern. "Ein Wiener
gehört ins Caféhaus", hat er gesagt und ein Treffen in einem Café
in Berlin-Charlottenburg vorgeschlagen. Nur manchmal spürt
man eine gewisse Härte aufblitzen. Doch man sieht ihm nicht an,
dass er, wie er sagt, "aus der tiefsten Kälte" kommt.

Achtundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Ein halbes Leben. So
lange war Wilfried Handl bei der Psychosekte Scientology. Handl
war nicht irgendein Handlanger. Er war der Chef von Scientology
in Österreich, und als er den Posten nicht mehr bekleidete, blieb
er "die graue Eminenz" der Sekte in Wien. Er wusste alles, was
wichtig war. Er hat Menschen abhängig gemacht und dann
"ausgequetscht wie eine Zitrone". So sagt er das. Er ist der
höchstrangige europäische Scientologe, der jemals ausgestiegen ist
und darüber redet. Und der die eigene Schuld schonungslos
eingesteht. "Ich war ein Täter", sagt Handl. "Ich habe Menschen
weh getan. Ich war ein Parteisoldat in einem faschistischen
System."

Vor fünf Jahren habe die Zentrale in Amerika eine neue Linie für
Europa ausgegeben, erzählt Handl. Weil das Image am Nullpunkt
war, nachdem Scientology in Frankreich als gefährliche Sekte
eingestuft und in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet
wurde. "Wir bekamen Order, ab sofort werden Kritiker nicht
mehr verklagt und bedroht. Nun wurde auf Lobbying gesetzt.
Auf ein positives Image. Auf Scientology, den
Hollywood-Star-Club."

Es hat funktioniert. Die Berichte in der Presse wurden positiver,
vor allem dank der Schauspieler und Vorzeige-Scientologen Tom
Cruise und John Travolta. "Cruise wurde sogar vom
französischen Innenminister Sarkozy empfangen", sagt Handl.
"Das ist reine Public Relation - der Wolf hat Kreide gefressen."
Vor vier Jahren fiel Wilfried Handl um. "Einfach so, aus heiterem
Himmel", sagt er. Er hustete Blut, legte sich ins Bett und glaubte
an eine Grippe. Er wurde schwächer und schwächer, das Blut
ignorierte er. Nach vierzehn Tagen besuchte ihn eine alte
Freundin, Angelika, die ihn von früher her kannte. Sie erschrak,
als sie ihn sah und rief sofort den Notarzt. Die Ärzte
diagnostizierten Krebs. Die Metastasen wucherten in seiner
Lunge, im Bauch, im Kopf. "Sie sagten, meine Überlebenschance
sei eins zu neunundneunzig - optimistisch gesehen."

Als er nach der ersten Chemotherapie "wie aus einer Betäubung"
aufwachte, drangen Gedanken in sein Bewusstsein, die er früher
nie zugelassen hatte. "Ich hatte ja erstmals Zeit, in Ruhe über
mein Leben nachzudenken", sagt Handl. Wie kann es nur sein,
dachte er da, dass ich krank bin? Er glaubte ja, als Scientologe
"clear" zu sein - unbesiegbar und unsterblich. Doch jetzt ließ es
sich nicht mehr ignorieren. Der Krebs war da, überall. Er konnte
ihn sehen auf den Röntgenbildern. Er konnte ihn spüren in seinem
Körper, der fast bis aufs Skelett abgemagert war. Handl begann
zu grübeln. Er grübelte besonders über den Scientology-Lehrsatz:
"Hinter jeder Krankheit steckt das eigene böse Tun, sonst wäre
man nicht krank." Plötzlich spürte er so deutlich wie nie zuvor,
dass etwas nicht stimmte in seinem Leben. "Und mein Leben, das
war halt Scientology." So dachte Wilfried Handl. Auf einmal
wusste er, was zu tun war. "Da bin ich ausgestiegen."

Eingestiegen ist Wilfried Handl im Jahr 1974. Damals war der
gelernte Industriekaufmann zwanzig Jahre alt, er suchte nach
einem Sinn im Leben. Eine Freundin nahm ihn mit in die Wiener
Scientology-Mission, wo der Maler Gottfried Helnwein
mitmachte und auch viele Künstler Kurse belegten. Dort starrte
man sich stundenlang in die Augen. "Ich habe dabei viele hübsche
Frauen kennen gelernt, das gefiel mir", sagt Handl. Er schildert
die Scientologen als intelligente Menschen, die immer freundlich
waren. "Dass wir innerlich immer kälter wurden, das habe ich
damals nicht bemerkt." Man rutschte da so rein. Erst mussten
Aschenbecher angebrüllt werden, dann Menschen.

Bald hatte Handl seine Freunde entweder zu Scientology gebracht
oder sich von ihnen getrennt. Er erwies sich als äußerst
Scientology-kompatibel, er war hart und durchsetzungsfähig.
1979 wurde er Leitender Direktor in Wien. "Ich genoss die
Macht, die ich hatte", sagt er. "Dieses Gefühl, dass ich mit den
anderen alles machen konnte." Später wurde er geschasst, als
Verräter verdächtigt, wieder rehabilitiert, er musste Strafarbeiten
verrichten und ist immer zurückgekehrt. Warum? Weil
Scientology ähnlich wie eine Droge funktioniert, sagt Handl.
"Schlimmer noch, denn der Heroinabhängige weiß wenigstens,
dass er abhängig ist."

Es gibt Fragen, die zu stellen, ist es wohl noch zu früh. Handl
weiß nicht, wie er 28 Jahre an die Übermenschen-Lehre des
amerikanischen Science-Fiction-Autors L. Ron Hubbard glauben
konnte. Warum er all den "Irrsinn" mitgemacht hat. "Ich muss
akzeptieren, dass es so gewesen ist", sagt er. Er steckt sich eine
Zigarette an. Er raucht viel, trotz der kaputten Lunge.
Handl hat ein Buch geschrieben über "Wahn und Wirklichkeit"
bei Scientology, darin erzählt er seine Geschichte und versucht,
Antworten zu finden auf diese Frage: Warum? "Wir wurden zu
Robotern gemacht", sagt er. "Man hat uns die Gefühle, die
Empfindungen, die Moral geraubt. Unsere Persönlichkeit wurde
total verändert." Handl erzählt von Nötigung, von psychischer
Gewalt, von Erpressung.

Von Suchtrupps, die er rausschickte,
wenn ein Scientologe es wagte, die Sekte zu verlassen. Von
Verhören mit oder ohne das E-Meter, eine Art Lügendetektor.
"Ich selbst führte oft fünf Verhöre am Tag", sagt er. Die
Mitglieder wurden gezwungen, alles zu erzählen, Sünden,
unkeusche Gedanken, Homosexualität. "Scientology ist wie ein
Pfarrer, der Ihnen die Beichte abnimmt, um sie dann gegen Sie
zu verwenden", sagt Handl. "Wir haben den gläsernen Menschen
geschaffen." Und worum ging es dabei? "Geld. Es ging immer
um Geld. Denn am Geld wurde der Erfolg gemessen."

Handl bestätigt das, was Sektenexperten und
Verfassungsschützer seit Jahren vermuten. "Es war wirklich so
schlimm", sagt er. Einmal, in den Neunzigern, wurde er selbst
eine ganze Nacht lang bearbeitet, 40 000 Dollar zu spenden. "Am
Ende gab ich nach. Sie haben sogar ungedeckte Schecks
akzeptiert." Handl selbst hat es genauso gemacht, hat Mitarbeiter
mit eiserner Faust zum Spenden genötigt. Er hat Veranstaltungen
geleitet, bei denen 200 Scientologen in einem Raum saßen,
dessen Türen verschlossen waren. "Raus kam nur, wer zahlte",
sagt er. Mal ging es um 2000 Dollar, mal um 20 000. Über die
Jahre gesehen ging es um Millionen.

Skrupel hatte Handl nie. Er arbeitete ja für das höhere Ziel: die "Klärung des Planeten".
Handl weiß vieles, was ein normaler Scientologe nie erfährt.
"Viele, die länger dabei sind, sind entweder drogensüchtig oder
psychisch krank", sagt er. Sein jüngerer Bruder zum Beispiel,
auch Scientologe, ist seit Jahrzehnten Alkoholiker. Um geheilt zu
werden, besuchte er vor Jahren einen 17 000 Euro teuren
Scientology-Kurs. Danach trank er mehr als zuvor, verlor seine
Arbeit und seine Frau. Vor einem Jahr wies er sich selbst in eine
Heilanstalt ein. "Als ich ihn vor kurzem dort besuchte", sagt
Handl, "sah ich am Schalter einen Scientologen stehen, der
Operierender Thetan der Stufe V ist, eine Art Superman. Er war
kokainabhängig."

Wilfried Handl hat an die Überlegenheit der Scientologen
geglaubt. An die Wirksamkeit ihrer "Technologie". Daran, dass
Kinder "Erwachsene in kleinen Körpern" sind. Wenn einer seiner
drei Söhne stürzte, hat er ihm nicht aufgeholfen. Wenn einer sich
verletzte, haben weder er noch seine Frau, die auch Scientologin
war, ihn getröstet. "Hatten sie Angst, haben wir ihnen gesagt, sie
sollen still sein. Liebe ist bei Scientology nicht vorgesehen." Heute
macht er sich Vorwürfe. Er redet nicht gern darüber.

Nach außen ging es all die Jahre um die Sicherung der Sekte. In
den neunziger Jahren half Handl, den Scientology-Vormarsch
nach Osteuropa zu organisieren. Er spricht vom Verkauf der
Scientology-Seminare als "effektive Managementtechnik". Wenn
er davon redet, fällt er fast in den alten Größenwahn-Slang. "Das
Interesse war riesig. Die Wirtschaft griff gierig danach", sagt
Handl, der damals eine Werbefirma leitete. Er hat gut verdient
dabei. Und hat dazu beigetragen, dass viele Menschen in Ungarn
und der Slowakei Scientologen wurden.

Handl würde gern seine geschiedene Frau aus der Sekte holen,
die er vor mehr als zwanzig Jahren selbst rekrutierte. Aber sie lebt
jetzt in Amerika mit den zwei jüngeren Söhnen, und ihr neuer
Mann ist ein Scientologe, der den Kindern den Kontakt zum
Vater untersagt. Wilfried Handl, der von Sozialhilfe lebt, hat nicht
einmal das Geld für ein Flugticket. Und er arbeitet immer noch an
seinem eigenen Entzug. "Es ist noch so viel Scientology in mir",
sagt er. Immerhin sei er jetzt schon wieder "zu etwa sechzig
Prozent Mensch und nur noch zu vierzig Prozent Scientologe".
Handl lacht, dann wird er wieder ernst.

Den Ausstieg schaffte er nur, weil ihm seine alte Freundin Angelika, eine
Nicht-Scientologin, dabei half. Drei Jahre waren die beiden ein
Paar. Ohne ihre Liebe wäre er wohl verzweifelt. Ohne sie hätte er
den doppelten Kampf nicht führen können: gegen die Sekte, die
sein Gehirn, und gegen den Krebs, der seinen Körper zerfressen
hatte. Er hat Therapien überstanden, die ihn fast umbrachten. Er
sagt, er liebe jeden Tag, der ihm geschenkt werde.

Wilfried Handl geht jetzt nicht mehr ins Krankenhaus. Er sagt, so
sei es besser. "Ich sollte eigentlich seit vier Jahren tot sein, aber
ich lebe immer noch!" Er glaubt, die Heilung habe mit der
Ablösung, dem schmerzhaften und langwierigen Ausstieg aus dem
Wahnsystem zu tun, in dem er gefangen war. Er hat sich einer
Selbsthilfegruppe von Krebskranken angeschlossen. Er liest alles
über Psychologie, was er in die Hände bekommt, denn das war
bei Scientology streng verboten. Die innere Befreiung von
Scientology wird auch die Befreiung vom Krebs sein, glaubt er.
Und er glaubt, dass er eine Verantwortung hat. Deshalb geht er
mit seinem Buch in Schulen und redet mit Kindern über sein
Leben und was Scientology daraus gemacht hat. Sein ältester
Sohn, der 21-jährige Victor, hat das Buch gelesen. Anschließend
haben Vater und Sohn das erste Mal richtig geredet.

Als Scientology Victor vor die Wahl stellte, "dein Vater oder
Scientology", entschied er sich für den Vater. Wilfried Handl sagt,
er glaube, dass Victor es noch schaffen kann, ihm zu verzeihen.
Irgendwann.
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"Ich genoss die Macht, die ich hatte. Dieses Gefühl, dass ich mit
den anderen alles machen konnte."
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"Es ging immer um Geld. Denn am Geld wurde der Erfolg
gemessen."
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