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Die lange Geschichte einer Hausbesetzung


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Rolf

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Neuntes Gebot




Die lange Geschichte einer Hausbesetzung





"Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus", lautet das neunte Gebot. Es schränkt das Streben nach persönlicher Freiheit und Bereicherung ein, es schützt das Haus als den Raum individueller Entfaltung. Das neunte Gebot eigenwillig zu interpretieren hat lange Tradition in Berlin, der Stadt des Leerstandes, der Immobilienspekulation und der einst 160 besetzten Häuser.


Peter denkt in großen Zusammenhängen. "Wir haben ein linksradikales Hausprojekt gerettet. Aber damit sind wir nicht zufrieden", sagt der 30 Jahre alte Krankenpfleger mit leiser Stimme. Es gehe auch um die Revolution. Peter gehört zu einer selbst in Berlin inzwischen fast ausgestorbenen Spezies von Menschen, die sich illegal in anderer Leute Immobilien einnisten, das völlig in Ordnung und moralisch korrekt finden. Der junge Mann mit den kurzen Haaren, der schmalen Brille und dem karierten Flanellhemd hat mit seinen Mitstreitern vor zwei Jahren den Südflügel des Bethanien-Hauses in Kreuzberg besetzt. Die Räume standen leer, seit das Sozialamt ausgezogen war. Jetzt ist das Bethanien das einzige besetzte Haus der Stadt. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, lautet das neunte Gebot. Es schränkt das Streben nach persönlicher Freiheit und Bereicherung ein, es schützt das Haus als den Raum individueller Entfaltung. Das Haus ist im Reigen der Gebote das wichtigste Gut. Im zehnten Gebot folgen weitere Spezifizierungen, für die Begehren untersagt ist, darunter des Nächsten Weib, Knecht, Vieh.

Wem gehört die Stadt?

Das neunte Gebot eigenwillig zu interpretieren hat lange Tradition in Berlin, der Stadt des Leerstandes, der Immobilienspekulation und der einst 160 besetzten Häuser. Oft steht die Frage im Raum: Wer ist eigentlich in einer Stadt wie Berlin dieser "Nächste", der geschützt werden soll vor Neid und Übergriffen? Was geschieht, wenn Räume leer stehen oder nicht klar ist, wer Zugriffsrechte hat auf ein Gemäuer?

Wie kein anderes Haus in Berlin steht das Bethanien für den Konflikt um Räume. An diesem ehemaligen Krankenhaus aus gelbem Backstein, hart am ehemaligen Grenzstreifen nach Mitte, kulminierten schon so oft die Konflikte: "Und die Leute im besetzten Haus/riefen: Ihr kriegt uns hier nicht raus, das ist unser Haus ..." Seit 1971 erklingt die Hymne aller Hausbesetzer von der linken Kult-Combo Ton, Steine, Scherben. Im Dezember 1971 brechen hier mehrere Hundert Personen nach einem "Teach-in" in der Technischen Universität die Türen des ehemaligen Schwesternwohnheims auf. In Berlin hat die Ära der Hausbesetzungen begonnen. Juni 2005: Auf dem Mariannenplatz amüsieren sich die Leute bei einem Straßentheaterfestival. Wieder ziehen linke Aktivisten zum nahen Bethanien und steigen in den leeren Südflügel ein. Sechs Tage zuvor hatte sie der neue Besitzer aus ihrem alten Fabrikgebäude an der Yorckstraße 59 werfen lassen. Die Gruppe wollte die Mieterhöhungen nicht zahlen.

Aufruf zum Widerstand

Mehrere Dutzend Menschen wohnen seither im Bethanien, behauptet Peter. Sehen dürfen Besucher die Matratzenlager aber nicht. Etwa 20 Gruppen aus dem linken bis linksradikalen Spek-trum haben das Bethanien als Basis genommen. Das seien zum einen Menschen, die einfach nur Räume für Leute im Kiez suchen", sagt Peter. Und andere wollten "den Kapitalismus abschaffen". Die Treppenaufgänge sind mit Parolen beschmiert. Sperrmüllsessel verstellen die breiten Gänge im ersten Stock. Farbiger Stoff dämpft das kalte Neonlicht. An den Wänden rufen bunte Plakate zu Widerstand gegen Hartz IV oder zur Solidarität mit den Zapatisten in Mexiko auf. Im Nebenraum wird gekocht, gern auch vegan. "Die Besetzung war nicht legal, aber legitim", findet Simone Kypke. Sie wohnt in der Nähe und spricht für die Initiative Zukunft Bethanien (IZB). Schon vor der Besetzung hatten sich Anwohner aus SO 36 zusammengetan, um den vom Bezirksamt betriebenen Verkauf des Komplexes an einen Immobilieninvestor zu verhindern.

Ein erfolgreiches Bürgerbegehren brachte das Privatisierungsprojekt zu Fall. Seitdem verhandelt der Bezirk mit der IZB über die Zukunft des Bethanien. Fachlich versiert plaudert die Betriebswirtin Simone über kalkulatorische Kosten der Immobilie, über Mietberechnungen und Nebenkosten. Denn die Nutzer wollen das Haus in Eigenregie übernehmen. Zum Nulltarif geht das nicht, weiß auch Hausbesetzer Peter. Einige der Polit-Gruppen hätten "schon geschluckt", als sie hörten, dass sie künftig Miete zahlen sollen. "Fakt ist, das Haus kostet eine bestimmte Summe", sagt die Betriebswirtin. Diese müsse irgendwoher kommen. "Und ich sehe nicht, dass die öffentliche Hand für alles Geld geben kann oder sollte." Strittig ist nun, welche Summe der Bezirk von künftigen Nutzern fordern wird.

Gegenüber im Nordflügel blickt Christoph Tannert von seinem Büro über die kahlen Bäume im Hof auf den Trakt der Besetzer. Der Kunsthistoriker ist Geschäftsführer der Künstlerhaus Bethanien GmbH. Seine Institution sieht er als Opfer eines "revolutionären, diktatorischen Aktes der Selbstermächtigung". Die Besetzung sei ein "rücksichtsloser Übergriff", ein "bewusster Versuch, die sonst geltenden Werte auszuhebeln, die Besetzer seien "nicht interessiert an moralischen Prinzipien".

Seit 32 Jahren bietet das Künstlerhaus, getragen von der Akademie der Künste und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, aufstrebenden jungen Künstlern aus aller Welt Atelierstipendien und Ausstellungsmöglichkeiten. Der Name Künstlerhaus ist fast zu einem Synonym geworden für den Krankenhausbau von 1845. "Wir sind dabei auszuziehen", sagt Tannert. Er verhandele mit Entwicklern über Ersatzquartiere. Das Zusammenleben mit den Besetzern sei nicht möglich. Die Pläne für ein selbst verwaltetes Haus, bei dem viele Gruppen und Personen über die Nutzung der Räume mitreden dürften, sei nicht im Sinne der auf Eliten ausgerichteten Strategie des Künstlerhauses.

"Ich habe immer wieder deutlich gemacht, dass unser Programm völlig anders ist als Dilettantenförderung", beklagt sich Tannert. Er habe keine Lust, sich endlos am Runden Tisch auseinanderzusetzen. Er sei Mieter im Haus, zahle dafür 90 000 Euro im Jahr, wolle seine Arbeit machen und Künstler unterstützen. Eigentlich, sagt Tannert, habe er gar nichts gegen kommunenartige Zusammenhänge und linke Ideen. Er selbst habe zu DDR-Zeiten in einem solchen Haus gewohnt.

Räumungspläne aufgegeben

Aber die Besetzer hätten ein "stalinistisches Kunstverständnis", dächten immer nur an die politische Funktionalisierung von Kunst und würden den Bethanien-Stipendiaten "Fettlebe" vorwerfen. Tannert berichtet von gezielten Einbrüchen, von Einschüchterungsversuchen gegen Gastkünstler, von beschmierten Wänden. Er fürchtet, solch eine Nachbarschaft könnte die privaten Sponsoren vertreiben und das Image des Künstlerhauses in der internationalen Szene nachhaltig schädigen. Jetzt hat er erst mal seine Miete gemindert. Das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg habe die Besetzer gewähren lassen, ärgert sich Tannert: "Hier begegnen sich rückgratgebrochene Alt-68er mit ihrer Klientel junger Schwarz-Demonstranten." Tatsächlich hat der Bezirk jeden Räumungsgedanken aufgegeben. Die Bezirksverordnetenversammlung hat sich für ein Betreibermodell ausgesprochen, das auf Selbstverwaltung setzt, aber den Bezirk nichts kosten darf. Bürgermeister Franz Schulz von den Grünen sitzt in seinem Büro auf der anderen Seite des Flusses im Neubau des Rathauses von Friedrichshain-Kreuzberg und versucht die "Quadratur des Kreises". Er muss das Kunststück hinkriegen, sowohl seinen wichtigsten Mieter Tannert im Haus zu halten als auch ein Modell zu verhandeln, mit dem arme Sozialprojekte und mittellose Polit-Grüppchen so viel Geld aufbringen, damit sich das Haus ohne Zuschüsse des Bezirkes selbst trägt. Vom Instandhaltungsstau ganz zu schweigen. Schulz ist selbst Bauingenieur, ein sachlicher, ruhiger Mann, weit entfernt von ideologischer Lautsprecherei. "Das ist ein ganz schwieriger Sachverhalt", sagt Schulz und zieht sorgenvoll die Stirn in Falten. Dem Chef des Künstlerhauses hat er angeboten, seinen Teil mit Mauern vom besetzten Trakt abzutrennen.

Zoff vermeiden

Für die Grünen, die ihre Wurzeln auch in der Hausbesetzerbewegung haben, kam eine Räumung nie in Frage. "Rein rechtlich wäre das der Weg gewesen", sagt Schulz heute. Aber "politisch und von der Sicherheitslage her" sei dieser Weg nie gangbar gewesen. Es hätte heftigsten Zoff gegeben in SO 36. Aus Sicht des Bürgermeisters gibt es am Beispiel des alten Krankenhauses ein Grundsatzproblem zu klären, das in Berlin viele öffentliche Gebäude betrifft. Der Finanzsenator will alle ungenutzten Räume über seinen Liegenschaftsfonds zu Geld machen. Die Bezirke halten dagegen und wollen viele Gebäude für ihre jeweilige Klientel retten. Sollte es ausgerechnet in dem großen, prominenten Bethanien-Haus gelingen, ein öffentliches Gebäude für Initiativen und Vereine zu erhalten und dennoch ohne staatliche Dauersubventionen auszukommen, hätte Schulz sein politisches Meisterstück abgeliefert. Und er hätte einen Präzedenzfall für zahllose andere Streitobjekte zwischen Bezirksämtern und dem Senat geschaffen. Das Begehren der Menschen auf Häuser hätte eine Chance erhalten. Auch wenn Schulz das Besetzen von Räumen nicht beispielhaft findet, verspürt er Sympathien für solche Aktionen. Denn Konflikte um Häuser und Freiräume in einer Stadt haben aus seiner Sicht immer auch eine moralische Komponente: "Das Begehren nach des Nächsten Haus wird niemals nachlassen, solange Arm und Reich in unserer Gesellschaft so ungleich verteilt bleiben."

Die Gier der Großen

Während Bürgermeister Schulz vom Begehren der Armen nach Gütern der Reichen spricht, wird das Leben von Friedrich Boyens seit Jahren eher von der Gier der Großen nach dem Haus der Kleinen bestimmt. Denn im biblischen Sinne bedeutet Haus nicht nur das Obdach, sondern auch den Hausstand, die Familie, das Vieh, den Betrieb. Boyens' Haus war das Bettenhaus Rutz, in den 80er- und frühen 90er-Jahren die größte und bekannteste Berliner Ladenkette rund ums Schlafen. Im Dickicht von Immobilienspekulation, Betrügereien des Bankrotteurs Jürgen Schneider, überteuerten Bankkrediten und der Vertuschung von Verlusten verlor der Mittelständler alles. Seitdem kämpft er mit friesischer Sturheit um sein Recht. In 50 Aktenordnern hat er akribisch sämtliche Vorgänge um den Verlust seines Hauses gesammelt. Dass er im Recht ist, haben zwei Vergleiche mit dem ehemaligen Vermieter und der Bank ergeben, die ihm Millionen einbrachten. Damit kann der 63-Jährige von seinem Wilmersdorfer Dachgeschoss aus seinen Feldzug fortsetzen. Das Übel für den Geschäftsmann Boyens begann kurz nach der Wende. Er hatte durch einen glücklichen Zufall einen Laden an der Tauentzienstraße Ecke Nürnberger Straße, wo heute Nike Town Sportkleidung feilbietet, günstig gemietet. Er steckte Millionen in das Flaggschiff seiner Kette und vergrößerte seine Flächen dort stetig. Vermieter war die Gothaer Versicherung. "Seriöser geht es nicht", dachte Boyens und schloss Mietverträge bis 2006. Aber 1990 verkaufte die Gothaer das Gebäude für 55,5 Millionen Mark an schwedische Spekulanten. Diese reichten das Objekt an den Baulöwen Jürgen Schneider weiter.

Schneiders Schein-Imperium

Schneider hatte sein Schein-Imperium mit völlig überhöhten Bankkrediten auf Pump errichtet. Immobilienwerte, Flächen und Mieteinnahmen hatte Schneider fantasievoll hochgesetzt - und die Geldhäuser der Republik rissen sich darum, dem "Doc" immer neue Millionen zu borgen. In Berlin probierte Schneider einen neuen Weg der wundersamen Geldbeschaffung. Er täuschte vor, das Haus am Tauentzien bereits erworben zu haben, und ließ sich von der NordLB dafür einen Kredit von 131 Millionen Mark auszahlen. Nachdem die Bank überwiesen hatte, kaufte Schneider den Schweden das Objekt für 83 Millionen Mark ab. Auf diese Weise besorgte Schneider fast 50 Millionen Mark liquide Mittel und konnte sein kriselndes Imperium weiter über Wasser halten. Die Staatsbank NordLB reichte das Geld aus, ohne Belege und Verträge ausreichend geprüft zu haben. Der Aufsichtsrat unter Vorsitz des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder nickte den Deal ab. >> Was wissen Sie über die Bibel? Testen Sie Ihre Kenntnisse im Bibel-Quiz << Erst ein Jahr später, im Februar 1994, kam die NordLB auf den Gedanken, einen Blick ins Grundbuch zu werfen. So erfuhr die Bank, dass das Haus viel weniger gekostet hatte und nur einen Bruchteil der Mieten einbrachte. Die Chefs ahnten: Sie waren einem Hochstapler aufgesessen, das Schneider-Imperium stand vor dem Zusammenbruch. Wenig später setzte sich Schneider ins Ausland ab.

Das Genick gebrochen

Kurz vor der Landtagswahl in Niedersachsen setzten die Staatsbanker alles daran, den faulen Schneider-Kredit aus ihrer Bilanz zu tilgen. Sie reichten die Forderung gegen Schneider an Strohmänner weiter. Diese schickten das Objekt am Tauentzien in den Konkurs und kauften es in der Zwangsversteigerung zurück - und bekamen für ein Neubauvorhaben wieder 131 Millionen Mark Kredit. Dieser Trick brach Boyens das Genick. Denn im Falle einer Zwangsversteigerung sind Gewerbemietverträge nichtig. Boyens wurde 1995 mit seinem Bettenhaus herausgeklagt. Die Hauptumsatzquelle versiegte. Seine Firma brach fast zusammen. Weil er das Haus seiner Eltern und das Erbe seiner Schwestern in Schleswig-Holstein verpfändet hatte, stand die ganze Familie vor dem wirtschaftlichen Nichts.

Die haben das Haus durch eine rechtswidrige Kreditvergabe in den Konkurs finanziert", sagt Boyens bitter. Aber anstatt für die eigenen Fehler und Verluste einzustehen, habe sich die Bank an einem vertragstreuen Mieter bereichert. Aber Boyens wehrte sich, er alarmierte die Öffentlichkeit, klagte, schrieb Petitionen. Kurz vor einem Gerichtstermin hat ihm die NordLB dann in einem Vergleich Geld bezahlt, um die Sache aus der Welt zu schaffen. Später zahlte auch noch die Gothaer Versicherung. Aber Boyens verlangt mehr: "Ich will, dass die Leute zur Rechenschaft gezogen werden", sagt der Kaufmann, der gerade ein neues Ermittlungsverfahren angestoßen hat. Und er möchte erreichen, dass das Sonderkündigungsrecht nach Zwangsversteigerungen ersatzlos gestrichen wird. Denn diese Gesetzeslücke kann unbescholtene Bürger um ihr Haus bringen, weil andere Geschäfte machen und vor lauter Begehren nach anderer Leute Güter nicht genug bekommen.

Refugium für Künstler
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