Ist Veganismus eine (Ersatz-)Religion?
Wetzlar (idea) – Ein britisches Gericht hat Anfang Januar entschieden, dass Veganismus – also der Verzicht auf Fleisch und Tierprodukte – ein philosophischer Glaube ist („philosophical belief“). Die vegane Lebensweise darf somit nicht diskriminiert werden. Ist der Veganismus damit eine Art Religion? Dazu äußern sich zwei Theologen in einem Pro und Kontra für die Evangelische Nachrichtenagentur idea (Wetzlar).
Pro: Veganer vertreten einen universalen Wahrheitsanspruch
Laut Kai Funkschmidt, wissenschaftlicher Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Berlin, erfüllt Veganismus für manche die Funktion einer Religion. Veganer nutzten oft ein typisch religiöses Vokabular. Sie sprächen von Rettung, Apokalypse, Schuld und Umkehr.
Weil sie einen universalen Wahrheitsanspruch verträten, trieben sie „Evangelisation“ in Form von Straßenständen, Brief- und Plakataktionen, um zu einem veganen Leben einzuladen. Sie versprächen eine „Neue Welt“ ohne Hunger, Krieg, Tierleid und Klimakatastrophe – „vorausgesetzt, die meisten oder alle Menschen werden vegan“. Entschiedene Veganer glaubten sich im Besitz der Heilsbotschaft inmitten einer unwissenden und ihnen feindlich gesonnenen Welt.
Funkschmidt zufolge kann sich der fehlende Gottesbezug bei Veganern problematisch auswirken. Es fehle die Erfahrung göttlicher Gnade und menschlicher Sünde: „Weil alles vom Menschen abhängt, neigen extreme Veganer zur Gnadenlosigkeit gegenüber sich selbst und anderen.“
Kontra: Christen sollten sich auch für vegane Lebensweise einsetzen
Die Gegenposition vertritt der Professor für Ethik und Gesellschaftslehre an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz, Kurt Remele. Ihm zufolge beruht die in deutschsprachigen Medien verbreitete Behauptung, ein britisches Gericht habe den Veganismus als „religiösen Glauben“ charakterisiert, auf einem Übersetzungsfehler. Diese begriffliche Klarstellung werde Fleischkonsumenten jedoch nicht von ihrer Behauptung abbringen, Veganismus sei eine (Ersatz-)Religion: „Aber wäre es so, müsste ihre mit Zähnen und Klauen verteidigte ethische Überzeugung, dass Tiere gequält und getötet werden dürfen, um uns Menschen zu ernähren, zu bekleiden, zu unterhalten und uns wissenschaftliche Erkenntnisse zu liefern, nicht auch als (Ersatz-)Religion bezeichnet werden?“
Laut Remele war Christus überzeugt, dass man das strenge Gebot der Sabbatruhe missachten müsse, um ein in eine Grube gefallenes Schaf oder einen Brunnen gefallenen Ochsen herauszuholen (Matthäus 12,11; Lukas 14,5). Der Ethiker fragt: „Sollten Christen nicht auch dafür eintreten, ‚eingefleischte‘ moralische Traditionen zu missachten und vegan zu leben, um Schweine aus der Grube der Intensivhaltung und Hermeline aus dem Brunnen der Pelztierkäfige zu befreien?“