Kirchen vor „Veränderungen von kirchengeschichtlichem Ausmaß“
Schwäbisch Gmünd (idea) – Die beiden großen Kirchen in Deutschland stehen vor „Veränderungen von kirchengeschichtlichem Ausmaß“. Diese Ansicht äußerte der frühere Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (Nordkirche), Hans-Jürgen Abromeit (Greifswald), am 22. Oktober in Schwäbisch Gmünd.
Jahrhundertelang habe die Ansicht vorgeherrscht, die Kirche bestehe vor allem aus Pfarrern, Kantoren und Lehrern, sagte der Theologe auf dem Kongress „30 Jahre Friedliche Revolution – Bilanz eines Wunders“. Für die künftige Kirche ist es ihm zufolge wichtig, dass ihre Mitglieder einen persönlichen Glauben pflegen, sich als mündige Christen verstehen und viele Aufgaben ehrenamtlich versehen. Eine Kirche, die die Fähigkeiten und Erfahrungen ihrer Mitglieder nicht nutze, schade sich selbst. Außerdem müsse es „genügend lebendige Gemeinden“ geben, „in denen Menschen Jesus Christus kennenlernen können“.
Ein Ende der Volkskirchen befürchtet Abromeit nicht. Sie müssten aber jetzt Weichen stellen, um die voraussichtliche Halbierung von Mitgliederzahlen und Finanzen bis 2060 bewältigen zu können. Der gebürtige Westfale Abromeit nimmt nun seit Mitte September im von ihm mitbegründeten Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung an der Universität Greifswald noch ein knappes Jahr bis zum Erreichen des Ruhestands einen Lehr- und Forschungsauftrag wahr.
Christen als gesellschaftliche Minderheit ist normal
Die Bundesreferentin des christlichen Single-Netzwerks „Solo&Co“, Pfarrerin Astrid Eichler (Berlin), warnte vor einer Abschaffung der Volkskirchen. Sie hätten viele Möglichkeiten zur Seelsorge und zur Verbreitung des christlichen Glaubens, etwa in Schulen und Gefängnissen.
Allerdings müsse es auch niemanden beunruhigen, wenn weniger als 50 Prozent der Bevölkerung einer Kirche angehörten. Weltweit sei es für die meisten Christen normal, eine gesellschaftliche Minderheit zu bilden und heftigem Gegenwind ausgesetzt zu sein. Eichler war nach ihrer Ordination 1988 unter anderem 16 Jahre lang als Gemeindepfarrerin in der Prignitz (Westbrandenburg) tätig, wo sie zehn Dörfer zu betreuen hatte.
Geistliche Gemeinschaften als Chance zur Erneuerung der Kirche.
Der Leiter der Diakonenausbildung in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM), Thomas Seidel (Erfurt), bezeichnete geistliche Gemeinschaften als Chance zur Erneuerung der Kirche. Immer mehr Christen strebten ein verbindliches gemeinsames Leben an, wie es der Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) bereits 1938 empfohlen habe. Diese Möglichkeit, erstarrte Kirchen zu neuem Blühen zu bringen, müsse genutzt werden.
Seidel erinnerte auch an die Kritik des früheren EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber (Berlin) an einer jahrzehntelangen Selbstsäkularisierung der Kirche. Huber schrieb 2006, dass sich die Kirchen zu stark gesellschaftlich engagiert und dabei die Notwendigkeit zu gering eingeschätzt hätten, das Glaubensleben ihrer Mitglieder zu stärken.
Seidel zufolge hat der zurückgetretene Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, Carsten Rentzing (Dresden), Ähnliches bereits 15 Jahre zuvor in der Zeitschrift „Fragmente – Das konservative Kulturmagazin“ geäußert. In diesem Zusammenhang bedauerte Seidel, dass die von Rentzing zwischen 1989 und 1992 verfassten Texte nicht komplett veröffentlicht würden. Dadurch werde verhindert, dass sich Freunde und Kritiker Rentzings selbstständig ein Urteil über dessen frühere Ansichten machen können.
Rentzing wird unter anderem vom Westdeutschen Rundfunk vorgeworfen, in diesen Texten Verachtung für die liberale Demokratie geäußert und ein völkisches Staatsverständnis vertreten zu haben. Dier viertägige Kongress ist am 23. Oktober zu Ende gegangen. Veranstalter waren die Evangelische Nachrichtenagentur idea (Wetzlar) und das Christliche Gästezentrum Württemberg (Schönblick) in Schwäbisch Gmünd.