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Harry Potters Erbe - das Jahr der Fantasy


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Rolf

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Harry Potters Erbe - das Jahr der Fantasy





"Tintenherz", "Eragon" und "Harry Potter": In den Bücherregalen und Kinoprogrammen wimmelt es nur so vor Magiern, Drachen, Vampiren und Burgen. Die Zeit der Fantasy-Geschichten ist angebrochen und es gibt gute Gründe, warum uns die fantastische Literatur auch in Zukunft verzaubern wird.

Wenn die Literaturhistoriker mehr Aufhebens um den Bestseller machen würden, als sie es tatsächlich tun, wenn sie als Mentalitätsdetektive durch die neuen Büchertempel streifen und dem Lesevolk beim Bücherkaufen auf die Finger sehen würden, dann hätte das Jahr 2007 die Chance, als ein 1959 der Fantasy in die Literaturgeschichte einzugehen.

’59 war das große Jahr der deutschen Nachkriegsliteratur, in dem unter anderem Grass’ „Blechtrommel“, Bölls „Billard um halbzehn“ und Uwe Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“ erschienen. Und 2007, mag der Vergleich auch anstößig sein, könnte sich als das große Jahr der internationalisierten Fantasy erweisen. Zwei ihrer großen Erfolgsgeschichten gehen zu Ende, eine davon, ihrer Durchschlagskraft gemäß, gleich doppelt.

Noch mehr Fantastisches kommt in die Kinos

Ende Juli läutete das weltweite Erscheinen des letzten „Harry Potter“-Bandes das fröhliche Treiben ein; am 28. September geht Cornelia Funkes „Tintenwelt“-Trilogie zu Ende, deren Bände eins und zwei es allein in ihren englischsprachigen Auflagen bislang auf über sieben Millionen Exemplare gebracht haben; und vier Wochen später ist dann der deutsche Potter an der Reihe: „Die Heiligtümer des Todes“.

Der Rest ist, einstweilen, Verwertung: die Verfilmung von Philip Pullmans „Der Goldene Kompass“ aus der „His Dark Materials“-Trilogie im Dezember, der erste Tintenwelt-Film voraussichtlich im Frühjahr 2008. Es folgen der zweite „König von Narnia“ frei nach C.S. Lewis und schier endlos so weiter. Grob geschätzt hat allein Hollywood in jüngster Zeit eine Milliarde Dollar in Fanatsy-Filme investiert.

Dagegen mutet die Prophezeiung diverser Jugendbuchmacher, nun sei der Boom aber an sein Ende gelangt, beinahe seltsam an. Ihr Unken mag sich der eigenen Übersättigung, der Angst vor der Überdehnung oder dem Hunger nach neuen Marktsegmenten verdanken; dass aber ausgerechnet, wie von vielen erhofft, eine neue kindgerechte Aufbereitung sogenannter Sachthemen in der Lesegunst an die Stelle der Fantasy tritt, ist tatsächlich reichlich unwahrscheinlich.

Die "unendliche Geschichte" der Fantasy-Literatur


Anders als die oft aseptischen Abenteuergeschichten für die Kinder der Wissensgesellschaft („Die Zeitenläufer: Verrat am Nil“ oder „Hexe Lillis Sachwissen: ,Das alte Ägypten’“), wäre der Siegeszug der Fantasy mit dem Begriff „Trend“ auch allzu einsilbig beschrieben.

Immerhin feiert Tolkiens „Der kleine Hobbit“ in diesem Jahr seinen Siebzigsten; immerhin schrieb Michael Ende seine „Unendliche Geschichte“ mitten hinein in die schönste „neue Aufklärung“ der von der Grüns, Härtlings und Wölfels; immerhin hinterließ Astrid Lindgren, deren Pippi Langstrumpf die „Revolution in der Kinderstube“ seit 1945 angeführt hatte, mit ihrem letzten Roman ein neoromantisches Erbe. „Ronja Räubertochter“ erzählt von wilden Gesellen im finsteren Wald, von wimmelnden Graugnomen und geflügelten Druden.

Das Genre also ist alt und bleibt von ein wenig Trendforschung unberührt – es ist fast schon steinalt, wenn man bedenkt, dass Tolkiens „Herr der Ringe“ nur die Fortsetzung des Projekts der Brüder Grimm mit anderen Mitteln ist. Nicht weniger als eine „Mythologie für England“ wollte Tolkien erfinden; schon Jacob Grimm, Verfasser einer „Deutschen Mythologie“, spekulierte lustvoll über Dunkel-, Licht- und Schwarzelben.

Bücher für jedes Alter

Viel zu tief ist das Fantastische im Leserbewusstsein verankert, um nun, nach scheinbar abgeschlossener Bilanz, sang- und klanglos unterzugehen. Stattdessen wirkt es prägend. Das Phänomen „all age“ etwa, die endgültige Vernebelung der Unterschiede zwischen Kinder- und Erwachsenenliteratur, ist ein Produkt der Fantasy, die auch für andere Genres stilprägend wirkt.

Aus der guten alten Kriminalliteratur macht sie Mystery-, aus dem altehrwürdigen historischen Roman History-Thriller. Sogar die „wahren“ Kriminalgeschichten der Andrea Schenkel werden ja mit dem Mitteln des fantastischen Schauerromans erzählt; das schriftstellernde Ehepaar wiederum, das sich hinter dem Namen Iny Lorentz verbirgt, hat sein Handwerk gleich in der Fantasy-Fan-Fiction gelernt.

Und prinzipiell unterscheidet sich das Setting von Lorentz-Bestsellern wie „Die Kastellanin“ von dem der fantastischen Tintenwelt der Cornelia Funke nicht. Gewitzte Geister behaupten deshalb bereits, die Literatur käme erst mit der Fantastik recht zu sich selbst, indem sie sich im Wettstreit mit den Bildmedien vom Konzept Mimesis löse und offenherzig in jene Traumreiche emigriere, die unter dem Firnis noch eines jeden realistischen Romans verborgen lägen.

Das Erbe von E.T.A. Hoffmann

Schluss mit der Fantasy jedenfalls wird vorerst nicht sein. Und Not täte ja auch nicht der Abschied von der Fantastik, sondern die Rückbesinnung auf die literarische Qualität, die Ahnherr E.T.A Hoffmann dem Genre einst mit auf die Reise gab. Ein frommer Wunsch, mag sein.

Denn wahrscheinlicher als ein neuer Anspruch ist die Ausprägung neuer Sub- und Subsubgenres wie der Horror und Dark Fantasy mit ihren Skeletten, Vampiren und Gespenstern, post- oder postpostmoderne Spin-offs des romantischen Schauerromans allesamt und leider meist der Rede nicht wert. Manchmal fehlt es der gegenwärtigen Fantasy einfach an literarhistorischem Bewusstsein.

Was nicht wundernimmt, wenn man bedenkt, dass sie auch das Experimentierfeld selbstbewusster Konsumenten ist, die sich zu Produzenten aufschwingen. Christopher Paolini war 15, als er sein Fantasy-Epos „Eragon“ begann; Jenny-Mai Nuyen ist 19 und schaut bereits auf drei Bestseller zurück: „Nijura“, „Das Drachentor“ und „Nocturna – Die Nacht der gestohlenen Schatten“.

Die Zeit der Fantasy ist noch nicht zu Ende

Bliebe die Frage nach dem Warum all der Drachen, Elfen und Anderswelten, denn mit dem blanken Vorwurf der Weltflucht ist es ja nicht getan – er wird nur noch selten überzeugt und niemals überzeugend vorgetragen.

Lieber hält man sich an Hans Magnus Enzensberger. „Eskapismus“, dichtete der, „was denn sonst ... bei diesem Sauwetter“ und ließ auf diesen Vers unter dem Pseudonym Linda Quilt ein Reihe augenöffnender Erzählungen über angeblich „schauderhafte Wunderkinder“ folgen, denen eines immer gemeinsam ist: ihre Bedürfnisse und Talente werden von der elterlichen Gesellschaft einfach verkannt. Immer wieder klaffen in diesen Geschichten gesellschaftlicher Anspruch und kindliche Möglichkeit auseinander – was in einer Welt, da Kinder darauf dressiert werden, in Wissensshows zu glänzen, wohl schlicht realistisch ist: „6! Setzen“ – eigentlich ist das nicht komisch.

Als Kind der Romantik hat sich das Fantastische seit jeher gegen utilitaristische Vereinnahmung gewehrt, verzaubert, was entzaubert war, und klaffende metaphysische Löcher gestopft. Mit dem, was an fantastischer Literatur gedruckt wird, könnte man mühelos die leeren Kirchen füllen und vielleicht sogar Türme bauen, die jene der Banken in Frankfurt überragen. Das wird sich 2008 ff. nicht ändern. Wir werden uns noch wundern – und genau das wollen wir ja schließlich auch.


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