Sollte man Choräle „geschlechtergerecht“ ändern?
Wetzlar (idea) – Anhänger der sogenannten geschlechtergerechten Sprache in der evangelischen Kirche machen selbst vor alten Chorälen nicht halt. Jüngstes Beispiel ist das zum Deutschen Evangelischen Kirchentag im Mai erschienene Liederbuch „freiTöne“. Es enthält neben den traditionellen Texten „Alternativen in gerechter Sprache“. So wird vorgeschlagen, im Lied „Der Mond ist aufgegangen“, statt „so legt euch denn ihr Brüder“ besser „so legt euch Schwestern, Brüder“ zu singen. Sollte man Choräle gendern? Dazu äußern sich zwei Musikexperten in einem Pro und Kontra für die Evangelische Nachrichtenagentur idea (Wetzlar).
Pro: „Gendergerechte Vorschläge“ sind notwendig
Nach den Worten der Landeskirchenmusikdirektorin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg, Beate Besser, tut es bitter not, in dem Buch „gendergerechte Vorschläge“ zu machen: „Das Bild von Gott und den Menschen und damit der Welt ist in vielen Liedern so sehr patriarchal geprägt, dass dies guten Gewissens nicht (mehr) unvariiert reproduziert werden darf.“ Außerdem könnten „ungezählte Christenmenschen“ diese Bilder in Liedern nicht mehr singen. Hier ein Angebot unterbreitet zu haben, sei ein erster Schritt, aber auch der große Verdienst des Liederbuchs „freiTöne“. Es mache für bestimmte Textpassagen Vorschläge für Variationen. Sie stünden unter dem vollständigen Lied einschließlich Urheberrechtshinweis, seien also eigenständige Bausteine. „Es findet kein Eingriff in den Text statt, insoweit kann vom ‚Gendern von Chorälen‘ juristisch keine Rede sein“, so Besser. Sie war Vorsitzende des Programmausschuss zu dem Liederbuch für den Kirchentag. Es wurde in einer Auflage von 265.000 Exemplaren gedruckt.
Kontra: Die Textverstümmelungen sind „eine ideologisch inspirierte Schnapsidee“
Dagegen lehnt es der Komponist und Musikproduzent Jochen Rieger (Greifenstein bei Wetzlar) entschieden ab, die Choräle sprachlich zu verändern. Sie seien geistliche Liederschätze, die schon viele Generationen ermutigt, getröstet und erfreut hätten. Rieger: „Melodie und Textierung bilden dabei eine wundervolle Einheit. Warum sollte man sie heute ändern oder gendern?“ Für „schlimm“ hält Rieger etwa den Vorschlag, einen der beliebtesten Choräle – „Lobet den Herren“ – in „Lobet die Ew‘ge“ umzuformulieren: „Gott ein Frau?“ Dadurch sei auch der Reim „alle, die ihn ehren“ hinfällig. Da stocke jedem Germanisten und Dichter der Atem. Diese Sprache sei nicht „gerecht“: „Sie ist in höchstem Maße unprofessionell und berücksichtigt weder Kultur noch Tradition.“ Die Textverstümmelingen seien „eine ideologisch inspirierte Schnapsidee, die jedem Vollblutmusiker das Herz zerreißen“.