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Gott im Grundgesetz?


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Rolf

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Gott im Grundgesetz? Zur Bedeutung des Gottesbezugs in unserer Verfassung und zum christlichen Hintergrund der Grund- und Menschenrechte*




Dr. Wilfried Lagler, Universitätsbibliothek Tübingen


In der Präambel, dem Vorspruch zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, heißt es gleich im ersten Satz: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ... hat sich das Deutsche Volk ... dieses Grundgesetz gegeben“. Unsere Verfassung enthält also eine unmittelbare Nennung Gottes; ähnliche, z.T. noch ausführlichere Formulierungen finden sich in einigen Länderverfassungen. Weder die Paulskirchenverfassung von 1849 noch die Reichsverfassungen von 1871 und 1919 kannten eine derartige „Gottesformel“. Zwar findet sich diese Wendung nur im Vorspruch, aber nach der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes (Urteil zum Grundlagenvertrag vom 31.7.1973) besitzt auch die Präambel des Grundgesetzes eine Rechtssatzqualität, ist also nicht nur eine unverbindliche Meinungsäußerung der Verfassungsväter. Unklar ist jedoch, welche konkreten Konsequenzen aus dieser „Verantwortung vor Gott“ zu ziehen sind. Diese Frage ist bisher, auch durch das Bundesverfassungsgericht, noch nicht erschöpfend beantwortet worden.

Vergleichbare, teilweise sogar noch weitergehende Formulierungen gibt es in Verfassungen einiger anderer europäischer Länder. So lautet die Präambel der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999: „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“
Die Verfassung von Griechenland vom 11. Juni 1975 beginnt mit dem Vorspruch: „Im Namen der Heiligen, Wesensgleichen und Unteilbaren Dreifaltigkeit.“ Die Präambel der Verfassung der Republik Irland vom 1. Juli 1937 (in der Fassung vom 27. Mai 1999) ist in dieser Hinsicht am ausführlichsten und lautet: „Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, von der alle Autorität kommt und auf die, als unserem letzten Ziel, alle Handlungen sowohl der Menschen wie der Staaten ausgerichtet sein müssen, anerkennen Wir, das Volk von Irland, in Demut alle unsere Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn, Jesus Christus ...“.

In der Bundesrepublik Deutschland sind Staat und Kirche voneinander getrennt. Es gibt keine Staatskirche wie etwa in Großbritannien oder den nordischen Staaten. Artikel 4 des Grundgesetzes (GG) sagt ganz deutlich: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“. Die „ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet“. Artikel 3 ergänzt hierzu: „Niemand darf wegen ... seiner religiösen ... Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“. Die Grundlagen des sog. Staatskirchenrechts befinden sich in Artikel 140, der sie wiederum aus den Artikeln 136 und 137 der Weimarer Verfassung von 1919 übernommen hat. Der Staat des Grundgesetzes ist demnach ein Staat der Religions- und Bekenntnisfreiheit. Ist er aber auch ein weltanschaulich neutraler Staat im landläufigen Sinne von Gleichgültigkeit oder gar ein atheistischer Staat? Beruht nicht vielmehr unsere ganze Verfassungs- und Rechtsordnung auf einem bestimmten historisch bedingten Wertesystem, und wenn ja, welchem?


Neben dem Gottesbezug in der Präambel finden sich im Grundgesetz noch weitere Anknüpfungspunkte zu dieser Frage, z.B. der Hinweis auf das „Sittengesetz“ in Art. 2 Abs. 1 oder Art. 7 über das Schulwesen: „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen ... ordentliches Lehrfach“. Trotz aller Auseinandersetzungen um das Schulfach „Religion“ und die vom Bundesverfassungsgericht noch nicht entschiedene Klage gegen das im Land Brandenburg eingeführte Ersatzfach LER (Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde) hat der Religionsunterricht an unseren Schulen immer noch Verfassungsrang - wenn auch „kein Lehrer gegen seinen Willen verpflichtet werden [kann], Religionsunterricht zu erteilen“ und „die Erziehungsberechtigten ... das Recht [haben], über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen“ (Artikel 7 Abs. 2 bzw. 3 GG), allerdings nur bis zur Vollendung des 14. Lebensjahrs des Kindes (Religionsmündigkeit).

„Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“ (Artikel 4). Gewissen, was ist das? Ist es nicht eigentlich eine religiöse Instanz? Die individuelle Gewissensentscheidung eines Menschen kann doch nur in ihrer Bindung an ein transzendentes Wertesystem verstanden werden.

Die Abgeordneten des Bundestages sind „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ (Artikel 38). Auch hier ist wiederum das Gewissen als letzte Entscheidungsinstanz im Konfliktfall genannt.

Der für Bundespräsident, Bundeskanzler und Bundesminister vorgeschriebene Amtseid lautet am Schluß: „So wahr mir Gott helfe“ (z.B. Artikel 56 GG). Zwar kann der Eid „auch ohne religiöse Beteuerung geleistet werden“, wie es im Herbst 1998 bei der Vereidigung der Mitglieder der rot-grünen Bundesregierung erstmals in größerem Maße geschah. Aber die Gottesanrufung wird hier doch explizit deutlich.

Ferner könnten noch indirekte religiöse Bezüge im Grundgesetz angeführt werden, etwa die Bindung der persönlichen Eigentumsnutzung an das Gemeinwohl (Artikel 14), das Asylrecht (Art. 16 a) oder die Pflicht des Bundes, sich für das „friedliche Zusammenleben der Völker“ einzusetzen (Artikel 26).

Vor welchem historischen Hintergrund sind diese Formulierungen entstanden und welche Bedeutung haben sie heute? Es fällt auf, daß jüngere, eher kritische Kommentatoren des Grundgesetzes den Gottesbezug, wie er vor allem in der Präambel des Grundgesetzes zum Ausdruck kommt, ganz beiseite schieben. So heißt es beispielsweise in dem neuen, zur eher kritischen Gruppe gehörigen Grundgesetz-Kommentar von Horst Dreier, der die entsprechende Formulierung der Präambel als „eine Art von Demutsformel“ bezeichnet, daß es sich hierbei „um die Betonung der Weltlichkeit und damit der Immanenz, vor allem der Endlichkeit und Fehlbarkeit auch einer demokratischen Verfassungsordnung“ handele.1 „So ruft der Gottesbezug vor allem die ‘Begrenztheit der positiven Verfassungsgebung’ wie die Relativität aller staatlichen Macht in Erinnerung, ohne sich an bestimmte Inhalte überpositiver, metaphysischer, natur- oder vernunftrechtlicher Lehren zu binden oder von deren Nimbus zehren zu wollen“.2 Zusammenfassend formuliert Dreier: „Der Staat des Grundgesetzes darf, kann und will aber nicht (wieder) christlicher Staat sein und sich als solcher begreifen“.3 Ältere, konservativere Kommentatoren halten es dagegen eher noch mit den Vätern des Grundgesetzes.4



Wie war die Ausgangssituation bei der Entstehung des Grundgesetzes? Es erscheint mir nach wie vor bedeutsam, für das Verständnis des Grundgesetzes den Willen und die Ausgangslage der Verfassungsväter heranzuziehen. Ganz allgemein ist hierzu zu sagen, daß 1948/49 im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat bei der Formulierung des Grundgesetzes ein starker Anti-Weimar-Effekt bestimmend war. Man analysierte das Scheitern der Weimarer Demokratie, insbesondere, wie es möglich gewesen sein konnte, eine demokratisch legitimierte Verfassung mit Techniken eines formal legalen Machterwerbs auszuhebeln. Das sollte sich nicht noch einmal wiederholen können. Außerdem standen die Verfassungsväter unter dem Schock des Untergangs eines totalitären „gottlosen“ Systems. Man hatte erlebt, wie in kürzester Zeit willkürliche Machthaber ohne Rückbindung an eine höhere sittliche Instanz ein ganzes Staatswesen auf menschenverachtende Weise in den Ruin getrieben hatten. Auch dieses sollte sich nicht noch einmal wiederholen. Sehr treffend kommt dieser Wunsch in der Präambel zur Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946 zum Ausdruck: „Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat, in dem festen Entschlusse, den kommenden deutschen Geschlechtern die Segnungen des Friedens, der Menschlichkeit und des Rechts dauernd zu sichern...“.

Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee (August 1948) formulierte allerdings noch keinen expliziten Gottesbezug. In den daran anschließenden Beratungen des Parlamentarischen Rates befaßte sich der Ausschuß für Grundsatzfragen unter anderem auch mit der Frage, dem Grundgesetz eine Präambel voranzustellen. Carlo Schmid (SPD) erklärte in diesem Zusammenhang zur Bedeutung einer Verfassungspräambel: „Wir sehen in der Präambel nicht einen rhetorischen Vorspruch, den man aus Gründen der Dekoration und der Feierlichkeit dem ‘eigentlichen’ Text voranstellt. Wir sehen darin ein wesentliches Element des Grundgesetzes. Von ihr aus enthält es seine eigentliche politische und juristische Qualifikation“.5 Der vorgelegte Entwurf enthielt zunächst jedoch keinen Gottesbezug.

Erstmals brachte der Abg. Adolf Süsterhenn (CDU) den Gottesbezug zur Sprache. Ihm ging es darum, dem Grundgesetz eine „geistige Ausrichtung, diese letzten Endes sittliche, ethische Qualifikation [zu] geben“.6 Demzufolge wollte er den Gottesbezug sogar im Artikel 1 des GG unterbringen. Eher vorsichtig äußerte sich der Abg. Theodor Heuss von der FDP, der davor warnte, „diese sehr diesseitigen Werke zu stark im Metaphysischen verankern zu wollen, weil man sich selber dann in eine quasi Nichtverantwortung begibt“.7

Verschiedene Entwürfe von der CDU, der Deutschen Partei und der Zentrumspartei wurden erörtert und wieder verworfen. Schließlich erwärmten sich auch FDP und SPD für eine knapp zu formulierende Gottesformel, die nach verschiedenen redaktionellen Änderungen nun lautete: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen...“. Sie fand eine breite Mehrheit.


Der Parlamentarische Rat sah in der Aufnahme eines solchen Gottesbezugs in die Präambel, wie Aschoff es formuliert, „weder eine religiöse oder weltanschauliche Bevormundung, eine Verletzung des Prinzips der Trennung von Staat und Kirche noch eine Beeinträchtigung der Freiheitsgarantie für Nichtgläubige oder einen Gegensatz zu der ... gewährleisteten Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit. Das Bewußtsein, daß die Grundrechte einer metaphysischen Verankerung bedurften, war nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Zeit bei den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates besonders stark ausgeprägt...“.8 Man kann in dieser Hinsicht durchaus von einem breiten Konsens bei den Verfassungsvätern sprechen, der auch heute bei einer historisch angemessenen Auslegung unseres Grundgesetzes nicht einfach vernachlässigt werden darf. Angesichts der Biographie der Grundgesetzväter und ihrer Verankerung im abendländisch-christlichen Denken dürfte unzweifelhaft sein, daß der Gottesbezug den Gott der Bibel meinte. Dies ergibt sich auch aus der Analyse von entsprechenden Formulierungen in verschiedenen Länderverfassungen. Die Verfassung von Baden-Württemberg vom 11. November 1953 erwähnt in ihrem Artikel 1 Abs. 1 das „christliche Sittengesetz“. Im Artikel 12 Abs. 1 heißt es dort: „Die Jugend ist in der Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe ... zu erziehen“. Im Artikel 131 Abs. 2 der Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946 lesen wir: „Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, ...“. Artikel 7 Abs. 1 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28. Juni 1950 weist ebenfalls auf die „Ehrfurcht vor Gott“ als Erziehungsziel hin, ebenso die Verfassung von Rheinland-Pfalz vom 18. Mai 1947 mit dem Begriff der „Gottesfurcht“.

Noch eindeutiger als alle anderen Präambeln lautet der Vorspruch der rheinland-pfälzischen Verfassung: „Im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott, dem Urgrund des Rechts und Schöpfer aller menschlichen Gemeinschaft...“. Schließlich finden wir in der Verfassung des Saarlandes vom 15. Dezember 1947 in Artikel 26 Abs. 1: „Auf der Grundlage des natürlichen und christlichen Sittengesetzes haben die Eltern das Recht, die Bildung und Erziehung ihrer Kinder zu bestimmen“. Nach Artikel 30 ist die Jugend „in der Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe und der Völkerversöhnung, ...“ zu erziehen. Diese Formulierungen scheinen im öffentlichen Bewußtsein weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein.9

Diese nunmehr bereits mehr als 50 Jahre zurückliegende Debatte hat vor wenigen Jahren, im Mai 1994, eine ganz unerwartete und vielerorts kaum beachtete Wiederbelebung erfahren. Am 19. Mai 1994 beschloß nämlich der Niedersächsische Landtag, der erst 1992 ohne Vorspruch verabschiedeten neuen Landesverfassung doch noch eine Präambel mit Gottesbezug voranzustellen, die genau wie im Grundgesetz lautet: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat sich das Volk von Niedersachsen durch seinen Landtag diese Verfassung gegeben“. Die Besonderheit dieser Verfassungsänderung war, daß sie das Ergebnis einer von breiter Unterstützung getragenen Volksinitiative darstellte, die das gerade eben erst durch die neue Verfassung geschaffene Instrument der direkten Demokratie benutzte.10 Verschiedene christliche Gruppen und die Jüdische Gemeinde in Niedersachsen waren die Initiatoren. Zuvor hatten die ostdeutschen Bundesländer Thüringen und Sachsen-Anhalt neue Verfassungen verabschiedet, die ebenfalls den Hinweis auf die „Verantwortung vor Gott“ in der Präambel enthalten.


Der Niedersächsische Landtag nahm das Anliegen der Volksinitiative auf und verabschiedete schließlich die neue Präambel mit Zweidrittelmehrheit (CDU und FDP - letztere bis auf zwei Abgeordnete - stimmten geschlossen dafür,, außerdem die Hälfte der SPD-Fraktion). Es ist höchst interessant und aufschlußreich, die inhaltlich auf sehr hohem Niveau geführte Landtagsdebatte vor der endgültigen Verabschiedung der Präambel nachzulesen,11 um zu sehen, in welcher Weise heutigen Politikern die Bezugnahme auf Gott und den christlichen Glauben noch wesentlich ist und mit welchem Inhalt er gefüllt wird. Hierbei trat auch eine gewisse Bandbreite des Gottesbegriffs zutage, in der Polarität zwischen CDU einerseits und SPD/Grünen andererseits - etwa erkennbar an der Beantwortung der Frage: Welcher Gott ist gemeint? Der Gott der Christen, der Juden oder überhaupt Gott als „höchstes Wesen“, dem alle mehr oder weniger etwas abgewinnen können, auch solche, die dem christlichen Glauben fernstehen? Gerade die letztgenannte Variante wurde in der Debatte von manchen Rednern als fragwürdig angesehen, weil sie eigentlich nur noch eine „Leerformel“ darstellt, die in ihrer Breite nicht mehr mit konkretem Inhalt zu füllen ist.

In diesem Zusammenhang soll ein weiterer Fragenkomplex berührt werden, der - abgesehen vom Gottesbezug in den Verfassungspräambeln - mit der ideen- und geistesgeschichtlichen Grundlage der Menschen- bzw. Grundrechte zusammenhängt. Von zentraler Bedeutung ist hier vor allem das oberste Grundrecht schlechthin, die Menschenwürde: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ (Art. 1 Abs. 1 GG). Artikel 79 des GG bestimmt, daß dieser Grundsatz sogar von einer sonst möglichen Verfassungsänderung ausgenommen ist. Wie ist diese Menschenwürde zu verstehen? In dem bereits erwähnten, von Horst Dreier herausgegebenen und mitverfaßten Grundgesetzkommentar wird verneint, daß die Menschenwürde von der in der Bibel konstituierten „Gottesebenbildlichkeit des Menschen“ abgeleitet und ein „unmittelbares Derivat des Christentums“ sei. Sein kurzer Durchgang durch die Philosophie- und Theologiegeschichte läßt den Verfasser bei Kant haltmachen: „Nicht in der teleologisch gedeuteten Natur, nicht im Willen Gottes, weder im moralischen Gefühl noch im reinen Glücksstreben, sondern allein in der Selbstgesetzgebung des autonomen Willens ist nach Kant die Sittlichkeit und damit die Würde des Menschen verankert“.12 Bei Artikel 1 geht es ihm vor allem „um den Schutz des Individuums gegen die - potentiell allmächtige - Staatsgewalt. Menschenwürde konstituiert sich also als stets gefährdete, aber philosophisch nicht weiter begründungsbedürftige Größe“.13

Bevor ich auf die Ideengeschichte der Menschenrechte etwas näher eingehe, möchte ich eine Ausgangsthese formulieren, die manchen vielleicht als banal erscheinen mag, die aber dennoch wichtig zu ihrem Verständnis ist: Unser ganzes geistig-kulturelles Leben in Deutschland wie auch in den benachbarten Ländern beruht in seinen verschiedenartigen Ausprägungen und Erscheinungsformen auf einer seit dem frühen Mittelalter wesentlich vom christlichen Glauben geprägten Überlieferung. Ob wir es wollen oder nicht, bewußt oder vielmehr oft unbewußt handeln wir nach Prinzipien, die im großen und ganzen aus der Bibel und dem christlichen Glauben hergeleitet sind. Ja, unser heutiges Leben ist ohne diese Tradition gar nicht denkbar oder auf andere Weise zu erklären. Die Zehn Gebote beispielsweise bestimmen unser Rechtssystem und die Ausprägung der Gesetze für den Umgang mit anderen Menschen. Es ist eine eigentümliche Ironie unserer Gegenwart, daß die bewußte Verankerung der Menschen im christlichen Glauben bei uns mehr und mehr abnimmt, jedoch unsere gesamte Kultur in weiten Teilen (einschließlich der Erziehung) zumeist unbewußt weiterhin von dem aus dem Christentum herrührenden Wertsystem geprägt bleibt. Man könnte geradezu von einer Säkularisierung des christlichen Wertesystems sprechen.


Betrachten wir nunmehr die Traditionsstränge im Blick auf den Begriff der Menschenwürde und die Entwicklung einzelner Menschenrechte,14 so können wir feststellen, daß sich bereits in der griechisch-römischen Antike ein Verständnis von Menschenwürde herausgebildet hat, das sich um die Begriffe dignitas (Würde) und honor (Ehre) rankt. Zum einen geht es dabei um die Stellung des (freien) Menschen gegenüber anderen Lebewesen, zum anderen um den Rang einer Person innerhalb der Gesellschaft. Die Philosophenschule der Stoa (3.-1. Jahrh. vor Chr.) und beispielsweise Cicero (1. Jahrh. vor Chr.) kennen diese Differenzierungen. Dadurch, daß der Mensch zum Vernunftgebrauch begabt sei, ergebe sich für ihn seine besondere Würde.

Die frühe christliche Tradition knüpfte hieran an und leitete die Würde des Menschen vor allem von seiner Gottesebenbildlichkeit (vgl. 1. Mose 1,26f.) ab. Die Gotteskindschaft des Christen hob die Unterschiede zwischen einzelnen Menschen und Völkern auf (vgl. etwa Galater 3,26-28). Hierüber legte sich jedoch im Laufe des Mittelalters bis hinein in die Neuzeit eine starke kirchlich-staatliche Tradition, die das Wesen der individuellen Menschenwürde verdunkelte. Außerdem galt die Würde nur den bekehrten Christen, nicht jedoch den Heiden, was etwa während der Kreuzüge oder der neuzeitlichen Kolonialisierungen zu brutalen Bekehrungsversuchen oder Vernichtung von Ungläubigen Anlaß gab. Schließlich wuchsen die Menschen in eine streng hierarchisch gegliederte Gesellschaft hinein, die es bis ins 19. Jahrhundert nicht zuließ, ganz allgemein (ohne Unterschiede) von Menschenrechten zu sprechen. Durch die historisch bedingte enge Verzahnung von weltlicher und geistlicher Obrigkeit verfestigte sich diese Entwicklung.

Im ausgehenden 15. und 16. Jahrhundert jedoch brach durch den italienischen Humanismus, die spanische Spätscholastik und die Reformation in Deutschland die Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und seiner darin begründeten Würde wieder durch. Genannt seien hier nur Denker wie Pico della Mirandola, Vitoria, Suarez, aber auch Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam. Die deutschen und schweizerischen Reformatoren lehrten, daß der Mensch sich vor Gott nicht durch seine Leistungen oder seine gesellschaftliche Stellung konstituiere, sondern allein durch die Gnade und Barmherzigkeit Gottes. Zu dieser Bestimmung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch gehörte zwangsläufig auch die Glaubens- und Gewissensfreiheit. In seiner Zwei-Reiche-Lehre führte Martin Luther aus, daß der weltlichen Macht gegenüber den Menschen keine Handhabe in Glaubens- und Gewissensdingen zustehe.

Durch das Zusammenfließen von antikem und christlichem Gedankengut wurde das Wesen des Menschen bestimmt. Angesichts der Wirren der Reformation und Gegenreformation, der daraus resultierenden Entwicklung des Landeskirchentums, vor allem aber durch die Ausbildung des absoluten Fürstenstaates mit seiner ständischen Gliederung ließ jedoch die Umsetzung dieses Gedankengutes sehr zu wünschen übrig. Die Erkämpfung und Gewährung einzelner Freiheitsrechte seit der englischen Magna Charta von 1215 bezog sich lange Zeit auf einzelne gesellschaftliche Gruppen und ihre privilegierte Stellung. Freiheit im modernen Sinne, etwa für religiöse Abweichler, konnte nur durch Inanspruchnahme des Mittels Auswanderung (etwa nach Nordamerika) erreicht werden.


Mit dem christlichen Humanismus in den Niederlanden und England im 16. und vor allem 17. Jahrhundert und der Aufklärungsphilosophie (Milton, Locke) trat in der Folgezeit eine „anthropologische Wende“ im Menschenrechtsdenken ein. Die besondere Würde des Menschen wurde nunmehr, abgesehen von seiner Gottesebenbildlichkeit, vor allem an seinem gegenüber anderen Lebewesen einzigartigen Vernunftgebrauch festgemacht. Für die Begründung von unveräußerlichen Rechten griff Locke auf das „Konstrukt“ des Gesellschaftsvertrages zurück, das dann später durch Rousseau noch ausgebaut wurde. Bestimmte Rechte und Freiheiten stehen danach den Menschen von Natur aus zu, entstammen also seinem Urzustand (eine rein theoretische Fiktion, die es ja in dieser idealisierten Form nie gegeben hat) und bleiben den Menschen auch erhalten, nachdem sie einen gemeinsamen „Vertrag“ zur Gründung eines Staates geschlossen haben - ebenfalls eine idealisierende Betrachtungsweise.

Das von der Reformation bestimmte Naturrechtsdenken, geprägt von der schöpferischen und befreienden Gnade Gottes, breitete sich vor allem in Nordamerika verstärkt aus, während die Aufklärung in Europa, vor allem in Deutschland, ihren Höhepunkt in der Philosophie Kants fand. Für ihn lag die Würde des Menschen allein in seiner Autonomie als Vernunftwesen. Zugleich kam nach Kant nur dem Menschen eine solche Würde zu, nicht etwa anderen Geschöpfen oder der Natur, die damit zum reinen Objekt menschlichen Handelns gemacht wurde.

Angesichts dieser starken Fixierung der Aufklärung auf die Vernunft des Menschen und des Verständnisses von Freiheitsrechten gegenüber dem Staat als reinen Abwehrrechten gegenüber staatlicher Willkür muß jedoch nach der über den Menschen hinausgehenden Begründung der Menschenwürde gefragt werden. Hier bot und bietet das reformatorische Gedankengut einen Ausweg, indem es einen unmittelbaren Rückbezug des Menschen auf seinen Schöpfer vornimmt und die Rechtfertigung des (sündigen) Menschen allein durch Gottes Gnade erfolgt, also nicht in der Lebensleistung des einzelnen oder seinem Vernunftgebrauch begründet ist. Der Urgrund der Menschenwürde liegt also im Verhältnis des Menschen zu Gott.

Es bedurfte eines jahrhundertelangen Entwicklungsprozesses, um von einzelnen Rechten und Freiheiten, die sich auf einzelne privilegierte Gruppen der Gesellschaft bezogen, zu wirklich allgemeingültigen Rechten aller Bürger zu gelangen - wobei es dann noch eine gesonderte Frage ist, ob diese Rechte und Freiheiten im tatsächlichen Leben auch durchgesetzt werden konnten. Dieser Entwicklungsprozeß vollzog sich zuerst in England. Wichtige Marksteine stellen hier vor allem die Habeas-Corpus-Akte von 1679 und die Bill of Rights von 1689 dar, die - ebenso wie die nachfolgende Entwicklung in Nordamerika - im Zusammenhang mit entscheidenden politischen Umbrüchen stehen. Vor allem in Nordamerika hingen diese Veränderungen (neben der Durchsetzung der Religionsfreiheit) mit der politischen Befreiung aus kolonialer Bevormundung zusammen. Programmatisch sprach etwa Thomas Paine von „natürlichen Menschenrechten“; im gleichen Jahr (1776) hieß es in der von James Madison geprägten Virginia Bill of Rights: „Alle Menschen sind von Natur aus in gleicher Weise frei und unabhängig und besitzen bestimmte angeborene Rechte ... und zwar den Genuß des Lebens und der Freiheit, die Mittel zum Erwerb und Besitz von Eigentum und das Erstreben und Erlangen von Glück und Sicherheit“.

Hierin findet sich auch der bemerkenswerte und wegweisende Satz, „daß Religion oder die Ehrerbietung, die wir unserem Schöpfer schulden, und die Art, in der wir sie darbringen, allein von Vernunft und Überzeugung abhängen, nicht aber durch Gewalt zu erzwingen sind; daß daher alle Menschen in gleicher Weise zur freien Ausübung ihrer Religion berechtigt sind, wie dies den Forderungen ihres Gewissens entspricht, und daß es die gegenseitige Pflicht aller ist, christliche Nachsicht, Liebe und Hilfsbereitschaft an den Tag zu legen“. Vernunft und Glaube werden hier in einem Atemzuge genannt! Die im wesentlichen von Thomas Jefferson formulierte Unabhängigkeitserklärung von 1776 sprach von den „Laws of Nature and of Nature’s God“ und bekräftigte, daß der „Schöpfer“ den Menschen gewisse unveräußerliche Rechte verliehen habe. Übrigens steht noch heute auf Münzen und Geldscheinen der USA: „In God we trust“. Einen Monat vor der Verabschiedung der französischen „Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers“ vom 27. August 1789 erhielt die amerikanische Verfassung von 1787 mit ihren 10 Amendments eine kurzgefaßte „Bill of Rights“.


Mehr als nur ein Wermutstropfen in der amerikanischen Entwicklung war es, daß die „natürlichen Menschenrechte“ lange Zeit nur für die weiße Bevölkerung, nicht jedoch für die Schwarzen, die überwiegend in Sklaverei lebten, galt.

Wenn auch die Französische Revolution mit einem starken säkularistischen Zug versehen war, ist bemerkenswert, daß die französische Menschenrechtserklärung von 1789 doch in - wie es heißt - „Gegenwart und unter dem Schutze des höchsten Wesens“ erlassen wurde, also einen etwas verkappten Gottesbezug enthält. Das bald auf das Revolutionsgeschehen folgende Regime der „Schreckensherrschaft“ verkehrte die Menschenrechtserklärung hier allerdings zunächst wieder in ihr Gegenteil.

In Deutschland fanden in den Jahren 1818 bis 1820 Grundrechtskataloge Eingang in süddeutsche Verfassungen. Die Frankfurter Nationalversammlung verabschiedete am 27. Dezember 1848 erstmals die „Grundrechte des deutschen Volkes“, die jedoch nur drei Jahre in Kraft blieben. Da die Reichsverfassung von 1871 auf einen Grundrechtsteil verzichtete, gab es erst mit der Weimarer Verfassung von 1919 einen verfassungsrechtlich verankerten Katalog von Grundrechten für alle Deutschen. Am 10. Dezember 1948 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte; es begann eine bis heute andauernde Entwicklung ihrer Universalisierung, mehr und mehr wurden sie zu einem Gegenstand des Völkerrechts.

Heute sind die Menschen- und Grundrechte bei uns zu einem selbstverständlichen Gemeingut geworden, auch wenn es immer wieder höchstrichterlich zu entscheidende Konfliktfälle zwischen Grundrechten und anderen Rechtsbereichen gibt. Nur noch selten jedoch wird in unserem stark säkularisierten und pluralistischen Staat nach den historischen Quellen der Menschen- und Grundrechte gefragt. Doch die Verfassungsväter des Bonner Grundgesetzes waren größtenteils tief vom christlichen Glauben geprägt. Wolfgang Huber schreibt zutreffend: „Der neuzeitliche Menschenrechtsgedanke ist in seiner Entstehung wie in seiner Entwicklung mit der Geschichte der christlichen Kirchen und den Inhalten des christlichen Glaubens vielfältig verflochten“.15 Daher heißt es auch in der Präambel für den am 28. September 2000 vorgelegten Entwurf der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zutreffend: „In dem Bewußtsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“.

Eine völlige Säkularisierung der Menschen- und Grundrechte, wie sie bei uns vielfach zu beobachten ist, die sie allenfalls an bloße, jedermann einsichtige Vernunftgründe koppelt, reißt sie ganz aus ihrem Traditionszusammenhang. Und der Rückgriff auf eine wie auch immer geartete Ethik verkennt, daß jede Ethik nicht ohne irgendeinen Rückbezug auf ein ihr zu Grunde liegendes Wertesystem auskommen kann. So schreibt Wolfgang Huber: „Der Umstand, daß Vernunft ethische Normen zwar prüfen, nicht aber hervorbringen kann, bleibt außer Betracht. ... Die These, die Menschenrechte könnten aus Gründen der Vernunft ausreichend plausibel gemacht werden, abstrahiert vom geschichtlichen Charakter der Menschenrechte ebenso wie vom geschichtlichen Charakter menschlicher Vernunft“.16



Unser heutiges Staatswesen, das vom Pluralismus der Werte und Anschauungen sowie einer starken Tendenz zum Individualismus geprägt ist, verlangt nach einem begründungsoffenen Umgang mit den Menschen- und Grundrechten. Der Staat soll zwar nicht explizit atheistisch, aber doch zumindest neutral sein, auch dem christlichen Glauben gegenüber. Glaubens- und Gewissensfreiheit bedeuten eben auch, die Freiheit zu haben, nicht zu glauben. Auf der anderen Seite wird aber auch immer wieder betont, daß eine Vermittlung von Werten, etwa in der Schule und der Familie, unerläßlich sei. Es besteht also ein Spannungsverhältnis: „Einer exklusiv christlichen Begründung widerspricht die Tatsache, daß der Begriff der Menschenrechte selbst nur ernst genommen wird, wenn der Zugang aller Menschen, unabhängig von ihren religiösen oder politischen Überzeugungen, zu ihnen offengehalten wird. Der Verzicht auf jede theologische Begründung scheitert daran, daß die Würde jeder menschlichen Person aus Gründen der profanen Vernunft allein nicht einsichtig gemacht werden kann“.17

Eine vergleichende Analyse verschiedener politischer Ordnungssysteme - sowohl im historischen Rückblick als im gegenwärtigen Horizont - zeigt, daß in einem freiheitlich und demokratisch verfaßten System am besten die durch das christlich-abendländische Denken geprägten Grund- und Menschenrechte zur Entfaltung kommen können, zumal wenn es mit der sozialen Absicherung von unverschuldet in Notsituationen geratenen Menschen verknüpft ist. Das wesentlich von Ludwig Erhard nach 1945 geschaffene Ordnungskonzept der Sozialen Marktwirtschaft ist „in seiner umfassenden Form Ausfluß christlicher Denkstrukturen“. So gesehen ist der Prozeß der Verwirklichung der Menschen- und Grundrechte in ihrer langen Geschichte im demokratischen Staat der Gegenwart verfassungs- und ordnungspolitisch am Ziel angelangt, auch wenn sich nur ein Teil der Bevölkerung als bekennende Christen sieht. „Die durch Gott in Christus geschenkte Freiheit, die in der Annahme aller Menschen durch Gott gegebene Gleichheit und die in der Teilhabe am Geist begründete Befähigung zur aktiven Mitwirkung am gemeinsamen Leben verleihen den drei Grundmomenten von Freiheit, Gleichheit und Teilhabe zugleich eine Zuspitzung, die über das in einer säkularen Rechtsordnung jeweils Realisierte hinausweist“.18

Der Zusammenhang von Gottesbezügen im Grundgesetz und ihrer Bedeutung für das gesellschaftliche Leben einerseits und den aus der christlich-abendländischen Entwicklung herzuleitenden Menschenrechten andererseits müßte in der öffentlichen Diskussion einen viel breiteren Raum einnehmen. Im „Kruzifix-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichtes vom 16. Mai 1995 heißt es: „Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit selber zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen auch die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen sind hierbei ... von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein“.19 Etwas verstärkend heißt es im abweichenden Votum der Richter Seidl, Söllner und Haas hierzu: „Unter der Geltung des Grundgesetzes darf das Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität nicht als eine Verpflichtung des Staates zur Indifferenz oder zum Laizismus verstanden werden“.20


Heute sind die handelnden Politiker in unserem Staat mit vielen Fragestellungen konfrontiert, die sich nur durch eine Rückbindung an ethisch-religiöse Instanzen lösen lassen. Ich nenne nur die Problembereiche Bioethik, Gentechnologie, Schutz des ungeborenen Lebens21 , Sterbehilfe, Asylrecht, Sonntagsschutz oder Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen für die jetzt Lebenden und die nachfolgenden Generationen. Hier kann der christliche Glaube (zweitrangig ist hier seine jeweilige konfessionelle Ausprägung) ganz wichtige Entscheidungshilfen geben, zumal dann, wenn wir uns wieder stärker auf die christlich geprägten Grundlagen unserer Staats- und Verfassungsordnung besinnen. Altes und Neues Testament enthalten zeitlose Weisungen, die hier weiterhelfen (z.B. Zehn Gebote, Schutz der Schwachen und Armen, Fürsorge für die Fremden, die Aufforderung zur politischen Beteiligung am Gemeinwesen: „Suchet der Stadt Bestes“- Jeremia 29,7). Selbst das in Deutschland erstmals im Grundgesetz (Art. 20 Abs. 4) verankerte „Widerstandsrecht“, das in seiner Genese bis ins Mittelalter zurückverfolgt werden kann und etwa Martin Luther sehr beschäftigte, kann gut biblisch formuliert werden: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte 5,29).

In den letzten Jahren verstärkte sich in der Bundesrepublik Deutschland die Tendenz, daß die verantwortlichen Politiker und Parteien die Lösung solcher drängenden Fragen entweder aufschoben (z.B. die umstrittene Zustimmung zur Bioethik-Konvention des Europarates) oder dem Bundesverfassungsgericht überließen, so daß dessen Richter unter einen enorm hohen Erwartungsdruck von Politik und Gesellschaft geraten sind. Dabei werden jedoch die Aufgaben und Möglichkeiten dieses Gerichts weit überschätzt. Für die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft enthalten in einer solchen Situation die Worte der Präambel des Grundgesetzes „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“, das Prinzip der Menschenwürde als oberstes Grundrecht oder der Hinweis auf das (christlich zu verstehende) Sittengesetz (Art. 2 Abs. 1, vgl. auch Art. 1 Abs. 1 der baden-württembergischen Verfassung vom 11. November 1953) eine Dimension, die letztlich auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung in ihrer ganzen Tiefe offensichtlich noch gar nicht hinreichend ausgelotet hat.

_______________

* Dieser Text beruht auf einem Vortrag bei den SMD-Hochschultagen in Tübingen am 14. Mai 1998. Beabsichtigt war ein kurzer historischen Problemaufriß, nicht jedoch an eine philosophisch-systematische Darstellung. Für wertvolle Hinweise danke ich Jan Carsten Schnurr (Bergneustadt/Oxford).

Anmerkungen

(1) Dreier, Horst (Hrsg.): Grundgesetz. Kommentar, Band 1, Tübingen: Mohr 1996, S. 13.

(2) ebd.

(3) ebd., S. 14.

(4) So z.B. Theodor Maunz/Günter Dürig/Roman Herzog, Grundgesetz. Kommentar, München 1957ff. oder Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 4. Aufl. (hrsg. von Christian Starck), München 1999.

(5) Zitiert in Hans-Georg Aschoff (Hrsg.), Gott in der Verfassung. Die Volksinitiative zur Novellierung der Niedersächsischen Verfassung, Hildesheim: Lax 1995, S. 13.


(6) ebd., S. 14.

(7) ebd.

(8) ebd., S. 21.

(9) Christian Pestalozza (Hrsg.), Verfassungen der deutschen Bundesländer, 6. Aufl., München 1999.

(10) Vgl. Artikel 47 der Niedersächsischen Verfassung vom 19. Mai 1993.

(11) Vgl. Die Debatte des Niedersächsischen Landtages zur Verfassungspräambel am 19. Mai 1994, hrsg. vom Präsidenten des Niedersächsischen Landtages, Hannover 1994, S. 10001- 10024.

(12) Vgl. Anm. 1, S. 95.

(13) ebd., S. 97.

(14) Ich folge hier vor allem dem ausgezeichneten Beitrag des Moraltheologen und derzeitigen evangelischen Bischofs von Berlin-Brandenburg, Wolfgang Huber, über „Menschenrechte/Menschenwürde“, in: Gerhard Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Band 22, Stuttgart: Klett 1975, S. 577ff.

(15) Ebd., S. 591.

(16) Ebd.

(17) Ebd., S. 593.

(18) Ebd.

(19) BverfGE 93, S. 22.

(20) Ebd., S. 29.

(21) Bereits das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 formulierte: „Die allgemeinen Rechte der Menschheit gebühren auch den noch ungebornen Kindern, schon von der Zeit ihrer Empfängniß“ (ALR I, 1, § 10). Dieser Passus scheint heute nahezu vergessen zu sein.



Benutzte und weiterführende Literatur

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