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Martin Dreyer: Pastor mit Panik


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Rolf

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Martin Dreyer: Pastor mit Panik

 

 

 

 

Ein Pfarrer, der Angst hat, vorne zu stehen, den Panikattacken heimsuchen, wenn er predigt? Gibt’s nicht? Doch! Martin Dreyer lüftet das Geheimnis über seine Angstattacken.

 

„‚Martin, du hast wieder echt gerockt!‘ sagten mir Menschen nach der Veranstaltung. Alle gehen davon aus, dass die Bühne mein Leben ist, meine Berufung. Wo ich mich wohl fühle wie ein Fisch im Wasser. Aber es gibt ein Geheimnis: meine unheimliche Angst, meine Panik vor jeder Predigt.“

 

Hölle, Himmel, Hölle

 

Zum ersten Mal mit einer Angstattacke konfrontiert war ich kurz vor einer Predigt im Hamburger Musikklub „Marquee“. Ich war schon lang überzeugter Christ, ordinierter Pastor und erster Vorsitzender der Jesus Freaks, die ich vier Jahre zuvor mit anderen in meinem kleinen Wohnzimmer gegründet hatte.

 

An diesem Punkt aber entsprach meine Reise wohl nicht dem klassischen Verlauf, wie man ihn in christlichen Kreisen immer wieder gerne hört. In der Vergangenheit liegen da Hölle, Teufel, Tod, Verlorenheit, Angst, Krankheit und Abhängigkeiten. Dann kommt der radikale Wandel, die Bekehrung: vom Saulus zum Paulus, vom Nichtchristen zum Christen. Und damit wird aus Hölle der Himmel, es entsteht Gottesnähe, Heilung, Befreiung. Der neue Christ fliegt von Wolke sieben über Wolke acht immer weiter, der seligen Ewigkeit entgegen …

 

Bei mir war es anders.

 

Sicher gab es zuerst die Hölle, mit all ihren Fehlern und Folgen, ihrer großen Verlorenheit. Und dann kam auch eine Phase des Himmels, in der Siege gefeiert, Heilung erfahren, Befreiung erlebt wurde. Doch dann kam sie wieder, die Hölle. Die Dunkelheit, ungelöste Probleme, Süchte, Krankheiten und Depressionen. Und es kam auch immer wieder die Angst, die eine viel zu große Rolle einnahm. Fast so, als wollte sie mich weiter beherrschen und mich nie ganz loslassen. Ich hatte Angst vor der Angst, ich wollte vor ihr fliehen. Aber sie war immer stärker als ich, stärker als mein Glaube.

 

Als Jesus Freaks feierten wir unsere Gottesdienste nicht in alten Kirchengemäuern, sondern gingen auf die Straße, auf die Reeperbahn in St. Pauli, mitten im Rotlichtviertel in dunkle Keller und versiffte Bars. Zur Kirche wurde auch das „Marquee“, ein stadtbekannter alternativer Musikklub nahe der Hafenstraße. Durch Zufall konnten wir freitagabends dort vor dem Hauptprogramm unsere Gottesdienste feiern. Genau dort passierte es – dort ging der Kampf mit meiner Angst los.

 

Angst vor Fehlern

 

Warum ausgerechnet in einem Gottesdienst? Lange zerbrach ich mir darüber den Kopf. Hatte der Kampf spirituelle Gründe oder nur menschliche? Kam er aus dieser Welt und hatte psychologische Ursachen – oder aus einer unsichtbaren, geistlichen Dimension? Lag es an einer dauernden Überarbeitung? War mir die ganze Sache doch über den Kopf gewachsen? Hatte ich vielleicht im Dienst für Gott Gott selbst aus dem Blick verloren?

 

Mein Angstgefühl ist schwer zu fassen, ich kann es nur ungenau beschreiben. Es war eine Angst, Fehler zu machen, ja. Aber es war mehr. Ich hatte Angst, mich zu blamieren und dadurch der Bewegung zu schaden, ja, sogar der Kirche als Ganzes, dem Ruf des Glaubens. Das Gefühl exakt auszumalen, gelingt mir nicht …

 

Langsamer Tod auf der Toilette

 

Dabei war dieser Gottesdienst damals nicht besonders. Ich war gut vorbereitet, meine Predigt saß. Vielleicht war es die Anwesenheit eines kirchenkritischen taz-Reporters. Das vorherige Interview mit ihm lief eigentlich gut, ich war gelassen, freundlich und vielleicht sogar ein bisschen witzig.

 

Aber als der Gottesdienst anfing, spürte ich, wie es um meinen Kopf herum heiß wurde. Das Adrenalin übernahm langsam, aber unaufhörlich die Kontrolle. Ich fühlte eine aufsteigende Wärme, fing an zu schwitzen und mir wurde übel. Und dann der Darm – ich rannte aufs Klo, hatte Krämpfe und Schmerzen, es war ein Grauen! Ich konnte nicht fliehen, musste da jetzt durch.

 

Und niemand wusste davon, ich wollte diese Schwäche nicht eingestehen, nichts sollte öffentlich werden. Das wäre mir eine zu große Blamage gewesen und passte nicht zum Bild eines „erfolgreichen“ Christen. Nach einer Weile wurde mein emotionaler Zustand etwas besser, vielleicht gewöhnte sich der Körper an den harten Adrenalinausstoß. Kurz vor der Predigt aber zwang es mich erneut auf die Toilette. Wieder Magenkrämpfe, schlimme Schmerzen. Es war wie ein langsamer Tod, aber auch wie eine Geburt.

 

Schließlich war es so weit. Ich wollte mir nichts anmerken lassen. Ich wollte der gute Prediger sein, der mit seinen Worten begeistern und mitreißen kann. An meinem Hals waren überall hektische Flecken, die man aus der Nähe sehen können würde. Ich tat schließlich das, was ich ab diesem Zeitpunkt immer und immer wieder tat: Ich sprach mir Mut zu, sagte Bibelverse auf, ging in mich. Manchmal bekenne ich wild irgendwelche Sünden, damit nichts zwischen Gott und mir stehen könnte. Aber ich schaffe es nicht! Das letzte Lied, die Ansage – dann bin ich dran. Langsam gehe ich den Gang entlang, betrete die Bühne. Und dann sterbe ich …

 

Nicht alleine mit der Angst

 

Erstaunlicherweise sind Angst-Gedanken für viele Menschen normal. Der Kampf mit der Angst spielt sich dort nicht vor einer Predigt ab, sondern vor den ganz normalen Aufgaben des Alltags: Aufstehen, Kochen, Kinder in die Schule bringen, Arbeit im Büro.

 

Es ist noch nicht wirklich bis in die Mitte der Gesellschaft durchgedrungen: Angst ist der absolute Spitzenreiter aller psychischen Erkrankungen – weltweit! Die Zahl angsterkrankter Menschen nimmt jedes Jahr rasant zu – und das nicht erst seit Corona. Wir vermuten Depressionen, Suizide, Sucht oder Psychosen an erster Stelle des Psychiatrie-Rankings. Aber es ist schlicht die Angst, mit der die meisten Menschen auf diesem Planeten zu kämpfen haben.

 

Allein in Europa ließen sich im letzten Jahr 18 Prozent der 14- bis 65-Jährigen wegen Angststörungen ärztlich behandeln. Bedenkt man die Dunkelziffer der Leidenden, die aus Scham keine professionelle Hilfe suchen, kommen Wissenschaftler auf bis zu 25 Prozent der Erwachsenen.

 

Angst zu haben ist nicht schick – deswegen die Scham. Es ist keine Diagnose, die man gerne in den Lebenslauf schreibt. Ärzte reden bereits von einer Angstepidemie, die genauso bedrohlich ist wie Covid 19. Vielleicht sogar noch bedrohlicher, denn psychische Erkrankungen sind weit schwerer zu behandeln als körperliche.

 

Anfechtungen oder Angst?

 

Es brauchte lange, ehe ich mir meine Angst überhaupt ehrlich und in ihrer ganzen Bedeutung eingestehen konnte. Heute weiß ich, wie wichtig dieses Wahrwerden mit mir selbst für meine Heilung war. Lange Jahre hatte ich mir die Angst nur fromm erklärt und eher versucht, sie wegzureden: „Das ist doch keine Angst! Es handelt sich nur um Anfechtungen, ganz normal.“ Vielleicht war es ja sogar ein gutes Zeichen, von Angst angegriffen zu werden, denn dann musste ja der Teufel meinen Dienst ganz besonders fürchten. In dieser Phase habe ich die Angst mit geistlichen Mitteln bekämpft. Sünden bekannt. Schützendes Gebet.

 

Gebietendes Gebet. Ich habe den Satan ausgetrieben, die Räume, den Ort, ja sogar das Mikrofon unter „das Blut des Lammes“ gestellt.

 

Aber ich spürte recht schnell, dass diese Form der Angstbekämpfung überhaupt nicht half, ja sogar manchmal genau das Gegenteil bewirkte: Es machte die Angst noch größer und mächtiger. Denn ich beschäftigte mich vor jedem Dienst intensiv mit ihr, gab ihr Raum und Zeit. Und damit wurde sie nur noch größer und stärker. Ich redete mit meiner Angst, rechnete mit ihr, bekam Angst vor der Angst – es war skurril und schwer zu fassen.

 

Schließlich bekam ich die Anfrage eines großen Privatsenders, bei einer TV-Show zur besten Sendezeit als Experte vor der Kamera zu stehen. Fernsehen – das war schon immer ein Traum von mir. Überschwänglich freute ich mich auf den Moment, das erste Mal vor der Kamera zu stehen – und hatte meine Angst vergessen. Aber bereits am ersten Drehtag wäre ich fast gestorben. Also brauchte ich Medikamente und lief zum Arzt. Als ich der Psychiaterin gegenübersaß und ihr von meiner Angst erzählte, fragte sie als erstes nach meiner Biografie. Natürlich berührten wir auch meine Suchtgeschichte – und ihr Kommentar war eindeutig: „Von mir bekommen Sie keine Tabletten! Davon würden Sie extrem abhängig werden!“ Also versuchte ich es mit rezeptfreien Pillen und Pulvern, homöopathischen Kügelchen und alternativer Heilmedizin. Nichts half.

 

Mit meiner Angst reden

 

Ein wichtiger Schritt nach vorn war es, als ich mein Problem in einem geschützten Rahmen ans Licht brachte: Ich redete in Selbsthilfegruppen über meine Angst. Die Angst als mein Geheimnis war wie ein wütender Dämon in mir eingesperrt. Solange ich niemandem davon erzählte, gab es für mich keine Chance, die Angst zu überwinden. Sie lag in der Dunkelheit meiner Seele und versteckte sich dort. In dem Moment, wo ich über meine Angst sprach, wuchs die Hoffnung, sie doch noch loswerden zu können. Aber Gespräche sind keine Pille, sind kein schnelles Mittel – der Prozess dauerte viele Jahre.

 

Ein Durchbruch kam dann in einem Jugendgottesdienst. Ein Schweizer Pastor hatte mich eingeladen, dort zu predigen. Ich beschloss, ihm von meiner Angst zu erzählen – und er gab mir einen entscheidenden Rat: „Schau die Angst genau an! Schau der Angst in die Augen!“, sagte er plötzlich zu mir. Ich hatte mittlerweile schon viele Ratschläge gehört, aber diesmal kam es irgendwie anders an. Es traf mich tief ins Herz:

 

 „Lauf nicht vor ihr weg, geh nicht auf die Toilette, schau ihr ins Gesicht. Lach ihr ins Gesicht. Begrüße sie freundlich oder wütend. Frag sie, was sie von dir will. Stell dich deiner Angst, dann kannst du sie auch besiegen! Die Angst hat nur solange Macht über dich, solange du vor ihr wegläufst! Vielleicht kannst du sie sogar willkommen heißen, sie ganz bewusst wahrnehmen. Sag ihr doch das nächste Mal ‚Hallo Angst‘, wenn sie dich wieder hämisch anlacht, um dir zu zeigen, wie klein und unwürdig du bist. Zeig ihr dein volles Gesicht – und dann zieh dein Ding einfach durch.“

 

Diese Sätze klangen so einfach und einleuchtend und bestimmt hatte ich sie schon oft gehört und mir selbst aufgesagt. Aber diesmal hörte ich sie zum ersten Mal wirklich. Die Worte klingelten in mir. Aber wie soll ich mich meiner Angst denn stellen? Sollte ich wirklich nicht zur Toilette gehen, wie ich es viele Jahre vor jeder Predigt immer tun musste? Was, wenn ich plötzlich den dringenden Druck in der Magengegend spürte, aber bereits vorne in der ersten Reihe saß? Was, wenn mir wieder die Worte im Hals stecken blieben? Was, wenn ich so rot würde, dass selbst die Jugendlichen in der letzten Reihe denken müssen:

 

„Was hat der denn genommen?“

 

Aber ich wollte dieses Problem endlich unter die Füße bekommen! Also probierte ich etwas völlig Neues aus: Ich setzte mich in die erste Reihe, schloss die Augen und tat etwas Verrücktes. Ich sprach kein Gebet, redete nicht mit Gott, sondern direkt mit meinem Gegner – mit der Angst. Ich sagte: „Angst, ich weiß, dass du da bist. Du warst schon immer da und hast gegen mich gekämpft. Du warst sehr stark, stärker als ich. Aber ich werde mich heute von deiner Last befreien. Gott lebt in mir und der ist stärker als du. Ich laufe nicht mehr weg. Ich sehe dir in die Augen – und ich werde dich besiegen! Du hast keine Macht mehr über mich. Ich habe so oft zu Gott gesagt, dass du verschwinden sollst, aber du warst immer da. Ich habe so oft gebetet, dass Gott dich wegnehmen soll, aber du bist geblieben. Jetzt heiße ich dich willkommen! Ich sehe dich und ich spüre dich. Ich nehme dich wahr – aber ich werde nicht vor dir fliehen. Du hast einen Platz in meinem Leben, aber du kannst mich nicht mehr kontrollieren! Ich nutze dich, indem du mich wach machst, aber ich lass mich nicht länger von dir quälen!“

 

Nicht mehr weglaufen

 

Dann stand ich auf und ging nach vorn an das Rednerpult. „Vielen Dank für die Einladung, dass ich heute zu euch predigen darf,“ begrüßte ich die jungen Menschen. Ich atmete tief durch, schaute in die Menschenmenge, spürte langsam die Angst kommen – ich spürte sie, aber gab ihr keinen Raum mehr. Ich schaute den Menschen direkt in die Augen. Jeder sollte mein Gegenüber sein. Fast so, als wollte ich sagen, dass ich keine Angst mehr vor ihnen habe. Ich konfrontierte aber nicht die Menschen, ich konfrontierte die Angst in mir, ich lief nicht länger vor ihr weg. In der ersten Reihe sah ich in die Augen der Zuschauer, ganz direkt. Und die Angst war – und ist – wirklich weg. So plötzlich, wie sie da war, ist sie auf einmal wieder verschwunden. Ich konnte es kaum fassen und redete ganz befreit weiter. Eine tiefe Ruhe war in mir, eine unsägliche Kraft, Frieden. Ich suchte sogar die Konfrontation: Sollte sie doch kommen, ich habe keine Angst mehr! Das war neu und fühlte sich gut an. Erstmals wieder konnte ich mich ganz in Gott fallen lassen und hatte das Gefühl, als würden seine Worte aus mir heraussprudeln – ohne Hindernis, ohne Filter. Und ohne Angst.

 

Sich der Angst stellen

 

Für mich war der Schlüssel zum Weg aus der Angst, dass ich nicht länger vor ihr weggelaufen bin. Ich musste mich meiner Angst stellen, ihr ins Gesicht schauen, ihr die Stirn bieten. Heute ist meine Angst besiegt und bewältigt. Ich brauche nicht mehr vor meinem Lampenfieber zu fliehen, bin von dieser Marter befreit. Heute habe ich Werkzeuge dafür in der Hand, fühle mich nicht mehr von Angst bedroht.

Aber meine Angst saß tief. Ich bin ihr nicht durch ein Gebet allein, durch Seelsorge oder einen großen Entschluss entkommen. Der Erkenntnis, dass ich mich meiner Angst stellen musste, folgte ein langer Prozess der Aufarbeitung – viele Schritte, die ich in einem kurzen Artikel nicht ausreichend beschreiben kann. Aber der Einstieg in den Ausweg begann mit der direkten Auseinandersetzung. Ich musste mich meiner Angst stellen, sie sehen wie einen Gegner, den ich bezwingen kann. Allen, die in einer ähnlichen Situation stecken, möchte ich Mut machen, einen ähnlichen Weg zu probieren.

 

Christsein bedeutet für mich immer noch nicht, das „Alles-wird-gut-Feeling“ in Dauerpacht zu besitzen. Und ich bete immer noch zu dem Friedefürsten, dem Chef des Friedens, wenn mal die Angst wieder um die Ecke lugt. Aber der Pastor hat keine Panik mehr. Die Qualen sind vorbei, ich kann aufatmen und befreit leben.

 

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Dieser Artikel des Volxbibel-Autors Martin Dreyer erschien zuerst in der Zeitschrift AUFATMEN (Ausgabe 01/2021), die in diesem Jahr ihr 25-jähriges Jubiläum feiert. AUFATMEN ist ein Produkt des Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.

 

Über seine Angstattacken und den Weg hinaus hat Martin Dreyer ein Buch geschrieben, 

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, das im Frühjahr bei SCM R. Brockhaus erscheint. 


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