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Wie lebt jemand, der getötet hat?


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Rolf

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Fünftes Gebot




Wie lebt jemand, der getötet hat?




"Du sollst nicht töten", lautet das Fünfte Gebot. Trotzdem setzt sich ein Berliner Arzt für die Sterbehilfe ein. Ein anderer Mann hat getötet, sogar in einem ziemlich krassen Fall. Vor gut zehn Jahren in Berlin, in Kreuzberg, am helllichten Tag. Wie wird man mit der Schuld fertig?

Das fünfte Gebot „Du sollst nicht töten“ – es gilt; es durchdringt alle Schichten unserer Gesellschaft, ob die Menschen christlich, muslimisch oder atheistisch sind. Es ist das erregendste der Gebote, auch das populärste, wenn man es so nennen darf. Es ist das Boulevard-Thema auf der Agenda Gottes. Es lässt einen nicht los, „auch wenn kaum jemand damit in seinem Leben in Berührung kommt“, wie es Pastor Jörg Machel von der Emmaus-Ölberg-Gemeinde sieht. Weil der Verstoß dagegen irreversibel, die Schuld unermesslich, eine Wiedergutmachung unmöglich ist? Wie weit darf man gehen, lautet ja gerade wieder beim Thema Sterbehilfe die hitzig diskutierte Frage.

Ein Besuch bei dem Berliner Sterbehelfer Uwe-Christian Arnold. „Doktor, können Sie nicht helfen?“ Es ist diese Bitte verzweifelter Menschen gewesen – Menschen, die nicht um ihr Leben bitten, sondern um den Tod betteln –, die den Urologen aufgerüttelt hat. Helfen am Ende des Lebens, „wenn sich die Mediziner gerne abwenden, den Sterbenden alleinlassen“, dann da sein – das versteht Arnold unter dem Standesethos, dem Wohl der Kranken zu dienen. Und beim Todkranken sei es die Linderung der Qualen. „Terminale Sedierung“, nennt er das, endgültiges Ruhigstellen. Das sei seine Intention, nicht die, zu töten.

Der 62-jährige schlanke Mediziner sieht nicht aus wie Doktor Tod. Entspannt, aber engagiert in der Unterhaltung sitzt er in seiner hellen Wohnung im Westen Berlins. Fünf Handys umgeben ihn mittlerweile. Er ist von den Medien zurzeit gefragt. Es nervt ihn einerseits; andererseits gibt ihm die Diskussion um die Sterbehilfe die Chance, sein Anliegen klarzumachen: auf kompetente Weise die Qualen Todkranker zu beenden. Das Tabu „Du sollst nicht töten“ will er als solches nicht abschaffen, obwohl ihm das Fünfte Gebot als areligiöser Mensch nicht als der Maßstab schlechthin erscheine. Er weiß, dass er sich in einer terminologischen Grauzone bewegt. Die Qual des Sterbens beenden zu wollen, heißt ja, den Patienten vorzeitig sterben zu lassen. Trotzdem ist es für ihn kein leerer Streit um Worte. Ihm geht es um Humanität bis zum Eintritt des Todes oder zur Vollendung des Lebens.

Mit der Rechtslage in Deutschland hat er innerlich gebrochen. Er hält es für widersprüchlich, dass Beihilfe zum Selbstmord erlaubt ist, dass aber bestraft wird, wer dem Sterbenden im Zustand seiner Bewusstlosigkeit (was ja Teil der Absicht ist) lebensrettende Maßnahmen verweigert. Mit anderen Worten: Wer die Sachen hinstellt und geht, bleibt straflos. Wer aber den Sterbewilligen bis an sein Ende begleitet, also bei ihm bleibt, ihn dann jedoch nicht zu retten versucht, sobald der Todkranke das Bewusstsein verliert (und nun hilflos ist), wird wegen unterlassener Hilfeleistung zur Rechenschaft gezogen.

Für Ärzte, die ohnehin eine strafverschärfende Garantenstellung besitzen, ein unerträglicher Vorwurf. Arnold möchte, dass das Selbstbestimmungsrecht eines Suizidanten höher eingestuft wird als die Garantenpflicht des Arztes. Deshalb fordert er die Legalisierung des „assistierten Suizids“ – assistiert von einem Mediziner und einem Notar –, notfalls per Präzedenzurteil. Den Verstoß gegen das fünfte Gebot nimmt er „billigend in Kauf“ und bedient sich damit der klassischen Definition des bedingten Vorsatzes.

So sucht der stellvertretende Vorsitzende des Sterbehilfevereins Dignitate – der deutsche Ableger der schweizerischen Dignitas – einen Arzt, „einen mutigen oder pensionierten“, weil der wahrscheinlich aus der Ärztekammer ausgeschlossen und vor den Kadi zitiert wird. Zur Not wäre er selbst dazu bereit. Ein „Opfer“ dagegen sucht er nicht: Er ist sich sicher, dass sich für diese Demonstration Suizidkandidaten melden werden. „Suizid“ ist Arnolds Sprachgebrauch; das Wort „Selbstmord“ steht nicht auf seiner Agenda – „wegen der falschen Assoziationen, die das Wort ,Mord‘ auslöst“.

Der Arzt, der seine Praxis vor sieben Jahren aufgegeben hat, um sich wie Müntefering um seine erkrankte Frau zu kümmern, kennt Verzweiflung. Er ist durchdrungen davon, den Widerstand aus Kirche und Politik zu brechen, zumal er wachsende Zustimmung in der Bevölkerung registriert. „Sie glauben nicht, wie dankbar die Patienten sind, die wissen, dass sie in der Todesstunde nicht allein sind, dass jemand sie versorgt, wenn es so weit ist. Hätten die beiden Deutschen sonst den Tod im Auto auf einem Schweizer Parkplatz gesucht, wenn sie nicht restlos fertig gewesen wären?“

Statt sich über diese Umstände aufzuregen, hält Arnold für die eigentliche Zumutung, dass so etwas überhaupt geschehen konnte. Keine Räume bereitzustellen sei das typische Verhalten einer Hochglanzgesellschaft, die das Sterben ausblenden möchte. „Und noch zwei Bemerkungen“, bittet er am Schluss: „Viele, die sich der Sterbehilfe grundsätzlich anvertrauten, nehmen sie nie in Anspruch.“ Allein das Wissen darüber tröste sie. Lediglich 20 Deutsche hätten sich 2006 tatsächlich in der Schweiz gemeldet. Und es wundere ihn schon, hängt er noch dran, dass er jetzt so in der Kritik stehe. Laut einer ZNS-Umfrage für den "Spiegel" sind 69 Prozent der Bundesbürger dafür, dass eine aktive, von einem Arzt begleitete Sterbehilfe in Deutschland erlaubt werden sollte.

Wo liegt die Trennlinie zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe?

Diese Radikalität des Denkens und Handelns wird in den Hospizen abgelehnt. Das „Du sollst nicht töten“ steht nicht nur für sie wie ein Bollwerk – auch für die Kirchen. Hospize und Kirchen begreifen Sterben als eine Phase des Lebens. Für die Deutsche Bischofskonferenz ist die aktive Sterbehilfe ein Irrweg. Als Gesetz postuliert, würde es alte, behinderte und sterbende Menschen unter „enormen Druck“ setzen, „der Gesellschaft nicht zur Last zu fallen und sich deren Forderungen zu beugen“. Wer wie die aktive Sterbehilfe von „freiwilliger Euthanasie“ spreche, verkenne die Situation todkranker Menschen, die sich in dieser Ausnahmesituation wohl kaum wirklich frei für eine Tötung entscheiden können. Die Konsequenz der Kirchen daraus? Eine verbesserte Palliativmedizin, die ein schmerzfreies Sterben in Würde beschere. So sehen es auch die Hospize. Das ist ihre Aufgabe. Wo aber liegt die Trennlinie zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe?

Der Giftbecher darf nicht gereicht, die Spritze nicht gesetzt werden. Was aber, wenn die Schmerzlinderung den Tod doch verursacht? Schon „aktiv“, diese Hilfe? Zumal dann, wenn es im Einvernehmen mit dem Todkranken und der Familie geschieht?

Schwieriges Gelände, das wissen alle Beteiligten – eine unsichtbare Linie, die manch ein Helfer überschritten hat, ohne seinen Richter gefunden, aber auch ohne sein gutes Gewissen dabei verloren zu haben. Viele praktische Ärzte sind sich in dieser Situation keiner Schuld bewusst. Und die meisten Fälle sind auch nichts für den Staatsanwalt. Nicht nur, weil er – anders als bei der 54-jährigen Berliner Krankenschwester – keinen Nachweis führen kann, sondern weil eben der Würde des Kranken, seinem letzten Wille entsprochen wurde. Ähnlich argumentiert die aktive Sterbehilfe, sieht auch sie sich doch lediglich als Helfer dieses Willens. So nahe die beiden Richtungen faktisch beieinanderliegen, so weit liegen sie in der grundsätzlichen Bewertung auseinander.

Aktive Sterbehilfe lehnt das Hospiz aus ethischen Gründen ab

Steglitz-Zehlendorf. An der Kantstraße, einer verträumten Wohngegend, steht ein stattliches Eckhaus – letzte Zuflucht für Austherapierte, wie Mediziner hoffnungslose Fälle nennen. Auf der Eingangstreppe leuchtet – als Willkommensgruß in herbstlicher Dunkelheit? – eine Kerze. Die Verweildauer der Patienten beträgt im Schnitt drei Wochen. Umso wichtiger für Dieter Geuß, Leiter des Hospizes, dass Würde und Wille dieser Menschen ganz besonders geachtet werden. Ein humanes Ziel, auf den ersten Blick scheinbar ohne jegliche Friktion mit dem fünften Gebot, da man hier den Tod wartend empfängt, statt ihn zu beschleunigen. „Doch was ist?“, fragt Geuß, „wenn der Wille des Patienten respektiert werden soll, der mir sagt: ,Ich will nicht mehr. 25 Jahre Dialyse sind genug.‘ Oder: ,Ich will keine Antibiotika mehr. Meine Speiseröhre ist durch die Krebstherapie verätzt.‘ Oder: Jemand verweigert sein Essen und fällt ins Koma? Wie dann den mutmaßlichen Willen dieser Menschen erfüllen? Selbst wenn wir sicher sind, das dieser Mensch sterben will – er bekommt Flüssigkeit, Schmerzmittel und Wundbehandlung.“ Zweifelsfälle gibt es immer wieder. „Bei einem plötzlichen Herzstillstand etwa stellt sich jedem von uns doch die Frage: ,Müssen wir nicht etwas tun?‘

Die Kerze danach kann doch nicht alles sein.“

Aktive Sterbehilfe lehnt das Hospiz aus ethischen Gründen ab, nicht nur aus Angst vor der Strafe. Es gehe um die Würde bis in den Tod, um die Geborgenheit einer vernünftigen Umgebung und nicht um den Tod per Giftcocktail auf einem Parkplatz in der Schweiz. „Manchmal können wir nicht mehr tun, als unsere Zuwendung zu geben“, gibt Geuß zu. „Aber selbst die will nicht jeder, schon gar nicht in seiner letzten Minute.“ Da will er allein sein. Der Tod als ganz persönlicher Moment. Die Annäherung an das fünften Gebot ist erlaubt, die Überschreitung nicht; der Weg eine Gratwanderung. Die brennende Kerze – beim Verlassen des Hospizes erhält sie eine ganz andere Bedeutung.

„Da redete Kain mit seinem Bruder Abel. Und es begab sich, da sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot“ (1. Buch Mose, 4, Vers 8). Mit diesem Brudermord hielt der Tabubruch Einzug in die Menschheitsgeschichte, veränderte sie. Mord ist immer noch ein solcher Bruch der Norm, dass die Täter – über die Gezeiten hinweg – zu Außenseitern gestempelt werden. Die meisten Täter verstummen danach.

S. wählte den anderen Weg. Er will reden. Er ist pünktlich auf die Minute. Wir sind vor dem Alhambra-Kino an der Seestraße verabredet. S. hat getötet, sogar in einem ziemlich krassen Fall. Vor gut zehn Jahren in Berlin, in Kreuzberg, am helllichten Tag. Es gab nur eine einzige, kurze Begegnung mit dem Opfer – männlich, 30 Jahre alt, 1,85 Meter groß, 105 Kilo schwer –, dann lag es, tödlich getroffen, in seinem Blut.

S. – 1,72 Meter groß, 70 Kilo schwer, Deutscher türkischer Herkunft – stellt sich nach panischer Flucht noch am selben Tag. Er ist Muslim, aber nur so viel oder so wenig, wie die meisten Deutschen Christen sind. Aber dass Töten Sünde ist, weiß auch er, wusste es immer. Doch seine Welt damals war die des Messers, des Rempelns, der Kanakensprache: „Ey, was willst du – auf die Fresse?“ Sie waren zu dritt, S. und zwei Kumpel, keine Freunde, aber zu dritt unheimlich stark: „Unsere Körpersprache war aggressiv“, räumt er heute ein. Die Erinnerung packt ihn, da er darüber berichtet, schüttelt ihn: Er wird rot und leidenschaftlich. Er schiebt das Stück Kuchen zur Seite, gibt es später halb gegessen zurück.

Jeder Stich war tödlich: der in die Aorta, der ins Herz, der in die Lunge

Er war damals auf dem Weg zum Jugendamt – eine Chance. Nach einer langen Phase des Gammelns, Pöbelns, Kiffens stand jetzt eine Lehre als Zimmermann in Aussicht. Eigentlich hatte S. aufs Gymnasium gewollt; der Volksschüler aus einer rein türkisch sprechenden Grundschule in Kreuzberg hatte diese mit lauter Einsen und Zweien abgeschlossen. Sein Klassenlehrer hatte ihm aber aufgrund der dürftigen Deutschkenntnisse vom Gymnasium abgeraten; die Gesamtschule indes stufte S. bald „wischiwaschi“ ein. Er brach die Schule ab wie seine hoffnungsvolle Breakdancer-Laufbahn. Ausgerechnet in dieser Phase, da er beschlossen hatte, aus seinem Leben doch noch etwas zu machen, traf er an diesem Nachmittag auf dem Weg zum Jugendamt den Mann, der sein Schicksal wurde – nein: Die beiden Männer wurden sich gegenseitig zum Schicksal.

Alles begann nach der Version von S. mit einer Provokation dieses Mannes, der sich absichtsvoll durch die drei gedrängelt und auf die Frage von S., „Ey, was soll das?“, geantwortet haben soll: „Was willst du, Sohn einer türkischen Hure ...?“ Das war das benötigte Stichwort. Sofort war S. wieder in seiner Welt des Klappmessers, das in seine „Tasche passte wie der Gürtel zur Hose“. S. fühlte sich beleidigt, angespuckt, und als der Gegner sich einen Schritt zurückzog, glaubte er in seiner damaligen Sicht, „der Sicht eines 17-Jährigen, der Mann würde jetzt sein Messer zücken und auf mich losgehen“. Da stach S. zu. Dreimal. Jeder Stich tödlich: der Stich in die Aorta, der ins Herz, der in die Lunge.

Wie betäubt flüchtete S. Die Kumpel waren schon fort. Freunde waren sie eben nicht. S. floh in die Räume eines Jugendheims. In ihm wilde Aufruhr, Angst, Chaos, Verzweiflung, Reue: Wie den Eltern unter die Augen treten? Was ist mit dem Verletzten? Die Wut auf ihn – wie weggeblasen. „An Gott und das Tötungsverbot dachte ich keine Sekunde“, erzählt er. Er spricht von Gott, nicht von Allah. Dann nach einer Pause: „Aber ich fing an, mit Gott zu hadern: „Bu bela benimi buluyor?“ „Warum trifft’s immer mich?“ Er wechselt plötzlich, völlig aufgeregt, ins Türkische.

Er entschuldigt sich bei der Mutter des Toten, er bietet ihr seine Hilfe an

Auch die zweite Tasse Tee wird kalt. S. steht zu seiner Tat; er beschönigt nichts; aber unterkriegen lassen wollte er sich auch nicht. An seinem 18. Geburtstag, als er gehofft hatte, seinen Führerschein zu erhalten, das Ticket für die große Freiheit, hält er stattdessen seine Füße nach draußen durch das Gitter seiner Zelle. Wenigstens ein Hauch von Freiheit. Er will leben und nicht nur überleben. Er denkt über die Tat nach; er entschuldigt sich bei der Mutter des Toten; er bietet ihr seine Hilfe an und aktuell die 1000 Mark, die er für seinen Führerschein gehortet hatte, erhält aber keine Antwort. Der Vater übernimmt die Korrespondenz mit der Frau; sie aber richtet ihm aus, es sei ihr unmöglich, mit dem Mörder ihres Sohnes Kontakt aufzunehmen. Dabei bleibt es.

Mord im juristischen Sinne wird es mit knapper Müh und Not nicht. Zwar plädiert der Staatsanwalt darauf und verlangt neuneinhalb Jahre. Doch es werden „nur“ sieben – für Totschlag. Für S. ein Schock.

Umso ungewöhnlicher seine Entwicklung: Nicht nur, dass er heute seine Gedanken einwandfrei formuliert. Auch was seine Ausbildung angeht, sucht er neue Wege. Sein Traum wäre es, mit jugendlichen Gewalttätern zu arbeiten. Dafür hat er sich inzwischen ausbilden lassen. Eine Stelle hat er nicht: „Wegen bestimmter Stempel in den Papieren.“ Aber er gibt nicht auf; er kennt auch wieder Glücksmomente. Doch die anderen kennt er auch – nach Fragen wie: Warum musste das alles passieren? Nur um zu sehen, ob ich standhalte? Welchen Sinn hatte der Tod meines Opfers? Auch wenn er nur wenige Antworten darauf hat. Eines weiß er: „Alles hängt von mir selber ab, meine Schuld ist untilgbar.“ Er hat das Kainsmal akzeptiert.

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