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Essstörungen


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#1
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Essstörungen





von Dr. med. Hartmut Imgart [ 1 ]





„Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen“, so heißt ein altes Sprichwort und verweist auf die elementare Bedeutung des Essens im Leben jedes Menschen. Der Säugling ist nicht nur körperlich von ständiger Nahrungszufuhr abhängig, sondern im ersten Lebensjahr geschehen Kommunikation und Zuwendung im Wesentlichen auch über Nahrungsaufnahme. In den Familien bleiben die gemeinsamen Mahlzeiten zentraler Ort der Kommunikation und Identitätsbildung wie die familiären Traditionen der Festtagsessen zu Weihnachten. Viele soziokulturelle Entwicklungen wurzeln in der Menschheitsgeschichte im gemeinsamen Erobern, Produzieren und Verzehren von Nahrung. Essen und Trinken sind daher ein Ereignis, das jeden Menschen körperlich und seelisch erfasst und durch individuelle, interpersonelle und soziokulturelle Faktoren beeinflusst wird. Dass seelische Konflikte oder Leiden sich in diesem zentralen Lebensbereich als psychosomatische Störungen des Essverhaltens widerspiegeln, ist daher nicht verwunderlich.




Definition

Essstörungen sind häufige psychosomatische Erkrankungen. Zu ihnen werden die Anorexia nervosa (Magersucht) und die Bulimia nervosa (Ess-Brechsucht) gezählt. Die Adipositas (Fettsucht) kann in der aktuellen medizinischen Fachsprache nicht als Essstörung bezeichnet werden, da regelhaft kein seelischer Zusammenhang gefunden wird. Hilfsweise wird versucht, psychosomatische Formen der Adipositas als Psychogene Adipositas oder Binge-Eating-Disorder (Heißhungerstörung) zu klassifizieren.

Die Ursachen der Essstörungen werden durch viele Faktoren bedingt. Familiäre, soziale und soziokulturelle Einflüsse, biologische Faktoren sowie solche der Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung spielen dabei eine Rolle.




Ausbreitung und Folgen von Essstörungen

In Deutschland leiden 5 % aller Frauen zwischen dem 14. und 35. Lebensjahr an einer Magersucht oder Bulimie. Die Bulimie tritt zwei- bis viermal häufiger auf als die Anorexie. An einer Magersucht erkranken am häufigsten weibliche Jugendliche, an einer Ess-Brechsucht junge Frauen zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr. 15 % der Gesamtbevölkerung sind behandlungsbedürftig adipös. Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen; eine Häufung der Erkrankung gibt es zwischen dem 40. und 65. Lebensjahr.

Immer mehr Männer leiden an Anorexie und Bulimie, derzeit sind 5 bis 10 % aller Erkrankten Männer. Trotz der Vielzahl von essgestörten Frauen und zunehmend Männern bleiben die meisten unbehandelt.
Im weiteren Text wird die weibliche Form (Patientin etc.) verwendet, da im wesentlichen Frauen von einer Essstörung betroffen sind.

Diese Zahlen spiegeln nicht nur das schwere Leid der Patientinnen wieder, auch die betroffenen Angehörigen leiden mit. Essstörungen verlaufen häufig chronisch mit immensen körperlichen und seelischen Folgeschäden.

Aktuelle Studien berichten über eine Zunahme von essgestörtem Verhalten bei Schülern und Studenten. Diäten, Essattacken und exzessives Sporttreiben zur Gewichtsreduktion verbreiten sich immer mehr. In immer jüngerem Alter erkranken Mädchen, besonders die Bulimie breitet sich aus. Auch sind vermehrt Jungen davon betroffen. In unserer klinischen Arbeit beschäftigen wir uns daher seit Jahren mit der frühzeitigen Behandlung von essgestörten Jugendlichen. Das half uns, die Ursachen der Krankheit etwas mehr zu verstehen.




Veränderungen und Aufgaben in der Adoleszenz

Die Entstehung von Essstörungen in der Adoleszenz geschieht in einem Kontext von einer Vielzahl von Entwicklungsaufgaben, die die betroffene Jugendliche lösen muss.

Wichtige Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz sind:
Seelische Integration von Längenwachstum, Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale und Geschlechtsreife
Abschied von der Kindheit
Distanzierung von den Eltern und dem Familienverband
Hinwendung zu Gleichaltrigen
Übernahme gesellschaftlicher Rollen, Lernen für die Berufsausbildung
Entwicklung einer geschlechtsspezifischen Identität
Dabei gibt es häufig rasante reale Veränderungen im Körper und in der Umwelt der Jugendlichen. Die Entwicklung der Brust und der Schambehaarung, die hormonell gesteuerte vermehrte Fetteinlagerung an den Hüften und am Gesäß sowie die phasenhafte, nicht steuerbare Erhöhung des Hormonspiegels sind gravierende Einschnitte.

Familien müssen sich auf eine sich immer schneller ändernde Umwelt einstellen, die Pubertät und Adoleszenz eines Kindes verlangen eine Neudefinierung der Rollenverteilung.

Die Gleichaltrigengruppe (Peergroup) stellt ein wichtiges Beziehungssystem dar. Werte und Normen der „Jugendkultur“ haben einen großen Einfluss auf die Adoleszente; das Essverhalten und die Einstellung zum eigenen Körper werden hier in hohem Maße mitgeprägt. Aggressive Auseinandersetzungen, Konkurrenzdruck und der Verlust von Freundschaften können Mädchen sehr belasten.

Wie beschrieben, kommt es in der Adoleszenz zu einer massiven Veränderung von Körper, Familienstruktur und Peergroup. Es gibt erhebliche seelische Umbrüche in der Pubertät, viele bisher gültige Sichtweisen werden in Frage gestellt. Diese Veränderungen führen häufig zu einer Erschütterung des Selbstwertgefühls und zur Störung der Selbstwahrnehmung. Der Körper wird verzerrt wahrgenommen, zu dick und zu hässlich. Die eigene Person erscheint nicht liebenswert und schuldbeladen. Die Umwelt erfährt die gleiche Verzerrung, Hilfsangebote werden als Bedrohung und Einmischung interpretiert. Die zunächst rein psychisch entstandene Fehlleitung bekommt durch die körperlichen Folgen der Essstörung eine weitere Verstärkung. Die Essstörung wird gleichsam ein seelisch-körperlicher Filter von problematischen oder überwältigenden Beziehungen. Die Patientinnen haben sich häufig aus lebendigen Beziehungen zu anderen Menschen zurückgezogen und in eine Welt geflüchtet, in der nur die Beschäftigung mit dem Essen und dem Gewicht Sicherheit und Kontrolle bieten kann.




Anorexia nervosa

heißt übersetzt: nervöse Appetitlosigkeit. Dieser Begriff ist irreführend, hat sich aber durchgesetzt. Die an dieser Störung leidenden Frauen haben keinen Appetitmangel, sondern bekämpfen ihren Hunger.

Die Anorexia nervosa ist dadurch gekennzeichnet, dass die betroffenen Frauen sich weigern, ein altersentsprechendes Normalgewicht zu halten (weniger als 15 % des Normalgewichts oder weniger als ein BMI von 17,5). Der BMI (Body-Mass-Index) setzt Körpergröße und Körpergewicht zueinander in Beziehung und wird wie folgt errechnet: Körpergewicht in kg geteilt durch Körpergröße in m².

Zentrales Leitmotiv ist der Wunsch nach extremer Schlankheit und Selbstbestimmung. Alle Versuche der Umwelt zu helfen werden als unzulässige Einflussnahme abgewehrt. Häufig besteht eine intellektuelle und körperliche Überaktivität, trotz vorhandener körperlicher Einschränkungen.

Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch:
Vermeidung hochkalorischer Speisen
selbst induziertes (bewirktes) Erbrechen
übertriebene körperliche Aktivitäten
Gebrauch von Appetitzüglern oder Diuretika (harntreibenden Mitteln)
Es besteht eine besondere Form der Wahrnehmungsstörung des eigenen Körpers: Die Patientinnen nehmen ihn als dick und aufgeblasen wahr, obwohl er abgemagert ist. Es kommt zu hormonellen Störungen, häufig wird die Menstruation unterbrochen.

Die körperlichen Folgeschäden sind: Organschäden (Selbstverdauung) durch das extreme Untergewicht, Verlangsamung des Herzschlages, Herz-Kreislaufbeschwerden, Knochenschwund. Die Anorexia nervosa hat unter den psychosomatischen Erkrankungen die höchste Sterberate, nämlich 5 %.

Das Phänomen der hungernden Frauen war schon im Mittelalter bekannt. Die Anorexia mirabilis, das heißt die wundersame Appetitlosigkeit trat bei jungen Frauen auf, die aus religiösen Gründen fasteten. Nicht wenige wurden als Heilige verehrt, die bekannteste von ihnen ist Katharina von Siena. Obgleich es viele Parallelen zu den heutigen Magersüchtigen gibt, existieren auch grundlegende Unterschiede. Die mittelalterliche Asketin strebte danach, durch Fasten die Schönheit der Seele zu vervollkommnen im Sinne eines religiösen Ideals. Die heutige Anorektikerin strebt nach Vollkommenheit des Körpers im Sinne eines gesellschaftlichen Schönheitsideals (nach Brumberg).

Das weibliche Schönheitsideal hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert, die Abbilder in den Medien werden von immer untergewichtigeren Models beherrscht. Dieser über die Medien vermittelte gesellschaftliche Druck führte auch zu einem vermehrten Auftreten von Essstörungen.

Die öffentliche Diskussion über sie und das Behandlungsnetz in Deutschland sind durch zwei Entwicklungen geprägt worden. Die feministische Bewegung griff das Thema auf und fokussierte auf die gesellschaftlichen Bedingungen, gleichzeitig organisierten sich viele Selbsthilfegruppen für Essgestörte, zunächst im Bereich der Suchthilfe. So ist bis heute mit Essstörungen der Begriff Sucht verbunden, obgleich nur bedingt eine Verbindung zwischen beiden Erkrankungen besteht. Das Behandlungsnetz lebt vom großen Engagement der Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen, eine ausreichende Förderung der Behandlung und Forschung durch die Politik existiert jedoch nicht.

Die Behandlung von Anorektikerinnen hängt eng mit der Entwicklung der Familientherapie zusammen. Es hat sich bestätigt, dass Essstörungen oft mit gestörten Familienbeziehungen einhergehen und die essgestörten Töchter stellvertretend für die ganze Familie ein Krankheitssymptom entwickeln. Anorektikerinnen leben häufig in Familien, in denen es ein Ideal des Familienzusammenhalts, der Aufopferung und Harmonie gibt. Die eigenständige Entwicklung eines Familienmitgliedes ist häufig real oder in der Phantasie problematisch. In der anorektischen Erkrankung gelingt eine Distanzierung von der Familie und von wichtigen Bezugspersonen, ohne diese zu verlassen.

Das Mittel der Wahl in der Behandlung der Anorexie ist die Psychotherapie. Hier sollte jedoch eine speziell geschulte Therapeutin oder ein Therapeut konsultiert werden, da die körperliche Situation in die Therapie mit einbezogen werden muss, denn eine Verleugnung von Untergewicht kann lebensgefährlich werden. Bei einem BMI unterhalb von 15 (Jugendliche 14,5) ist eine stationäre internistische Akutbehandlung zur Ernährung notwendig. Bei einem schweren Verlauf der Erkrankung sollte eine stationäre psychotherapeutische Behandlung eingeleitet werden.

Ca. 30 % der an Anorexie Erkrankten werden durch Therapie geheilt, 30 % erzielen eine Besserung ihrer Symptome, 30 % gehen in eine chronische Erkrankungsform über, ca. 5 % sterben.




Bulimia nervosa

heißt übersetzt „nervöser Ochsenhunger“ und weist auf ein Kennzeichen der Erkrankung hin: die Heißhungeranfälle. Den Essattacken, bei denen sehr große Mengen Nahrung in kurzer Zeit verschlungen werden, folgen gewichtsregulierende Maßnahmen. Sie sollen dem dick machenden Effekt von Nahrung entgegenwirken:

selbst induziertes Erbrechen
Missbrauch von Abführmitteln
exzessiver Sport
zeitweise Hungerperioden
Es besteht eine krankhafte Furcht, dick zu werden, bei gleichzeitiger Gier nach Nahrungsmitteln. Die Scham über diese Erkrankung führt dazu, dass die Patientinnen erst mehrere Jahre nach dem Ausbruch in eine psychotherapeutische Behandlung kommen. Die Folgen der Bulimie sind nicht so augenfällig wie die der Anorexie, so erhält das Umfeld erst spät Kenntnis von der Erkrankung. Aus diesem Grunde wird die Bulimia nervosa oft auch als heimliche Schwester der Anorexia nervosa bezeichnet. Viele Bulimikerinnen haben zu Beginn ihrer Erkrankung eine anorektische Phase.
Bei den Essattacken werden riesige Portionen verzehrt (bis zu 10.000 Kalorien). Die Bulimie ist häufig vergesellschaftet mit Nikotin- und Alkoholsucht, Stehlen und Drogenkonsum. Depressive Störungen treten ebenso auf, die bis zu ernsthaften Suizidversuchen gehen können. Nicht selten ist ein selbstverletzendes Verhalten zu beobachten.
Die Bulimie ist eine äußerst belastende Erkrankung für den Körper. Eine Verarmung der Blutsalze und Flüssigkeitsmangel können zu Nierenversagen oder lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen führen. In Einzelfällen kann es zum Zerreißen der inneren Organe, zu chronischen Ohrspeicheldrüsen- und Speiseröhrenentzündungen kommen. Zahnschäden und Regelstörungen sind weit verbreitet.

Historische Berichte über bulimisches Verhalten sind rar. Es ist ein Symptom unserer Zeit. Seit 1980 wird die Bulimie als eigenständiges Krankheitsbild dargestellt; erst seit dem Jahr 2000 ist es möglich, sie in der internationalen Klassifikation der Krankheiten zu beschreiben.

Die Familien von bulimischen Patientinnen funktionieren häufig nicht oder nicht mehr. Die Eltern können vielfach kein Vorbild mehr bieten. Ständig steigende Arbeitsanforderungen führen zu ihrer Überforderung, gleichzeitig wird suggeriert, dass alles zu bewältigen ist. Oft gibt es in den Familien traumatische Erlebnisse, aber keine Zeit und keinen Raum zu ihrer Bewältigung. Immer größere Forderungen nach persönlicher und beruflicher Flexibilität verunsichern die Eltern, die ihrerseits Orientierung bei den Kindern suchen. Diese halten sich dann an ihrer Essstörung fest und verweigern auf diese Weise das Erwachsenwerden.




Adipositas

ist eine weit verbreitete Erkrankung. In traditionellen Gesellschaften ist sie häufiger in der Oberschicht anzutreffen und prägt auch das Schönheitsideal. In unserer Gesellschaftsform findet man sie eher in der Unterschicht, denn Dicksein widerspricht unserem Schönheitsideal. Lange Zeit wurden Adipöse als undisziplinierte Menschen angesehen, die sich gehen lassen. Heute werden genetische und organische Einflüsse als stark prägend für eine solche Entwicklung erkannt.

Übergewicht beginnt bei einem BMI von 25 bis 30.
Adipositas beginnt bei einem BMI von 30.
Extreme Adipositas beginnt bei einem BMI von 40.
Adipositas bedingt ein erhöhtes Risiko für Herzerkrankungen, Zuckererkrankung, Bluthochdruck, Gelenkschäden und manche Krebsarten. Aber: Übergewicht ist nicht in jedem Fall gesundheitsschädlich. Seine Art (Fettverteilung am Körper) und die der Ernährung sind wichtige Einflussgrößen. Diäten können über den „Jojo-Effekt“ eine Adipositas aufrechterhalten oder verschlimmern. Durch sie kommt es zu einer besseren Nahrungsmittelverwertung, aber nach Ende der Diät zu einer übermäßigen Gewichtszunahme.
Da die Adipositas gesellschaftlich unerwünscht ist, kann sie seelische Verstimmungen auslösen. Als Psychogene Adipositas werden die Formen bezeichnet, die vor allem seelische Ursachen haben. Ungefähr 5 % aller Adipösen leiden an einer Heißhungerstörung (Binge-Eating-Disorder), das heißt, sie leiden an Essattacken, die durch Unlustspannungen ausgelöst werden. Ungefähr 10 % sind Nachtesser, die tagsüber ein eingeschränktes Essverhalten haben.
Immer mehr Jugendliche leiden an einer Adipositas. Häufig ist die Erkrankung mit einer depressiven Störung verbunden. Die Betroffenen leben traurig und zurückgezogen und essen vermehrt. Das Übergewicht fördert dann den weiteren sozialen Rückzug.




Essstörungen und sexueller Missbrauch

Viele der von uns behandelten Mädchen mit Essstörungen haben sexuelle Übergriffe erlebt, und manchmal stellt sich im Verlauf der Therapie heraus, dass es auch sexuellen Missbrauch gegeben hat. Die Erfahrung von sexueller Gewalt disponiert zur Entwicklung von Essstörungen. Sie ist ein Bewältigungsversuch des erlebten Traumas (der seelischen Verletzung) und gleichzeitig eine Autoaggression gegen den als unzuverlässig erlebten Körper. Die meisten traumatisierten Mädchen haben Phasen, in denen sie essgestört sind, aber nicht alle essgestörten Mädchen sind sexuell traumatisiert.




Männer mit Essstörungen

Immer mehr Männer leiden an Essstörungen. Nur wenige kommen in die Therapie, vermutlich weil die Scham sehr groß ist. Es gibt daher kaum verlässliche Daten über die Verbreitung und die Ursachen dafür. Allerdings finden sich Hinweise, dass die gesellschaftlichen Veränderungen eine zunehmende Rollenverunsicherung bei Männern erzeugen. Von den Medien wird der Männerkörper als Ware inzwischen in ähnlicher Weise okkupiert wie der Frauenkörper. Eine durch die Medienwelt begonnene Entkörperlichung der persönlichen Kontakte macht das Ausleben von aggressiv gefärbten Affekten schwierig; verunsicherte Väter taugen nur noch bedingt als Vorbild.




Warnzeichen für Essstörungen

Essstörungen bleiben lange im Verborgenen, meist gibt es nur allgemeine Hinweise. Mädchen, die an einer Anorexia nervosa leiden, versuchen am Anfang, familiäre Mahlzeiten zu meiden und benutzen dafür Ausreden wie: „Ich habe schon gegessen“, oder „Ich habe gar keinen Hunger.“ Dabei widmen sie sich häufig mit Ausdauer dem Wohlergehen der Familie, kochen aufwendige Gerichte für andere. Auch innerlich sind die Betroffenen ständig mit dem Essen beschäftigt, alle Lebensmittel werden in gute (nicht dick machende) und schlechte (dick machende) eingeteilt. Kalorien und Fettpunkte werden genauestens kontrolliert. Unter dem Vorwand, sich gesund zu ernähren, wird lange Zeit eine stark einseitige Ernährung durchgeführt. Viele Früchte und Gemüse werden konsumiert, manchmal ausschließlich Babybrei.

Das Essverhalten erfährt mit zunehmender Erkrankung eine immer stärkere Kontrolle. Dabei wird es auch zur Kontrolle von anderen eingesetzt. Häufig bestimmen Mädchen mit Essstörungen das Familienklima. Es besteht eine krankhafte Furcht, dick zu werden, was bei längerem Krankheitsverlauf zum völligen Vermeiden größerer Mahlzeiten oder sozialer Situationen, in denen gegessen wird, führt. Nach einer Nahrungsaufnahme versuchen die Mädchen, die Kalorien wieder abzutrainieren oder aus dem Körper zu entfernen. Übermäßiges Sporttreiben ist ein sichtbares Warnzeichen.

Im Sozialbereich ziehen sich die Mädchen häufig aus bestehenden Freundschaften zurück, haben keine Lust mehr, mit anderen etwas zu unternehmen. Nicht selten kommt es zu einem Rückzug ins Elternhaus, wobei sozial erwünschte Kontakte wie der Gang zur Kirche oder zur Schule lange aufrechterhalten werden. Im körperlichen Bereich wird die Abmagerung der Mädchen verdeckt durch Schlabberkleidung oder Tragen dicker Pullover und Mäntel; es fällt eine schlechte Durchblutung der Hände auf.

Bulimische Mädchen sind dagegen normalgewichtig, man sieht ihnen die Bulimie nicht an. Bei chronischem exzessiven Erbrechen schwellen die Ohrspeicheldrüsen wie bei Mumps an, und es entsteht ein „Hamstergesicht“. Diese Patientinnen sind oft sozial unangepasster als solche mit einer Anorexia nervosa. Schule schwänzen, aber auch Ladendiebstähle kommen öfter vor. Sie leiden an starken Stimmungsschwankungen und depressiven Verstimmungszuständen. Absichtlich zugefügte Schnittwunden, meist an den Unterarmen, können mit dieser Erkrankung verbunden sein.

Zusammenfassend ist festzustellen: Besonders die Kombination der Veränderung des Essverhaltens mit einer Veränderung des Sozialverhaltens ist ein Warnzeichen für eine Essstörung.




Was tun, wenn ein Mädchen in Ihrer Umgebung eine Essstörung hat?

Viele Mädchen, die zu uns kommen, haben sich zunächst einem Lehrer, einer Lehrerin oder einem Sozialarbeiter, einer Sozialarbeiterin anvertraut. Grundsätzlich erscheint es mir wichtig, dass man sich als Gesprächspartner oder -partnerin anbietet, ohne sich in die Essstörung hineinziehen zu lassen. Ein Einbeziehen wäre z. B. daran zu merken, dass Mädchen fordern, die Vertrauensperson solle sich darum kümmern, dass sie ausreichend äßen. Aus meiner Sicht sollte den Mädchen dringend geraten werden, eine Beratungsstelle, einen Therapeuten, eine Therapeutin oder einen Arzt, eine Ärztin aufzusuchen. Sind sie offensichtlich hilfsbedürftig, weigern sich aber, entsprechende Beratung in Anspruch zu nehmen, ist eine Information der Eltern notwendig.

Die Konfrontation mit einer Essstörung in der Familie kann für Eltern mit einer Vielzahl von schwer aushaltbaren Gefühlen verbunden sein. Wichtig ist, dass ihnen bewusst wird, nicht nur ihre Tochter leidet an einer solchen Störung, sondern viele andere Mädchen und Frauen auch. Essstörungen sind komplexe Krankheiten, Schuldzuweisungen helfen da nicht weiter. Das offene Thematisieren und das Aufsuchen von professioneller Hilfe bringen häufig eine deutliche Entlastung für die familiäre Situation.




Behandlung von Essstörungen

Zum Wesen der Essstörung gehört es, dass die Betroffenen meinen, ausschließlich sie allein könnten die Erkrankung „kontrollieren“ und besiegen. Manchmal entwickelt sich eine ähnliche Einstellung in der ganzen Familie. Diese Überzeugung ist falsch, denn in den meisten Fällen gelingt es nicht, die Erkrankung ohne Hilfe von anderen zu überwinden. Je früher eine Behandlung beginnt, desto größer sind die Erfolgsaussichten.

In den ambulanten Bereichen werden Einzelpsychotherapie, Gruppenpsychotherapie und Familientherapie oft in kombinierter Form durchgeführt, wobei insbesondere Beratungsstellen Gruppenangebote und Selbsthilfegruppen anbieten. Meist gibt es eine gute Abstimmung zwischen den Therapeuten in einer Stadt, die sich auf die Arbeit mit Essgestörten spezialisiert haben. Idealerweise sollte der aufgesuchte Therapeut eine Qualifikation im Bereich Essstörungen besitzen, jedoch dies allein kann einen Erfolg der Behandlung nicht garantieren. Eine kontinuierliche ärztliche Betreuung halte ich während einer Psychotherapie für zwingend notwendig, da es immer wieder zu schweren körperlichen Krisen, die auch lebensbedrohlich sein können, kommen kann.

Bei schweren körperlichen Komplikationen, bei Entwicklung starker depressiver Beschwerden und bei massiven Konflikten im sozialen Umfeld ist eine stationäre psychotherapeutische Behandlung angezeigt. Sie wird in den meisten Fällen für alle Betroffenen als sehr erleichternd empfunden.

In unserer Klinik in Bad Wildungen haben wir zur Zeit 50 Behandlungsplätze. Unser Hauptbehandlungsziel ist es, das Selbstwertgefühl der Patientinnen zu stärken und eine Veränderung der verzerrten Wahrnehmung der eigenen Person und des Körpers zu erreichen. Da wir eine Essstörung als individuellen Ausdruck auf eine individuelle Lebenssituation verstehen, ist es uns wichtig, eine ebensolche Abstimmung der Behandlung auf jede einzelne Patientin durchzuführen. In der Behandlung werden tiefenpsychologische, verhaltens-, körper- und familientherapeutische Elemente miteinander kombiniert.

Wir haben unterschiedliche Spezialprogramme für einzelne Patientinnengruppen in vergleichbaren Entwicklungsphasen erarbeitet. Wir bieten z. B. eine Therapie der Essstörungen in Mädchengruppen an: Die Mädchen im Alter von 14 bis 18 Jahren reisen alle gemeinsam an. Sie erleben innerhalb eines 8wöchigen Behandlungsprogramms die Möglichkeit der intensiven Auseinandersetzung mit sich, ihrer Krankheit und ihrer Familie, die in die Behandlung mit einbezogen wird. In den Spezialprogrammen für junge Frauen im Alter von 18 bis 35 Jahren ist die Behandlungszeit individueller wählbar, und auch die Behandlungselemente können auf die Person bezogen zusammengestellt werden.

Patientinnen, bei denen traumatische Erfahrungen mit sexualisierter Frauengewalt im Vordergrund stehen, können in einer Traumagruppe, die von einer Traumatherapeutin geleitet wird, behandelt werden.

Ab Herbst 2001 bieten wir zum ersten Mal ein männer-spezifisches Programm an: essgestörte Männer werden sowohl einzeltherapeutisch als auch in einer gemeinsamen Männer-Gruppe betreut.

Adipösen Patienten steht ein internistisch-verhaltenstherapeutisches Programm zur Verfügung oder die Teilnahme an anderen Spezialprogrammen.




[size=18
]Prävention von Essstörungen [/size]

Es hat sich herausgestellt, dass trotz verstärkter Information eine Zunahme von essgestörtem Verhalten im Jugendalter zu verzeichnen ist. Als Prävention ist daher nicht vermehrte Information notwendig, sondern das Schaffen von eigenen Bereichen – innerhalb oder außerhalb der Familie - für Jugendliche, in denen das Selbstwertgefühl gesteigert und das Selbstbewusstsein gestärkt werden können. Darin liegt derzeit die beste Prävention von Essstörungen.




[ 1 ] Der Autor, Dr. med. Hartmut Imgart, Jg. 1962, verh., 2 Kinder; Studium der Biochemie und Medizin, Facharztausbildung; Oberarzt an der Parkland-Klinik in Bad Wildungen und Leiter der Fachabt. für Essstörungen.

Dieser Artikel ist mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift "Weisses Kreuz" Zeitschrift für Lebensfragen entnommen. Sie können gerne diese Zeitschrift auf Spendenbasis abonnieren.


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Pro-Anorexie-Websites: Wenn die Magersucht zur Freundin wird





Jesus.de-




24.03.2008


(PRO) - "Erlaube mir mich vorzustellen. Mein Name, oder wie ich von sogenannten 'Ärzten' genannt werde, ist Anorexie. Mein vollständiger Name ist Anorexia Nervosa, aber du kannst mich Ana nennen. Ich hoffe, wir werden gute Freunde." So heißt es in einem fiktiven Brief, der im Internet kursiert. "Ana" ist die personifizierte Magersucht (Anorexia Nervosa), die auf so genannten Pro-Ana-Websites als "Freundin" daher kommt.

Die Bewegungen Pro-Ana ("für Magersucht") und Pro-Mia als Pendant für Bulemiekranke sind Anfang dieses Jahrtausends in den USA entstanden. Ihre Anhänger, meist junge Frauen, tauschen sich im Internet aus, wo sie Magersucht als Lebensstil und extremes Schlankheitsideal darstellen. So beschreiben Christiane Eichenberg von der Universität Köln und Elmar Brähler vom Uniklinikum Leipzig die bedenkliche Bewegung in der Psychologiefachzeitschrift "PPmP" (Psychotherapie, Psychosomatik, medizinische Psychologie). Die Essstörung würde dadurch zu einer "Art der Selbstverwirklichung, der Souveränität und Autonomie über den eigenen Körper" erhöht, wobei die Krankheit "gegen eine feindselige Umwelt verteidigt werden muss".

Anas "10 Gebote": "Du sollst dünn sein"

Im Internet gibt es dazu spezielle meist passwortgeschützte Foren, wie das mit dem Titel "Fette Babys", das als Leitspruch postuliert: "Wir werden immer schöner! Ana hilf uns!". Außerdem führen die Pro-Ana-Anhänger eine Vielzahl von Weblogs, auf denen sie unter anderem Abnehmtipps weitergeben und Fotos ihrer Figurideale als Diätmotivation präsentieren. Diese sogenannten "Thinspirations" zeigen beispielsweise untergewichtige Promis und Models. Die Nutzer dieser Internetangebote führen sogar Diätwettbewerbe durch. Das bedeutet zum Beispiel, dass jeder Teilnehmer sein Gewicht täglich in eine Tabelle auf dem Weblog einträgt. Nach einer Woche wird der "Diäterfolg" dann ausgewertet.

Die Pro-Ana-Bewegung hat ihre eigenen Gebote, Gesetze und Regeln, die ebenfalls in verschiedenen Versionen auf vielen Weblogs verbreitet werden und oft religiös anmuten. Die "10 Gebote" postulieren zum Beispiel "Du sollst Deine Waage als das wichtigste in Deinem Leben ehren" oder " Du sollst dünn sein; bist Du nicht dünn, so bist Du nicht gut". In "Anas Psalm" heißt es: "Meine Diät sei streng. Ich darf nicht wollen. Sie lässt mich hungrig zu Bett gehen. Sie führt mich an den Konditoreien vorbei." Sogar ein Glaubensbekenntnis gibt es, dass unter anderem bekundet: "Ich glaube, dass ich die schlechteste, wertloseste und nutzloseste Person bin, die je auf unserem Planeten gelebt hat" und "Ich glaube an die Errettung, in dem ich heute härter an mir arbeite als gestern".

Pro-Ana-Webseiten jugendgefährdend

Der Jugendschutz hat sich bereits mit den Magersuchtsseiten beschäftigt. Jugendschutz.net führte in den Jahren 2006 und 2007 eine umfassende Recherche dazu durch, berichtet das Nachrichtenportal "zoomer.de". Von 270 überprüften Internetseiten waren 80 Prozent problematisch oder unzulässig. In über 70 Prozent der Fälle konnte eine Änderung der kritisierten Angebote erwirkt werden. Bedenkliche Seiten können auch direkt von den Nutzern via Onlineformular an jugendschutz.net gemeldet werden.

"Fallen Angel" und "Spiegelkind" sind die Internetpseudonyme der Betreiberinnen eines großen Forums, das geschlossen wurde. "Spiegelkind" schrieb per Email an "Spiegel-Online": "Ich denke nicht, dass Pro-Ana-Seiten wirklich gefährlich sind." Sie sieht vielmehr den positiven Effekt, dass Betroffene sich austauschen können: "Meist nimmt der Austausch über die Gefühle und die Stimmung überhand und wird wichtiger als das Abnehmen."

Auch die Wissenschaftler Eichenberg und Brähler sehen in dem unzensierten Austausch mit anderen Betroffenen eine Chance. "Die 'Heimlichkeit' wird aufgegeben und somit ein Schritt in Richtung der Überwindung von Isolation möglich." Jedoch könne sich die Gruppendynamik in den Foren auch massiv negativ auswirken. "Der Selbsthilfeaspekt der Pro-Ana-Webseiten wird dadurch untergraben, wenn die Symptome der Essstörung beibehalten, gefördert und sogar zum Identitätsmerkmal erhöht werden."

Experten: Selbsthilfeforen können konstruktiv sein

Man sollte die Selbsthilfeforen von und für Essgestörte jedoch differenziert betrachten, so Eichenberg und Brähler. Eine Vielzahl der Internetangebote habe sich als effektiv erwiesen. Deshalb haben die Wissenschaftler eine Reihe von Kriterien aufgestellt, die zum Beispiel Einrichtungen wie jugendschutz.net helfen sollen, die Nützlichkeit oder Schädlichkeit der Seiten zu beurteilen. Die Selbsthilfeforen müssten "eine eindeutige Haltung 'zur Bekämpfung der Krankheit'" beziehen.

Einige der Pro-Ana-Seiten verweisen sogar auf seriöse Hilfsangebote wie hungrig-online.de oder bzga-essstoerungen.de. "Jedoch soll sich weder jemand dazu gezwungen noch davon abgehalten fühlen, von Ana wegzukommen. Jedem, der das will und das schafft: Herzlichen Glückwunsch", wird der Linkliste auf einer Seite hinzugefügt.


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Nur noch kotzen wollen





Von Inge Kutter

ZEIT Campus 04/ 2008


Unter Ess- und Brechsucht leiden nicht nur Teenies. Auch viele Erwachsene kämpfen gegen ihren eigenen Körper. Wie kommt es dazu? Eine Studentin berichtet von ihrer Krankheit


Irgendwie kam alles zusammen: ein ›Mangelhaft‹ in einem Studienfach nach zwei Semestern harter Arbeit, die Führerscheinprüfung, die ich nicht bestanden habe, Liebeskummer, Heimweh. »Als ich erfuhr, dass ich durch die Klausur gefallen bin, habe ich zum ersten Mal gekotzt. Ich habe die Küchenschränke aufgerissen und alles in mich hineingestopft, was ich finden konnte. Ein ganzes Baguette mit Honig, mehrere Tafeln Schokolade, zwei Gläser Nutella; Putenschinken war auch noch da, den habe ich mir mit bloßen Händen in den Mund geschoben. Danach fühlte ich mich, als würde ich platzen. Es musste alles wieder raus! Ich bin aufs Klo gerannt und habe versucht, mich zu übergeben. Es tat weh, und ich bekam längst nicht alles heraus. Ich hing über der Kloschüssel und habe mich selbst beschimpft: ›Du dummes Ding! Nicht einmal kotzen kannst du!‹«

Man sieht es ihr nicht an. Lina* ist hübsch, mit langen blonden Haaren, weder zu dünn noch zu dick. Sie studiert Politik, in einem internationalen Studiengang an einer deutschen und einer französischen Universität. Im Freundeskreis ist die 20-Jährige oft die Alleinunterhalterin. Sie steht gern im Mittelpunkt, gibt sich stets gut gelaunt.

Man konnte es ihr nicht ansehen. Bei Magersüchtigen, die nur noch aus Haut und Knochen bestehen, drängt sich der Gedanke an eine Essstörung schnell auf; Bulimiker aber werden nicht unbedingt dünner. Sie können ihre Probleme gut verstecken – die mit dem Essen und die mit dem Leben. Daher ist ihre Zahl nirgends erfasst; ein bis vier Prozent der Bevölkerung sollen es sein, überwiegend Frauen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Während die Magersucht eine typische Pubertätskrankheit ist, ein Kampf gegen den weiblicher werdenden Körper, tritt die Bulimie später auf, oft als Folge. Bulimiker wollen nicht androgyn aussehen, sondern schlank. Deshalb haben auch immer mehr Männer diese Essstörung.

»Die Angst, fett zu werden, hatte ich schon mit zwölf. Ein paar Jahre später fing ich an, mein Essen zu kontrollieren. Zuerst habe ich die Butter weggelassen, dann das Dessert, dann immer mehr. Ich habe mir meine eigene Diät kreiert aus allem, was ich irgendwo aufgeschnappt hatte: unter 1000 Kalorien bleiben, kein Fett, keine Kohlenhydrate. Am Ende war alles verboten.

Aus dem Internet habe ich mir Kalorientabellen ausgedruckt. Irgendwann waren diese Kalorientabellen in meinem Kopf. Ich habe nur noch über Essen nachgedacht. Ich habe sogar von Essen geträumt und ständig davon geredet.

Im Restaurant bin ich dem Kellner hinterhergelaufen, um ihm zu sagen, er solle beim Salat die Soße weglassen. Ich habe mich geweigert, in Restaurants zu gehen, in denen es keinen Salat gab. Wenn mir eine Portion zu groß vorkam, habe ich heimlich die Kartoffeln in der Hosentasche verschwinden lassen. Wenn ich ein Croissant geschenkt bekam, habe ich es weggeschmissen.«

Wenn man eine Diät nach der anderen macht, wird der Heißhunger irgendwann übermächtig. Man isst viel mehr, als man brauchte – und dann kommen sie, die Furcht zuzunehmen, die Scham und die Schuldgefühle.

Wegen der Fressanfälle bedeutet Bulimie, wörtlich übersetzt, »Stierhunger«. Bis zu 10 000 Kalorien schlingen Bulimiker dabei in sich hinein – normalerweise braucht eine Frau täglich zwischen 2000 und 2500. Von der Ess- und Brechsucht spricht man im Deutschen oft, aber das beschreibt die Krankheit nur unzulänglich. Lina hat viele Möglichkeiten ausprobiert, das Gegessene wieder loszuwerden, von extremem Sport bis hin zu Abführmitteln.

Aber warum dieser Kampf gegen den eigenen Körper? Wegen des Schönheitsideals mit Kleidergröße XS, das aus allen Medienkanälen strahlt, wegen der androgynen Hungerhaken auf den Laufstegen und der retuschierten Magermädchen auf den Magazincovern? Deswegen sicher auch. Aber so eindimensional sind die Ursachen für eine Essstörung nicht.

»Ich hatte immer dieses Bild vor Augen, wie ich einmal sein wollte: eine Businessfrau im schwarzen Chanel-Kostüm. Schlank und attraktiv, aber auch intelligent und sehr beschäftigt. Ein bisschen so wie meine Mutter, die eine sehr erfolgreiche Geschäftsfrau ist. Um ihr ähnlicher zu werden, habe ich zu schnell mit dem Erwachsenwerden begonnen. Mit 16 ging ich auf ein französisches Internat; was mir endlich die Anerkennung meines Vaters eingebracht hat, der selbst Franzose ist. Die logische Konsequenz aus dem internationalen Abschluss war ein internationales Studium, am besten an einer französischen Elite-Hochschule. Ich wollte etwas machen, wofür mich alle bewundern. Also bewarb ich mich für das Doppelstudium in Deutschland und Frankreich.

Das war anstrengend – und ich habe mich noch zusätzlich gestresst, weil ich gut sein wollte. Manchmal habe ich ganze Nächte durchgearbeitet, weil ich vor lauter Druck nicht schlafen konnte. Andere lesen dann einen Roman, aber auf die Idee kam ich gar nicht. Mein Lieblingssatz war: ›Ich muss!‹«

Die Medizinerin Katja Aschenbrenner hat für ihre Doktorarbeit die Tendenz zu Essstörungen bei Studenten untersucht. »Natürlich wollen Bulimiker, oberflächlich gesehen, schlank sein und dem westlichen Schönheitsideal entsprechen«, sagt Aschenbrenner, »man muss sich aber die Frage stellen: Warum hungert jemand diesem Vorbild nach?« Die Antwort: Wir verknüpfen es mit Aktivität und Erfolg. Wer übergewichtig ist, gilt als Versager.

Es sind die Ehrgeizigen, die Perfektionistischen, gerade die, die alles im Griff haben wollen, die in eine Essstörung abrutschen. Rund 80 Prozent der Bulimiker stammen aus Schichten mit höherer Bildung. Universitätsstudenten sind nach Aschenbrenners Studie deutlich häufiger essgestört als ihre Kommilitonen auf den Fachhochschulen. Besonders gefährdet sind Studenten der Medizin, Jura und Betriebswirtschaftslehre – der Fächer also, in denen Studenten stark auf Klausuren hin lernen müssen und in denen Jobchancen sehr mit der Note verknüpft sind.

Der kranke Ehrgeiz wiederum ist meist die Folge eines emotionalen Mangels: Viele Bulimiker tun alles, um Anerkennung zu erlangen – weil sie sie mit Liebe verwechseln. Studien zufolge stammen sie oft aus leistungsorientierten Familien mit schwacher emotionaler Verbundenheit, in denen Konflikte offen ausgetragen werden, ohne sie zu lösen. Während des Studiums gibt es dann viele Situationen, die die Krankheit auslösen können: die Wahl des richtigen Berufs und Partners, das Loslassen von den Eltern – überall drohen Kränkungen, mit denen nicht jeder fertig wird.

Feministische Forscher sehen in der Bulimie zudem eine Antwort auf den modernen weiblichen Rollenkonflikt. Junge Frauen haben einen viel größeren Anpassungsstress als Männer: Auf ihnen lastet der Druck, drei Rollen gleichzeitig spielen zu müssen – Mutter, Ehefrau, Karrierefrau. Weil sie daran scheitern, flüchten einige in die Essstörung. Das erklärt auch, warum die Bulimie eine neue Krankheit ist, die erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und auch nur in der westlichen Gesellschaft auftritt. Bei Lina kamen wohl all diese Gründe zusammen.

»Zu meinem 19. Geburtstag habe ich mir eine Digitalwaage gewünscht. Meine Mama hat sie mir geschenkt, sie sagte noch: ›Aber dass du mir bloß nicht essgestört wirst!‹ – ›Wenn du wüsstest‹, dachte ich, ›dass ich schon zwei Waagen habe!‹ Ich habe mich jeden Tag gewogen, morgens, mittags, abends, und zwischendurch, nach dem Joggen. Sogar das Haargummi habe ich abgelegt – bloß kein überflüssiges Gramm! Wenn ich in der Stadt an einer spiegelnden Fensterscheibe vorbeikam, hob ich das T-Shirt, um meinen Bauch zu begutachten.


Ich begann, mich zu fotografieren, von allen Seiten, dann, mich zu filmen. Mich selbst sah ich dabei gar nicht mehr, ich sah Einzelteile: fette Unterschenkel, fette Oberschenkel, einen fetten Bauch, fette Arme, eine fette Oberweite. Wie sehr ich mich hasste! Dann kam der Tag, an dem ich mich selbst nicht mehr im Spiegel erkannte. Ich hatte mich in dieser Wut so von meinem eigenen Bild distanziert, dass ich mir völlig fremd geworden war. Wenn man sehr lange auf jemanden einschlägt, dann geht der irgendwann.

Mein Umfeld hat lange nicht gemerkt, was mit mir los war. Kein Wunder, ich habe ja ständig gelogen. Gerade im ungeregelten Studienalltag ist das so einfach: ›Ich habe keinen Hunger, ich hab schon gegessen, ich hab eine Magen-Darm-Verstimmung.‹ Ich habe meist gesagt, ›es geht mir gut‹, auch wenn das schon lange nicht mehr gestimmt hat.

Heute denke ich, ich habe kleine Signale ausgesandt, die niemand bemerkt hat. Weil ich einerseits Hilfe brauchte, andererseits aber nicht wollte, dass mich jemand zum Essen zwingt und mir die Kontrolle über mein Gewicht wegnimmt. Meine Mutter meinte später, sie hätte gedacht, ich würde sehr diszipliniert essen: ›Ich hatte ein bisschen Angst, dass du magersüchtig wirst, aber abgenommen hast du ja nicht.‹ Meine Freunde haben sich Sorgen gemacht, weil ich so gestresst war, aber sie haben nur vorsichtig nachgefragt. Sie hätten sagen müssen: ›Es reicht, du musst dringend eine Therapie machen!‹ Aber wahrscheinlich wäre ich dann nur sauer auf sie geworden. Man belügt ja nicht nur die anderen, sondern vor allem sich selbst.«

Die Leiterin der Psychotherapeutischen Beratungsstelle des Studentenwerks München kennt dieses Problem. Viele, die mit einer Essstörung zu Christine Tabbert-Haugg kommen, verschweigen die Krankheit. Stattdessen berichten sie von Überforderung, Depression oder Problemen mit der Abschlussarbeit. Ein äußeres Anzeichen von Bulimie wäre die Manifestation von Mangelerscheinungen, aber brüchige Fingernägel lassen sich gut verbergen, und Zahnschäden, die durch die Magensäure entstehen, die beim Brechen hochkommt, treten erst nach Jahren auf. Und wie soll man einer Frau ansehen, dass sie seit Monaten ihre Tage nicht bekommen hat, weil ihr Körper wegen fehlender Nährstoffe auf Sparfunktion geschaltet hat?

Tabbert-Haugg setzt daher auf unterbewusste Signale ihrer Patienten. »Wenn ich eine Spannung zwischen sprachvermittelter und gefühlsvermittelter Botschaft spüre, hake ich vorsichtig nach«, sagt sie, wenn also jemand etwas anderes sagt, als er signalisiert. Bis das Vertrauen aufgebaut ist, um einen Patienten auf seine Essstörung anzusprechen, vergehen oft einige Beratungsgespräche. Meist kommen auch nur die Studenten zu ihr, denen es schon richtig schlecht geht. Denn Bulimie macht zwar krank, ist aber auch ein Ventil für psychische Probleme, mit dem sich die Betroffenen lange stabilisieren. Drei bis fünf Jahre vergehen, bis sich jemand helfen lässt.

»Dass ich die Klausur nicht bestanden hatte, war für mich der Beweis: Ich bin nicht nur hässlich, ich bin auch dumm. Alles, was ich sein wollte, war unerreichbar. Ich war gerannt und gerannt, jetzt konnte ich nicht mehr. In mir war so eine unglaubliche Müdigkeit, ich verfiel in Depressionen.

An einigen Tagen blieb ich einfach nur im Bett. Inzwischen war ich im dritten Semester. Ich ging nicht mehr in die Vorlesungen, ich lernte nicht mehr. Ich fiel durch alle Klausuren, selbst die einfachsten. Aber es war mir egal. Da war keine Verzweiflung mehr, nur noch Leere. Wie gerne wäre ich richtig krank gewesen! Damit sich alle um mich kümmern. Die kleine Lina, die ich immer weggeschubst hatte, weil ich dachte, ich müsste erwachsen werden, diese kleine Lina meldete sich jetzt und wollte in den Arm genommen werden.

Ich kam gar nicht auf die Idee, dass ich längst krank war. Ich hatte die Essstörung bereits vier Jahre, doch bewusst wurde mir sie erst, als ich im Internet über Bulimie las. Vorher hatte ich mir dort aus anderen Krankheitsgeschichten nur Anregungen geholt, wie ich das Essen schnell wieder loswerde – dazu braucht man nur ›richtig kotzen‹ zu googeln. Diesmal las ich über Ursachen und Symptome, und mir wurde klar: Das alles trifft auf mich zu. Ich fühlte mich reingelegt: Ich, die immer etwas Besonderes sein wollte, habe eine Massenkrankheit. Ich, die so stark und intelligent sein wollte, bin reif für die Klapse.«

Am 19. März 2007 kam Lina ins St.-Rochus-Hospital Telgte, eine Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in der Nähe von Münster. Die Psychotherapeutin, die sie endlich aufgesucht hatte, hatte ihr dazu geraten. Bis zu 20 Prozent der Betroffenen finden den Weg aus der Krankheit auch ohne fremde Hilfe, zum Beispiel mit einem guten Selbsthilfebuch. »Ob jemand ambulant oder stationär betreut werden muss, hängt davon ab, wie schwer die Krankheit ist, und ob sie wie bei Lina mit Depressionen einhergeht«, sagt Karl Stricker, der die Abteilung für Psychosomatik der Klinik leitet. »Bei täglichen Essattacken über mehrere Monate hinweg ist eine Heilung ohne Therapie aber schwer vorstellbar.« Wichtig ist, dass die Patienten motiviert sind: Sie müssen aus eigener Entscheidung heraus Hilfe suchen.

Die Klinik hat den Vorteil, dass hier alle Aspekte der Krankheit behandelt werden können. »Wir setzen auf Verhaltenstherapie, das heißt, wir kümmern uns zuerst um das Essverhalten und die Körperwahrnehmung. Danach kommt die Auseinandersetzung mit den Ursachen«, sagt Stricker. Die Reihenfolge erscheine den Patienten zunächst unlogisch, »sie denken, man müsste zuerst Ursachenforschung betreiben. Aber mit einem Alkoholiker reden Sie ja auch nicht über seine Kindheit, wenn er noch betrunken ist.«

Das Gute an der Klinik: Sie ist wie eine gläserne Taucherglocke, die die Alltagsprobleme, abschirmt, und dem Patienten Gelegenheit gibt, in Ruhe zu sich selbst zu finden.

»Ich hatte die perfekte Studentin sein wollen – in der Klinik wollte ich die perfekte Patientin sein. Am liebsten alle Einheiten gleichzeitig belegen und ganz schnell Erfolge vorweisen. Ich war extrem angespannt und musste lernen, lockerzulassen. Dann habe ich versucht, mir wieder Gefühle zu erlauben. Als meine Kontrolle bröckelte, brachen sie über mich herein, und das war furchtbar anstrengend. Gleichzeitig aber fühlte ich mich in der Klinik so gut aufgehoben. Hier hatte ich Zeit, mich mit einem Problem nach dem anderen zu beschäftigen.

In der Therapie ist mir bewusst geworden, was mir die Fressanfälle gegeben haben: Sie waren die einzigen Momente, in denen ich mich fallen lassen konnte. Ich hatte mich an diese Art der Stressbekämpfung gewöhnt, anstatt zu hinterfragen, was mich überhaupt aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Jetzt musste ich mich mit den Ursachen auseinandersetzen, mit meinen Familienverhältnissen: meiner Furcht, von meinem Vater nicht geliebt zu werden, wenn ich keine Leistung brachte, und meinem Konkurrenzdenken gegenüber meiner älteren Schwester.

Um die Angst vor dem Essen abzulegen und mich an normale Portionen zu gewöhnen, habe ich eine Esstherapie gemacht. Ich habe auch Arbeiten gelernt, konzentriert, aber in Maßen, und durch die Gruppentherapie bin ich kritikfähiger geworden. In der Ergotherapie habe ich handwerklich gearbeitet und konnte zum ersten Mal seit Langem zufrieden mit einer Leistung sein, denn ich konnte sie sehen und anfassen.«

Drei Monate blieb Lina in der Klinik; später suchte sie regelmäßig einen Therapeuten auf, bis heute. »Wir raten den Patienten bereits vor der Aufnahme, sich um eine ambulante Nachbetreuung zu kümmern«, sagt Karl Stricker. »Ganz ohne Unterstützung klappt der Übergang selten.«

Oft brauchen seine Patienten zusätzlich ganz praktische Hilfestellungen: eine Paartherapie, eine Berufsberatung – oder auch eine Schuldnerberatung, denn es gibt Bulimiker, die für ihre Essanfälle mehr Geld ausgeben, als sie haben. Wer die Klinik verlässt, muss sein Leben nicht komplett ändern, wohl aber sein Essverhalten. Er muss aktiv die zugrunde liegenden Probleme angehen, anstatt sie über Essen zu kompensieren. Im Grunde sei die Bulimie eine gut zu behandelnde Störung, sagt Stricker.

»In die Klinik zu gehen war das Beste, was ich in meinem Leben gemacht habe.Das glaubt man vorher nicht. Als die Psychotherapeutin mir dazu riet, war mein erster Gedanke: ›Das geht gar nicht! Ich muss doch das Semester zu Ende bringen, ich kann mein Studium nicht einfach unterbrechen, und eine Praktikumszusage habe ich auch gerade bekommen!‹ Außerdem hatte ich panische Angst, man würde mich zwingen zu essen und ich würde zunehmen.

Ich habe sogar abgenommen. Vor allem aber habe ich gelernt, auf mich selbst zu hören, anstatt eine Rolle zu spielen. Ich bin kein völlig neuer Mensch geworden, weder habe ich mein Berufsziel geändert, noch gehe ich jetzt als Hippie nach Amerika. Aber ich habe mein Arbeitspensum reduziert. Ich habe nicht mehr das Gefühl, etwas tun zu müssen, und viel mehr Spaß an dem, was ich tue. Und ich mag mich selbst immer mehr.

Manchmal meldet sich während des Essens noch eine böse Stimme, vor allem, wenn ich gestresst bin. Aber ich erkenne sie jetzt als Signal dafür, dass ich mir zu viel zumute. Ich habe gelernt, mir in solchen Momenten etwas Gutes zu tun, banale Dinge, wie ein schönes Bad zu nehmen oder im Café zu lesen statt in der Bibliothek. Hunger fühle ich noch nicht, aber ich weiß, das kommt noch. Ich bin noch nicht fertig, aber ich bin auf einem guten Weg.

Es war bei der Kunsttherapie, als ich zum ersten Mal wieder so etwas wie Glück empfunden habe. Wir waren im Garten, um Lebensbäumchen zu basteln, aus Stöckchen und allem, was die Natur hergibt. Daran hängten wir Zettel mit dem, was uns wichtig ist. ›Liebe‹, habe ich geschrieben, ›Familie, Freundschaft, Gesundheit, Ruhe‹. Ich weiß, das sind große Worte, aber in dem Moment waren sie für mich nicht abstrakt. Und wie ich da stand und mein Lebensbäumchen ansah, merkte ich: Ich hatte ›Erfolg‹ vergessen.

Ich war so glücklich. Das Lebensbäumchen hat die Putzfrau später weggeschmissen. Aber das war dann egal.«
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