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Religionsfreiheit


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Rolf

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Religionsfreiheit






Die Religion gehört zweifellos zu den stärksten Kräften, die Menschen - zum Guten wie zum Bösen - beeinflussen und prägen können. Religion setzt Werte, vermittelt Orientierung und Identifizierungsmöglichkeiten. Religion kann Menschen zu gesellschaftlich angepasstem Verhalten motivieren (Moral), sie wird aber immer wieder auch dazu missbraucht, gröbste Verstösse gegen die Menschenrechte unter Verweis auf ein "höheres Ziel" zu beschönigen und zu rechtfertigen (Religionskriege, Terrorismus). In Europa hat die gesellschaftliche Bedeutung der Religion seit dem 19. Jahrhundert stark abgenommen. Dabei übersieht man leicht, dass dies weltweit betrachtet eher die Ausnahme als die Regel ist.

Kommt hinzu, dass dieser europäische Sonderfall nicht etwa durch ein angeborenes Desinteresse der Europäer für Religion bedingt ist, sondern auf speziellen historischen Erfahrungen mit dem Einfluss der Kirchen auf die Politik beruht. Es lohnt sich deshalb, das Verhältnis von Religion und Poltik etwas genauer anzusehen. Ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung hilft dabei, die Unteschiede zwischen Europa und den USA besser zu verstehen.



Religion, Politik und Staat in verschiedenen Kulturen

In einfachen Gesellschaften (Stammeskulturen) waren und sind Religion und Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe untrennbar miteinander verbunden. Gottheiten werden nicht als universelle höchste Wesen verstanden, sondern als Beschützer des eigenen Stammes. Die eigene Stammesgottheit wird nicht die einzig existierende betrachtet, sondern bloss als die einzig wichtige, nämlich als diejenige, die den Stamm beschützen kann. Spuren dieser ursprünglichen religiösen Vorstellungen finden sich auch in den ältesten Teilen der jüdisch-christlichen Bibel (Altes Testament).

Mit der Entwicklung von grösseren Städten und Reichen, die mehrere Stämme oder gar Völker mit unterschiedlichen Kulturen und Religionen in einem Staatswesen zusammen fassten, war die Einheit von Stamm und Stammesgottheit nicht mehr gegeben. Die frühen Grossreiche im Nahen Osten und im Mittelmeerraum versuchten trotzdem die starken Kräfte der Religion für die Bindung der vielfältigen Völker an das Reich zu nutzen und führten deshalb einen Staatskult ein. Soweit die Religion dieser Völker ohnehin viele Götter verehrte, wurde dies weit gehend akzeptiert. Probleme ergaben sich allerdings mit den Anhängern von Religionen, die nur einen einzigen Gott verehren. Wer sich nämlich dem Staatskult verweigerte, wie etwa die Juden oder die ersten Christen, musste mit blutiger Verfolgung rechnen.

Um 300 n. Chr. wurde das Christentum seinerseits zur Staatsreligion im Römerreich erklärt und das sogenannt "Christliche Mittelalter" führte die blutige Tradition der Bekämpfung von religiösen Minderheiten und Sondergruppen weiter. Auch im mittelalterlichen Europa unterstützten sich weltliche und religiöse Autoritäten gegenseitig in der Bekämpfung der "Ketzer" [Abweichler].

Reformation, religiöse Selbstbestimmung und Toleranz

An der Schwelle zur Neuzeit brach die Reformation das religiöse Monopol der katholischen Kirche in Europa. Das heisst aber noch lange nicht, dass damit auch jede einzelne Person das Recht bekommen hätte, ihre Religion selbst frei zu wählen. Während Jahrhunderten galt in Europa das Prinzip cuius regio, eius religio [wessen Herrschaft, dessen Religion], d.h. die Herrschenden bestimmten die Religion ihrer Untertanen. Dies trifft auch auf die vermeintlich demokratisch verfasste Eidgenossenschaft vor der Mitte des 19. Jahrhunderts zu. Einzig in den sogenannten "Gemeinen Herrschaften" [von den 13 alten Orten gemeinsam verwalteten Untertanengebieten, insbesondere Aargau, Thurgau und Teile von St. Gallen] ergab sich eine gewisse religiöse Wahlfreiheit daraus, dass die reformierten Städte (Basel, Bern und Zürich) und die katholischen Innerschweizer sich nicht auf eine gemeinsame Vorgabe einigen konnten.

So weckte die Reformation zwar Gelüste nach religiöser Selbstbestimmung, wer diese aber umsetzte, wurde meist verfolgt. Die konfessionelle Spaltung führte in Europa zu mehreren Religionskriegen (u.a. zum Dreissigjährigen Krieg (1618-1648) und zur Verfolgung religiöser Minderheiten in Europa vom 16. - 18. Jahrhundert und damit zu Flüchtlingsströmen innerhalb des Kontinents, deren Auswirkungen noch heute spürbar sind. So gehen z.B. die Uhrenindustrie und viele Banken in der Schweiz auf französische Religionsflüchtlinge zurück.

Die Erfahrung, dass religiös bedingte oder mit dem Kampf für den rechten Glauben begründete Konflikte oft besonders grausam geführt werden und schwierig beizulegen sind, war ein wichtiger Anstoss zu grundsätzlich neuen Gedanken über Politik, Gesellschaftsordnung, Toleranz und Menschenrechte. Die Philosophie der Aufklärung formulierte diese Gedanken im 17. und 18. Jahrhundert, es dauerte aber Jahrhunderte, bis sie auch praktisch umgesetzt wurden.

Zunächst blieb den wegen ihrer Religion verfolgten Leuten in Europa meist nur die Wahl zwischen Anpassung an die Mehrheit oder Auswanderung. So stellten sie besonders in der ersten Phase der Auswanderung im 17.. und 18. Jahrhundert einen bedeutenden Anteil der Auswanderer nach Nordamerika und prägten so die Grundsätze der US-amerikanischen Verfassung: Es lag im ureigensten Interesse der unzähligen kleinen religiösen Gemeinschaften, dass der Staat sich in die Angelegenheiten der Religion nicht einmischt und seinen Bürgern Religionsfreiheit gewährt. Ein starker Staat war nicht gefragt.

Umgekehrt forderten europäische Reformer nicht so sehr Wahlfreiheit für die Einzelpersonen als vielmehr Schutz von Minderheiten und vor allem das Ende kirchlicher Machtpolitik in enger Zusammenarbeit mit den Staaten. Der demokratische Staat sollte in Europa nach diesen Ideen deshalb nicht nur die absolute Herrschaft von Königen und Adeligen ablösen, sondern auch den Einfluss der grossen Kirchen begrenzen. Dazu musste der Staat aber auch bisher - und ausserhalb Europas z.T. bis heute - von den Kirchen wahr genommene Aufgaben übernehmen (z.B. das Schulwesen und das Führen von Personenregistern).

Gegen diese Beschneidung des kirchlichen Einflusses auf Politik und Gesellschaft führten sowohl die katholische Kirche wie auch die auf regionaler Ebene oft als Staatskirche organisierten grossen reformierten Kirchen einen erbitterten Kampf - mit dem Resultat, dass immer grössere Teile der Bevölkerung eben diesen Machtanspruch der Kirchen problematisch finden und den modernen (demokratisch verfassten) Staat als natürlichen Verbündeten dagegen erkennen.

Als Folge dieses unterschiedlichen Verständnisses von Religionsfreiheit zwischen Europa und den USA hat die Religion in Europa einen grossen Teil ihres früheren politischen Einflusses eingebüsst, während sie in den USA immer noch eine ausserordentlich wichtige gesellschaftliche Kraft darstellt.



Religion, Toleranz, Freiheit und Grundrechte

Unabhängig davon, ob der Einzelne mehr oder weninger Einfluss der Religion in der Politik wünscht, gilt es den oft schwamming verwendeten Begriff der Toleranz noch etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

Toleranz bedeutet, richtig verstanden, dass jede Person das Recht hat, ihre Religion frei zu wählen und auszuüben, solange sie dadurch gleichwertige oder höhere Rechte anderer Personen nicht beeinträchtigt. Gläubige und Führer von Religionsgemeinschaften fordern dieses Recht für sich in der Regel lautstark ein, sobald die Politik nur schon erwägt, nach wie vor bestehende Privilegien der Religionsgemeinschaften einzuschränken oder diese zu kontrollieren und auf die Einhaltung der grundlegenenden Spielregeln zu verpflichten. Dass eine gewisse Kontrolle religiöser Aktivitäten durch den Staat nötig ist, um die Religionsfreiheit der Einzelperson zu garantieren, wird dabei oft völlig übersehen.

In keinem Fall darf Religion dazu missbraucht werden, Übergriffe gegen Leib und Leben zu rechtfertigen. Leider ist dies - auch in Europa und Nordamerika - weit weniger selbstverständlich, als man annehmen möchte. Nicht nur kleine Sekten [religiöse Splittergruppen] geraten immer wieder in die Schlagzeilen, weil die Sektenführer Mitglieder zu sexuellen Handlungen nötigen oder gar - mit Verweis auf abstruse Weltuntergangsszenarien in den (als religiösen Akt inszenierten) Selbstmord in der Gruppe treiben oder weil sie ihre Mitglieder zu Terroranschlägen anstiften. Auch jahrhundertealte religiös begründete Traditionen wie die Beschneidung (Genitalverstümmelung) von Mädchen stellen eine nicht akzeptable Verletzung des Grundrechtes auf körperliche Unversehrtheit dar und können sich damit keinesfalls auf die Religionsfreiheit berufen. Mit der verstärkten Einwanderung aus Afrika ist die Genitalverstümmelung auch in Westeuropa zum Problem geworden.

In solchen Fällen ist man im Westen nur allzu schnell bereit, das Problem ausschliesslich in fremden Kulturen zu suchen. Dabei sind in den letzten Jahren auch viel zu viele Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern durch katholische Geistliche publik geworden - Fälle, die von den kirchlichen Vorgesetzten gedeckt und vertuscht worden sind. In dem Masse, wie dabei ein systematisches Vorgehen erkennbar wird, hat sich die betroffene Glaubensgemeinschaft der Mittäterschaft schuldig gemacht und muss der Staat entsprechend auch zum Schutz der Einzelperson auch eingreifen - genau so wie das vom Staat selbst z.B. beim Umgang mit fehlbaren Lehrpersonen erwartet wird.

Aber bereits im Kleinen gilt es, der missbräuchlichen Berufung auf religiöse Toleranz durch Religionsgemeinschaften Einhalt zu gebieten: Eine Religionsgemeinschaft hat zwar das Recht, den Kindern ihrer Mitglieder Religionsunterricht zu erteilen, aber diese haben in dem Masse, wie ihre Urteilsfähigkeit zunimmt, auch das Recht, mit zu entscheiden, ob sie diesen Unterricht besuchen wollen. Versuche einer Religionsgemeinschaft, Mitglieder gegen ihren Willen an sich zu binden oder sie zu religiösen Handlungen zu nötigen, sind in einem Rechtsstaat nicht tolerierbar. Ebensowenig sind Handlungen tolerierbar, welche die körperliche Integrität einer Person verletzen - auch und gerade wenn sie religiös begründet werden.

Wenn heute den Europäern ihre skeptische Haltung gegenüber Religion vorgeworfen wird, dann ist zu beachten, dass gerade in Europa im Namen der Religion jahrhundertelang Gräuel begangen wurden, die nur durch eine klare Trennung von Staat und Kirche wesentlich eingeschränkt werden konnten.


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