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Schleichender Niedergang


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Schleichender Niedergang





Von Stefan Locke


25. November 2009 Der Brief klingt offiziell. „Sehr geehrte Damen und Herren, mein Name ist Sabine Weber, und ich bin für die Öffentlichkeitsarbeit der Scientology-Kirche in den Bundesländern Berlin, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt zuständig“, lautet der erste Satz eines Schreibens, das die Organisation seit Schuljahrsbeginn an weiterführende Schulen und Universitäten in Berlin schickt. Es gebe Unklarheiten, schreibt Frau Weber, und deshalb wolle man jetzt aufklären. Auf dem beigelegten Antwort-Fax sind die Optionen „Gespräch in der Schule“, „Besuch der Scientology-Kirche in Berlin“ und „Zusendung scientologischer Schriften“ anzukreuzen.

Bisher sei noch kein Fax zurückgekommen, sagt Sabine Weber. Scientology ist kein Thema mehr - genau das ist schließlich der Anlass der Imagewerbung. „Wir haben per Rundschreiben alle Schulen über die Kampagne informiert“, sagt Stefan Barthel von der vor zwei Jahren eingerichteten „Leitstelle für Fragen zu Sekten“ des Berliner Senats. „Aber die wussten bereits selbst bestens Bescheid.“

Die Organisation findet nur wenig Zulauf

Die gezielte Ansprache von Jugendlichen ist wohl der verzweifelte Versuch der sich selbst als Kirche bezeichnenden Organisation, in Berlin doch noch Fuß zu fassen. Vor knapp drei Jahren eröffnete Scientology seine „Hauptstadt-Zentrale“ in Charlottenburg, ein siebenstöckiges Haus mit Glasfront und Büros auf einer Fläche von 4000 Quadratmetern. Von hier aus wollte Scientology Lobbyarbeit betreiben, Einfluss auf Politik und Wirtschaft nehmen, Prominente für sich gewinnen und vor allem selbst schnell wachsen.

In Berlin nicht Fuß gefasst

„Um unsere planetarischen Rettungskampagnen in Anwendung zu bringen, müssen wir die obersten Ebenen der deutschen Regierung in Berlin erreichen“, hieß es 2006 in einem internen Strategiepapier. Scientology in Berlin sei verantwortlich, „die nötigen Zufahrtsstraßen in das deutsche Parlament zu bauen, um unsere Lösungen tatsächlich eingearbeitet zu bekommen in die gesamte deutsche Gesellschaft“. Politiker wurden mit persönlichen Anschreiben, Broschüren und DVDs der Organisation überhäuft. Doch bis heute hat sich kein einziger Adressat zu Scientology bekannt. Die Zufahrtsstraße ins Parlament ist noch nicht einmal ein Trampelpfad.

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Schon im vergangenen Jahr bescheinigte deshalb der Berliner Verfassungsschutz, der wie fast alle Bundesländer Scientology wegen ihres aggressiven Auftretens sowie ihres totalitären Welt- und Menschenbildes beobachtet, der Organisation Erfolglosigkeit. „Die Berliner Niederlassung ist nicht die Deutschland- oder gar die Europazentrale“, heißt es im Jahresbericht 2008. „Ihre angekündigten Kampagnen, Werbe- und Lobbymaßnahmen blieben bislang erfolglos.“ Scientology stoße auf Ablehnung und habe in und um Berlin lediglich 200 Mitglieder. Sabine Weber spricht von 600, aber auch davon, dass das „noch längst nicht ausreichend“ sei.

Stagnierende Mitgliederzahlen

In ganz Deutschland gibt es zwischen 5000 und 6000 Mitglieder, schätzt der Bundesverfassungsschutz, doch auch diese Zahl sei seit Jahren unverändert. Scientology selbst hat die Zahl der Sympathisanten von einst 80.000 auf etwa 30.000 korrigiert, wovon circa 12.000 aktive Mitglieder seien, die regelmäßig in die „Kirche“ kämen. Mehr als drei Viertel der deutschen Scientologen leben in Bayern, Baden-Württemberg und Hamburg, von einer Expansion aber ist auch dort nichts zu spüren. „Die Mitgliederzahl stagniert seit Jahren“, konstatiert der bayerische Verfassungsschutz, Baden-Württemberg attestiert der Organisation gar einen „schleichenden Niedergang“: „Die SO kann nur wenige neue Mitglieder dauerhaft an sich binden und ihre Stagnation nicht überwinden.“ Hamburg stellt bei Scientology ein aus „Mitgliederschwund“ resultierendes „reduziertes Kursangebot“ sowie „Überalterung“ fest.

Da verwundert es, dass die Organisation bei dieser Lage nicht in die Offensive geht. „Offenbar schlägt hier die Finanzkrise durch“, vermutet Stefan Barthel von der Leitstelle für Sektenfragen. Zudem habe er schon länger den Eindruck, dass die Krisensymptome von Scientology in den Vereinigten Staaten (Austritte von Prominenten, Ausscheiden von Managern) auch auf die europäischen Dependancen wirken. „In Berlin etwa tritt Scientology nicht mehr so auf wie früher“, sagt Barthel. „Sie kommen weniger strategisch, sondern eher konfus daher.“

„Es brummt nicht“

Und deshalb verschickt Sabine Weber, Vizipräsidentin und Sprecherin von Scientology-Deutschland jetzt Briefe an Schulen und Universitäten
Dass die Expansion in Deutschland stockt, weist nicht einmal Scientology selbst zurück. Mit der Finanzkrise oder den Ereignissen in Amerika und Frankreich habe das allerdings nichts zu tun. „Es geht eben nur sehr langsam voran“, sagt Jürg Stettler, Sprecher der Organisation in Deutschland und Präsident von Scientology in Zürich. „Es war schon immer so, dass nur wenige bei uns bleiben.“ Die Schuld sucht er bei anderen. „Durch die Kampagnen gegen uns sind die Leute extrem zurückhaltend.“ Freilich gebe es Gespräche mit Prominenten, auch Politikern, doch das sei vertraulich. „Wer sich öffentlich bekennt, über den fällt man doch sofort her.“ Auch Sabine Weber gibt zu, dass der Zulauf in Berlin nicht gerade einem „Lauffeuer“ gleiche und man in dem neuen Gebäude noch „viel Platz“ habe. Den nutzten jüngst etwa zwei ranghohe amerikanische Scientologen, die der Berliner Filiale auf die Sprünge helfen sollten.

Laut Barthel aber ist der Effekt davon bisher ausgeblieben. „Scientology wirkt stark verunsichert und agiert eher zurückgezogen.“ Kontakte mit der Politik gebe es allenfalls noch sporadisch, und an den immerhin noch zahlreichen „Dianetik“-Infoständen in der Stadt tauchten stets die gleichen Personen auf, die jeden etwaigen Interessenten allerdings auch gnadenlos belagerten.

Die Zahl der Mitlgieder in Deutschland schätzt der Verfassungschutz auf 5000 bis 6000
Nicht einmal die etablierten Kirchen malen beim Thema Scientology noch den Teufel an die Wand. „Es brummt nicht“, stellt Michael Utsch von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) fest. Früher sei abends das gesamte Scientology-Gebäude illuminiert gewesen, heute leuchte allenfalls noch das Erdgeschoss. Utsch führt die Entwicklung auf Aufklärung, aber auch die starke Aufmerksamkeit zurück, die der Senat in den letzten Jahren der Organisation gewidmet hat. „Die Politik hat reagiert, aber eben anders, als Scientology sich das vorgestellt hat.“

Wissenschaftler plädiert für Gelassenheit

„Scientology ist nirgendwo in Europa sonderlich erfolgreich“, sagt der Göttinger Sozial- und Religionswissenschaftler Gerald Willms. Von ihrer Hochphase in den achtziger Jahren sei die Organisation heute weit entfernt. „90 Prozent der Leute, die mal einen Kurs mitgemacht haben, finden's uninteressant und gehen danach nie wieder hin.“ Auch von den restlichen zehn Prozent entschließe sich kaum jemand, der Organisation beizutreten. „Wer es doch tut, glaubt offenbar fest daran“, sagt Willms. Im Zuge seiner Forschungen sei er ohnehin „immer wieder erstaunt, woran Leute so alles glauben“.

Er plädiert für mehr Gelassenheit im Umgang mit der Organisation, was ihm wiederum heftige Kritik einbringt. Denn aus der aggressiven Bekämpfung von Scientology ist für manche Buchautoren und Talkshowreisende auch ein Geschäft geworden. „Scientology will gern groß, mächtig und schön erscheinen“, sagt Willms. „Genau so wünschen sich einige Gegner die Organisation auch, um den selbsterzeugten Alarm zu rechtfertigen.“ Aus Versehen werde heute jedoch niemand mehr Scientologe. „Wer das behauptet, ertrinkt auch im Schwimmbad, weil er nicht weiß, dass da Wasser drin ist.“

„Wer unbedingt Scientologe werden will, soll das auch tun, aber er muss eben wissen, worauf er sich einlässt“, sagt Michael Utsch von der EZW. Deshalb dürfe die Aufklärung nicht nachlassen. Die finanzielle und psychische Abhängigkeit, in die Mitglieder geraten können, sowie der enorme Druck auf Aussteiger seien eine ernstzunehmende Gefahr, der man jedoch besonnen begegnen müsse, rät auch Stefan Barthel. „Hysterie schadet nur. Mit einer nüchternen Herangehensweise ist viel mehr zu erreichen.“ So will Berlin künftig in seiner Präventionsarbeit stärker über Merkmale vereinnahmender Gruppen informieren und mit Jugendlichen vor allem über jene Bedürfnisse und Sehnsüchte sprechen, die durch Organisationen wie Scientology ausgenutzt werden. „Das Kümmern, Zuhören und Zeitnehmen wollen wir nicht diesen Gruppen überlassen“, sagt Barthel. Deshalb sollen Gemeinschaft und Geborgenheit auch in Schulen und Jugendeinrichtungen künftig eine große Rolle spielen.

Berlins Scientology-Chefin Weber wiederum will ihrerseits aufklären, auch mit neuen Aktionen, auch an Schulen. Ein Ziel sieht sie in Deutschland immerhin schon erreicht: „Die wenigsten Gemeinschaften überstehen so massive Gegenkampagnen wie wir.“

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