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Die Krieger des heiligen Geistes


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Rolf

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Die Krieger des heiligen Geistes



Sie halten sich für Auserwählte im Kampf gegen das Böse und treiben Dämonen aus. Die charismatische Bewegung gewinnt innerhalb der Kirchen an Einfluß. Diese scheuen den Konflikt - auch beim Kirchentag diese Woche in Hamburg. (von Christian Krug).

Den Teufel lernte Christina B. als 13jährige kennen. In der Pubertät hatte das blonde Mädchen angeblich "sündige Gedanken zugelassen" und dadurch "Mephisto Einlaß gewährt". Jedenfalls sah es der Schulseelsorger so. Als Mitglied einer "Charismatischen Erneuerungsbewegung" in der Katholischen Kirche wußte der Mann Abhilfe.

In seiner Gemeinde lernte Christina schnell, wie man "konkret Kontakt mit Gott aufnimmt". Sie wurde gedrängt, Jesus Christus ihr "Leben zu übergeben". Also eine wiedergeborene Christin zu werden, denn nur so gebe es Hoffnung, die "Endzeit" zu üb erleben. "Danach war ich richtig erleichtert, den Klauen Satans entgangen zu sein", sagt Christina.

Zehn Jahre lang gehörte sie der Bewegung an, die sie heute als Sekte bezeichnet. Das fromme Kind wurde von den erwachsenen Charismatikern zu einer "Gebetskämpferin" ausgebildet. Immer häufiger wurde sie zum "Befreiungsdienst" eingeteilt. So nennen sie christlichen Extremisten die Dämonen-Austreibung. "Ich wurde zu einer religiösen Fanatikerin. Überall sah ich das Böse. Und wenn ich nachts aufwachte, habe ich sofort angefangen zu beten, weil ich dachte, Gott hätte mich geweckt und bräuchte jetzt seine Soldatin."

Charismatische Gottesdienste wirken auf Besucher sehr fröhlich. Es wird gesunden und getanzt, gejubelt und geklatscht, der "Pastor" oft von einer Band mit Elektrogitarren und Synthesizern flankiert. Besonders Jugendliche finden es hier unterhaltsamer als bei herkömmlichen Kirchenveranstaltungen. Und wenn im Finale der "Heilige Geist" zum Einsatz kommt, läßt er die Gläubigen ekstatisch zucken, juchzen und sogar bewußtlos umfallen. Dieses Phänomen, seit 1994 auch als Toronto-Segen bekannt (STERN Nr. 19/1995: "Beten auf Teufel komm heraus") erschreckt allerdings viele, die das zum ersten Mal erleben. Deshalb gibt es nach Auskunft ehemaliger Charismatiker in vielen Gemeinden die Anweisung, die allzu Besessenen schnell aus dem Gottesdienst rauszutragen. Christina hat nach eigenen Angaben Hunderte dieser Fälle erlebt. "Die öffentlichen Austreibungen sind noch vergleichsweise harmlos. Richtig zur Sache geht es nur im internen Kreis."

Dort komme es zuerst darauf an, die Namen der Dämonen herauszufinden, die man exorzieren wolle. Denn die tauchten immer im Pulk auf, hätten unterschiedliche Eigenschaften und Ränge. Charismatische Prediger unterscheiden zwischen dem Satan, dem "obersten General der Mächte der Finsternis" und seinen "Fürsten" sowie "Unteroffizieren". Am Fuße der höllischen Hierarchie stünden die "bösen Geister und Dämonen". Daß diese Mächte im stetigen Kampf mit Gott sind, ist für Charismatiker unstrittig.

Als vordringlichste Aufgabe sehen sie die Missionierung Ungläubiger an. In gemieteten Stadien betreiben sie Großevangelisation, bei der jeder Teilnehmer als Geschenk an Gott gezählt wird. So ist es kein Wunder, daß die Charismatiker ihre Anhängerschaft weltweit auf 370 Millionen beziffern.

"Durch Gebete, Handauflegen und Beschwörungen", so erzählt Christina, "rückten wir den angeblichen Dämonen zu Leibe. Dabei fangen die Gläubigen an zu zittern, fallen um, krümmen sich, schreien und strampeln. Das war für uns immer ein Zeichen, daß der Dämon aus dem Körper trat. Die Leute schlugen mit dem Kopf auf den Boden und reagierten völlig autistisch. Das war voll der Wahnsinn, was wir da getrieben haben."

Charismatiker versuchen, das Wirken ihres "Heiligen Geistes" mit "Wunderheilungen" zu belegen, die sich in ihren Gemeinden zugetragen hätten. Dem gegenüber stehen viele Aussagen von Kranken, ihnen seien falsche Heilungsversprechungen gemacht worden. Die Christliche Gemeinde Köln ist in Verruf geraten, weil in ihr organisierte Krankenschwestern angeblich sogar unheilbar Kranke in Kliniken überredeten, die medizinische Behandlung abzubrechen.

Der 29jährige Krankenpfleger und Ex-Charismatiker Theo Matthias Herget sagte in einen Sorgerechtsprozeß vor Gericht: "Ich habe von Kollegen erfahren, daß Mitglieder der Gemeinde versucht haben sollen, eine ältere Rollstuhlfahrerin - sie war an multipler Sklerose erkrankt - im Krankenhaus zu heilen. Man hat sie aus dem Bett gezerrt und erklärt, daß sie geheilt sei." Außerdem habe Herget beobachtet, wie bei weiteren "Heilungswünschen zwei Personen zu Tode gekommen sind". Die Gemeinde bestreitet dies. Auch bei Teufelsaustreibungen an Kindern war Herget nach eigenen Angaben dabei. "Nach meiner Erinnerung ist das jüngste der Kinder etwa vier Jahre alt gewesen."

Die Vertreibung von Dämonen ist unter Charismatikern gängige Praxis, auch wenn Mitglieder der weltweit verbreiteten Glaubensbewegung dies immer wieder abstreiten und zu bagatellisieren versuchen. Die Bücher der einschlägigen, meist selbsternannten Pastoren, sind voll davon. Charismatiker wollen bibeltreue Christen sein. Sie sind stolz darauf, nach Gottes Wort zu leben. Einige haben sogar einen "Adoptionsvertrag mit Gott" abgeschlossen. Viele sind allerdings nur gutgläubige Opfer, die unbewußt zu Tätern werden. Ihre Anführer reden Ihnen ein, von Gott persönlich mit der Gabe der "Prophetie" gesalbt zu sein. Irrtum ist also ausgeschlossen, Widerspruch gegen einen Gemeindeleiter gleichbedeutend mit Gotteslästerung, Kritik immer dämonisch.

Die Organisationsform der Charismatischen Bewegung ist für Laien nur schwer durchschaubar. Selbst Mitglieder haben selten den Überblick, wie die "Christliche Erneuerungsbewegung", wie sie sich selbst nennt, vernetzt ist. Hunderte von Organisationen haben sich in ihr zusammengeschlossen, um den wahren Worten Gottes wieder Gehör zu verschaffen und für Jesus "Freiräume" von satanischen Mächten freizubeten. Der politische Arm der Charismatiker ist die "Partei Bibeltreuer Christen".

Die Charismatische Bewegung ging aus der Pfingstbewegung hervor, die 1906 in Kalifornien ihre Anfänge nahm und als sogenannte "Zweite Welle" 1960 nach Deutschland schwappte. Seither verbreitet sie sich in allen Konfessionen. Obwohl sich die klassischen Kirchen gegen die Unterwanderung wehren, wagen es die Kirchenleitungen nur selten, gegen die Extremisten in den eigenen Reihen das Wort zu erheben. Denn die haben meist volle Säle.

Die radikaleren Charismatiker haben sich in unabhängigen Freikirchen organisiert, die sich durch Spenden selbst tragen. In ihnen gewinnt eine auch unter Fundamentalisten umstrittene Strömung immer mehr Zulauf, die sich "Geistlicher Krieg" nennt. "Seit dem Sündenfall regiert Satan diese Welt", predigt Hartwig Henkel in der "Gemeinde auf dem Weg", in Berlin. "Zerstörung, Leid, Katastrophen und Unterdrückung gehen auf das Konto des Teufels. Quer durch die Bibel sehen wir, wie Gott die Zusammenarbeit mit Menschen braucht, um die Absichten des Teufels, der hier auf der Erde regiert, zu verhindern."

An der Spitze der "Geistlichen Kriegsführung" steht der ehemalige Arzt und jetzige Leiter der "Gemeinde auf dem Weg", Wolfhard Margies. Ein Mann, der seine Prinzipien in dem Standardwerk "Befreiung" zu Papier gebracht hat. Dort beschreibt er, wo die bösen Dämonen überall lauern, um Gott die Erde streitig zu machen. In einer schier endlosen Reihe absurder Verteufelungen listet er als "sichtbare Auswirkungen dämonischer Kräfte" auf: Angst vor Menschen, Homosexualität, Depression, Eßsucht, offensichtliche Naschsucht, Intellektualismus, Leistungsverweigerung, Masturbation, Epilepsie, Asthma, Neurodermitis. Der Teufel ist also immer und überall.

Margies Aufzählung gipfelt in der Feststellung: "Dazu gehört auch die spezifische Leidensgeschichte von Frauen, die überzufällig häufig vergewaltigt oder sexuell belästigt werden. Das ist niemals Zufall!"

Daß Frauen deshalb von Gemeindemitgliedern die "Triebgeister" wieder ausgetrieben werden müssen, ist in extremen Charismatischen Gemeinden eine gängige Vorstellung. Erst kürzlich ist das Pastorenehepaar Höfig aus Nürnberg für eine "Vaginalsalbung" an einer sich heftig wehrenden Frau zu 22 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt worden. Aber anstatt den "Pastor" zur Rede zu stellen, hat der Verein "Fürbitte für Deutschland" an seine "Lieben Beter" gefaxt, sie sollten für das Pastorenehepaar beten, damit "der Staatsanwalt und der zuständige Richter zu angemessenen und fairen Untersuchungen zurückkehren und Gerechtigkeit üben oder von Gott aus ihrem Amt genommen werden".

Ähnliches ist Gabriele Steinmetz in der Wuppertaler Andreas-Murray-Gemeinde widerfahren. Als sie ihrem Gebetskreis berichtete, daß der Prediger ihr nachstelle, hieß es, sie sei verhaltensgestört und müssen dringen in das gemeindeeigene Therapiezentrum für "gefallene Mädchen". Sie sei von einem "Triebgeist" besessen, der sie sexuell zügellos mache. Später wurde Gabriele Steinmetz der angebliche Dämon ausgetrieben. Als sie sich immer noch nicht einsichtig zeigte, schmiß man sie kurzerhand aus der Gemeinde. "Ich war so fertig. Am nächsten Tag habe ich versucht, mir das Leben zu nehmen."

Leider wissen viel zu wenige Sektenanhänger, daß es Hilfe für Aussteiger gibt. In den Gruppen werden die Sektenbeauftragten der Länder, Städte und Kirchen als Werkzeuge Satans verdammt. Deshalb trauen sich auch viele Mitglieder selbst in größter seelischer Not nicht, bei ihnen um Rat zu fragen. Die meisten steigen deshalb heimlich aus, schweigen ein Leben lang über ihre religiöse Vergangenheit. Auch, um schneller zu vergessen.

Die Theologin Uta Kroder hat selbst zwei Jahre in einer Charismatischen Gemeinschaft verbracht, deren Methoden sie als "feinsten Psychoterror" beschreibt. Heute arbeitet sie in der von jungen Frauen geleiteten Selbsthilfegruppe "Acharisma". Sie sagt: "uns wird immer vorgeworfen, wir würden nur Extremfälle schildern, die es schließlich in jeder Kirche gibt. Natürlich machen viele Christen auch gute Erfahrungen in solchen Gemeinschaften. Einige erleben zum ersten Mal Liebe und Fürsorge."

Man gebe ihnen anfangs das Gefühl, von Gott gebraucht zu werden und persönlich in den Dialog mit Jesus zu treten. "das ist für die meisten erst mal ein tolles Erlebnis." Der Druck komme erst später. Durch ihre Kontakte in die ganze Republik weiß sie jedoch, "daß zum Beispiel Dämonenaustreibungen in allen uns bekannten Charismatischen Gemeinden praktiziert werden".

Walter Krappatsch von der Selbsthilfegruppe "Artikel 4 e.V." erlebt vor allem Opfer christlicher Sekten, "die einfach kein eigenverantwortliches Leben mehr führen können. Viele haben Suizidversuche hinter sich oder brauchen stationäre Aufenthalte in Psychiatrien, um die Orientierung im Leben außerhalb der totalitären Sektenstrukturen wiederzugewinnen."

Auch Christina B. brauchte lange, um sich von den Fesseln der Sekte zu befreien. "Ich habe doch überall nur noch Dämonen gesehen." Ein weiteres Problem wird ihr wohl noch lange zu schaffen machen: "In meinem Missionierungswahn habe ich so viele Kinder und Jugendliche reingezogen. Ich hoffe nur, daß es ihnen heute nicht so dreckig geht. Eigentlich kann ich sie nur um Vergebung bitten."

Aus: -STERN-25/95-14-06-95-
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