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Sechs gegen den Strom


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Rolf

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DIE ZEIT



Sechs gegen den Strom



Wie die Christen−Union die niederländische Politik aufmischt.


Von Werner A. Perger
Amsterdam[/b

]Mit seinen 41 Jahren ist Joël Voordewind, der Pastorensohn aus Amsterdam, weit herumgekommen. Er hat
viel erlebt auf seinen Reisen  und einiges bewirkt. Voordewind betreute Straßenkinder in Brasilien und half
Kindersoldaten in Liberia. Er arbeitete als Aufbauhelfer in Ruanda und Burundi, im Südsudan und in
Khartum. Anfang der neunziger Jahre, nach dem ersten Golfkrieg, engagierte er sich in einem Projekt bei den
Kurden im Nordirak.

Zwischendurch hat der gelernte Politologe in Den Haag für den sozialdemokratischen Entwicklungspolitiker
Jan Pronk gearbeitet. Er war Idealist, Aktivist, Realist, eins nach dem andern. Heute ist er alles zugleich, seit
November vergangenen Jahres sitzt er als Abgeordneter im Parlament der Niederlande, in der Zweiten
Kammer, und führt als stellvertretender Vorsitzender die calvinistische Christen−Unie (CU) mit an, die sich
durch eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte auszeichnet.

Die CU hat nur sechs Abgeordnete, aber sie regiert. In dem Bündnis mit den Christdemokraten (CDA) des
Premiers Jan Peter Balkenende und den Sozialdemokraten (PvdA) des Finanzministers Wouter Bos ist sie
natürlich die kleinste Partei. Doch gerade ihre Handschrift im Regierungsprogramm ist nach Ansicht
niederländischer Kommentatoren am deutlichsten sichtbar.

Das hat gute Gründe. Neben den Populisten rechts und links der Mitte ist die Christen−Union die einzige
Partei mit ständig steigender Zustimmung. Im Kabinett ist sie mit zwei Ministern und einer Staatssekretärin
vertreten. Der Chef, André Rouvoet, zugleich Vizepremier, hat für sich das Ministerium für Jugend und
Familie beansprucht, das es in den Niederlanden nun zum ersten Mal gibt, als zweites Ressort besetzt die CU
die Verteidigung. Rouvoet ist ein guter Debattierer, der fünffache Familienvater hat hohe Sympathiewerte und
versteht es, trotz seines strenggläubigen calvinistischen Hintergrunds locker und leutselig aufzutreten. Kein
Mann von Welt, aber authentisch. Vielen anderen fehlt das.

Der Aufstieg der CU, die erst 2001 auf Betreiben von Rouvoet aus zwei christlichen Kleinparteien gebildet
wurde, ist eindrucksvoll: Zunächst noch im Schatten der Erregung um den 2002 ermordeten Populisten Pim
Fortuyn, konnte die neue Partei 2006 mit vier Prozent der Stimmen ihre Sitzzahl auf sechs verdoppeln. Die
Sozialdemokraten waren eingebrochen, auch die Christdemokraten hatten, wenngleich weniger dramatisch,
Stimmen und Sitze verloren. Die Tendenz hat sich seither, in den Provinzwahlen vor wenigen Wochen und in
den Umfragen kurz vor Ostern, gehalten. Inzwischen hätte die CU fast sechs Prozent und acht Sitze. Was ist
los in den Niederlanden? Folgt auf die populistische antiliberale Wende nun eine konservativ−christliche
Restauration? Ist der Aufstieg der Christen−Union ein Signal für andere europäische Demokratien, in denen
Fragen der Identität und Probleme des sozialen Zusammenhalts eine vergleichbare Bedeutung haben?
Mit den christlichen Traditionen im niederländischen Bibelgürtel sind die Zuwächse der CU in Wahlen und
Umfragen nicht zu erklären. Joël Voordewind, der mit seiner Frau und zwei Kindern im Norden von
Amsterdam lebt, verweist auf die jüngsten Zuwächse seiner Partei in den Städten. Dort dringt sie offenkundig
in die Milieus der Großparteien ein. Als Erklärung könnte dafür nicht zuletzt die politische Biografie
Voordewinds herhalten. Als junger Mitarbeiter der PvdA erlebte er Anfang der neunziger Jahre als
Mitarbeiter des engagierten Entwicklungs− und Umweltpolitikers Pronk die Grenzen des Idealismus. Eine
Erfahrung, die Voordewind veranlasste, der Politik und den Sozialdemokraten alsbald den Rücken zu
kehren.

Er ging nach Afrika, arbeitete für eine christliche Hilfsorganisation, und als er vier Jahre später in die
Niederlande zurückkam, wurde er Mitarbeiter des späteren CU−Gründers Rouvoet und beteiligte sich an
dessen Kampagne gegen den tendenziell neoliberalen Reformkurs der damaligen Haager
Mitte−links−Koalition unter dem Sozialdemokraten Wim Kok. Eine CU−typische Karriere? Ein
PvdA−Mitarbeiter: »Das kenne ich: In den neunziger Jahren haben uns viele aus ähnlichen Gründen
verlassen.« Aktivisten, aber vor allem auch Wähler. Und ständig werden es mehr.
Die calvinistischen Kader der CU mögen sich persönlich auf die Bibel beziehen und deren traditionell
wörtliche Interpretation hochhalten, politisch hat die Christen−Union aber ein Programm entwickelt, das nah
an den Problemen der Bürger ist, zugleich aber seriöser und zupackender wirkt als die sozialegalitären oder
fremdenfeindlichen Hauruck−Parolen der Populisten.

Fälle des prinzipientreuen CU−Pragmatismus: In der Regierung setzte sich die Union erfolgreich für eine
Legalisierung von fast 30000 Asylbewerbern ein, die von Abschiebung bedroht waren. Sie widersetzte sich,
gegen den populistischen Mainstream, einer weiteren Verschärfung des Asylrechts. Dass
Abschiebekandidaten unter der zuständigen rechtsliberalen Ministerin Verdonk bei Nacht und Nebel
»weggeholt« würden, so hatte die friesische CU−Abgeordnete Tineke Huizinga−Heringa im vorigen
Parlament gewettert, das erinnere sie fatal an den 2. Weltkrieg, will sagen: an die Deportationspolitik der
Nazis. Die prekäre Analogie sorgte für großen Wirbel, die Mitte−rechts−Regierung war empört, die junge
Unionschristin aber gewann mit diesem Brachialeinsatz für eine liberalere Asylpolitik viele Sympathien im
liberal−konservativen Bürgertum, vor allem aber auch im Milieu christlicher Zuwanderer aus Surinam, von
den Antillen und aus einigen afrikanischen Staaten (insgesamt etwa 800000 Menschen mit Pass und
Wahlrecht).

Mal weltoffen−liberal, mal betont wertkonservativ  gegen den Strom schwimmt die Christenunion auch bei
anderen Themen: Sie ist gegen Abtreibung, Sterbehilfe und die rechtliche Gleichstellung homosexueller
Beziehungen  und stellt sich damit gegen den niederländischen Konsens. Durchsetzen kann sich die CU in
der Regierung hiermit nicht, aber Schwerpunkte werden verlagert oder Begleitprogramme initiiert, zum
Beispiel soll statt eines Ausbaus der Sterbehilfe künftig die Palliativmedizin gefördert werden. »Wir können
die Gesetze nicht ändern, aber die Praxis«, umschreibt Voordewind die Strategie der kleinen calvinistischen
Schritte.

Die Christen−Union wendet sich gegen die Stammzellenforschung, sie ist gegen neue Kernkraftwerke, sie tritt
dafür ein, dass Mütter von Kleinkindern gefördert werden, wenn sie die ersten Jahre lieber beim Kind bleiben
wollen, statt außer Haus zu arbeiten. Sie sperrt sich gegen weitere Einsparungen zulasten sozial Schwacher.
Auf wachsende Zustimmung außerhalb der Linken und der großstädtischen Alternativszene trifft übrigens die
Offensive der Christen−Union gegen die bisherige Drogenpolitik, symbolisiert durch die Coffeeshops, die es
im Umkreis von Schulen und Jugendzentren künftig nicht mehr geben soll. Und mehrheitsfähig ist natürlich
auch ihre skeptische Haltung gegenüber der EU. In dem Punkt sieht Joël Voordewind keinen Spielraum für
Kompromisse. Was immer Kanzlerin Merkel im Schilde führen mag, vor Schleichwegen aus dem Dilemma
wird gewarnt. »Die Verfassung ist tot. Mit uns gibt es keinen neuen Versuch  keine Präambel, keinen
EU−Präsidenten, keinen Außenminister.« Basta!

So ist diese Christen−Union zurzeit vermutlich die bunteste Blume in der europäischen Parteienlandschaft,
populär, ohne populistisch zu sein, an Grundsätzen jenseits der Politik orientiert, ohne doktrinär aufzutreten,
gelegentlich auch unbequem progressiv und liberal. Und manchmal weckt sie niederländische restliberale
Reflexe, wenn sie sich für konservative Wertvorstellungen so massiv ins Zeug legt wie soeben in Utrecht. Als
dort eine Wäschefirma auf einem 200 Quadratmeter großen Plakat mit dem Pin−up−Foto einer Frau in
goldfarbenem Bikini für ihr Unterwäscheangebot werben wollte, forderte die örtliche Christen−Union sofort
ein Verbot. Welche Anmaßung, schallte es zurück, ach und wehe, die alten Spießer kommen wieder! Die
Begründung der CU allerdings klang eher zeitgemäß feministisch: Dies sei ein klarer Fall von
Diskriminierung der Frau als Lustobjekt. Und eine prominente Frauenrechtlerin sprang der Partei in einer
Kolumne der angesehenen Zeitung NRC Handelsblad zur Seite: Früher habe auch sie solche Proteste für
Prüderie gehalten. Doch sie habe sich geirrt. »Was den goldenen Bikini angeht, stimme ich der
Die Zeit − Politik : Sechs gegen den Strom Christen−Union zu.« Die kleine Partei ist offenbar in der Mitte der Gesellschaft angekommen.


[b]DIE ZEIT, 12.04.2007 Nr. 16
16/2007

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