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Griechisches und biblisches Seelenverständnis


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Rolf

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Adolf Köberle



Griechisches und biblisches Seelenverständnis



Griechischer Dualismus


Auf die Frage: Wer oder was ist der Mensch? hat die orphisch-platonische Philosophie die
Antwort gegeben: Der Mensch besteht aus einer edlen und aus einer unedlen Hälfte. Der edle
Teil ist die Seele, der unedle Teil ist der Leib des Menschen. Die Seele ist himmlischen
Ursprungs. Sie stammt aus dem Bereich der Ideen und hat dort praeexistent im Anschauen der
ewigen Schönheit gelebt. Sie ist ein Lichtfunke aus der göttlichen Welt und darum ihrem Wesen
nach unvergänglich, unsterblich, fleckenlos rein. Auf Erden findet sich der göttliche Gast
eingezwängt in die Behausung des Leibes. Er leidet an dieser Einkerkerung und kann die
Erinnerung an den verlorenen Ursprung nie ganz vergessen. Wie der Vogel im Käfig, so verlangt
die Seele nach der Befreiung aus dem Gefängnis, aus dem Grab des Leibes. Keinen Leib mehr
haben, nur noch Seele sein dürfen, gilt als Sehnsuchtsziel der Erlösung. Alle Nöte des Lebens,
alles Geplagtwerden von Leidenschaften und Begierden, alles Irren und Schuldigwerden hängt
damit zusammen, das die Seele in die unwürdige Behausung der stofflich-irdischen materiellen
Welt eingeschlossen ist.

Platon hat darüber nachgedacht: Warum müssen die reinen, vollkommenen Seelenwesen in die
unvollkommene sinnliche Welt einkehren? Er hat darauf eine zweifache Antwort gegeben: Er
sah in dem Verlust der Heimat der Seele ein allgemeines Weltgesetz, dem jedermann
unterworfen ist. Daneben steht die andere Deutung: der Absturz aus der Welt der Ideen ist keine
Notwendigkeit, er beruht auf einer geistigen Fehlwahl, die zur “Strafversetzung” auf Erden führt.
Auf den ersten Blick mag der Dualismus der griechischen Philosophie überraschen. Gelten doch
die Griechen nach allgemeiner Hochschätzung als das Volk der schönen Leiblichkeit, als das
Volk der Olympischen Spiele, das einen Praxiteles hervorgebracht hat, dessen plastische
Meisterwerke heute noch jedes empfängliche Gemüt entzücken. Hatten Winkelmann, Herder und
Goethe die edle Einfalt und stille Größe, den lichtklaren heiteren apollinischen Zug in der
griechischen Religion gerühmt, so wurde das Bild durch Nietzsche in seinem Erstlingswerk “Die
Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik” korrigiert und ergänzt durch den Hinweis auf den
dionysischen Lebensrausch, der in Tanz und Taumel die vitalen Kräfte feiert.

Wie ist es zu verstehen, daß die beschwingte Daseinsfreude in das äußerste Gegenteil
umschlagen konnte? Man hat darauf hingewiesen, daß schon über den herrlichen Gestalten der
griechischen Bildhauerkunst ein leiser Schatten der Trauer liegt, als wollten sie sagen: Auch das
Schöne muß sterben. Der griechische Mensch ist, darin dem indischen Menschen verwandt, mit
den Realitäten Krankheit, Altwerden, Vergänglichkeit, Häßlichkeit und Verwesung nicht fertig
geworden. Er ist im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung an dem Ideal der starken und
schönen Lieblichkeit zerbrochen. In der Enttäuschung darüber, daß der Leib nicht gehalten hat,
was er zu versprechen schien, wird in der Folgezeit verneint, was einmal angebetet wurde.

Wie sich ein solcher Bewußtseinswandel im Einzelschicksal wiederholen kann, dafür ist der
griechische Dichter Nikos Kazantzakis (1887-1957) ein eindrucksvoller Beweis. In seiner
Autobiographie “Rechenschaft vor El Greco” schildert er in glühenden Farben, wie er als junger
Mensch trunken war von dem Erlebnisglück der kretischen Erde und wie ihn diese Lebensfülle
doch nicht sattmachen konnte. Er vermochte auf die Dauer “das Feuerwerk des Lebens nicht
mehr zu ertragen, das einen Augenblick lang mit Tausenden von Farben und Lichtern die Luft
erfüllt und gleich darauf erlischt”.

Das Auseinanderreigen von Seele und Leib, von Stoff und Geist, das in Platons “Phaidon”
anhebt, findet sich im Neuplatonismus auf das äußerste gesteigert. Porphyrios beginnt die
Biographie seines Lehrers Plotin (gestorben 270 n. Chr.) mit dem Satz: “Er glich einem Manne,
der sich schämt, im Leib zu sein.” Der Leib ist nicht nur “ein Erdenrest, zu tragen peinlich”, er
gilt als schmutzig, niedrig und gemein und ist darum verabscheuungswürdig. Um so heller
erstrahlt auf dem düsteren Hintergrund einer weltmüden Stimmung die unvergängliche
Herrlichkeit der Seele. Ängstlich beargwöhnt wird hinfort vor allem der gesamte Bereich des
Sexuellen. Die Polarität der Geschlechter scheint vom göttlichen Leben am weitesten entfernt zu
sein.

Einheit von Leib und Seele

Ein völlig anderes Bild vom Wesen des Menschen begegnet uns in der biblischen Anthropologie.
Leib und Seele sind nicht gegensätzliche Größen, die miteinander in unversöhnlichem Streit
liegen. Es sind vielmehr gute Kameraden, die Freud und Leid geschwisterlich miteinander teilen.
Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott, Leib und Seele verschmachten in Krankheit
und Todesnot, wenn Gott nicht zum ewigen Halt wird. Es gilt den zu fürchten, der Leib und
Seele verderben kann (Ps. 84, 3; 73, 26; Math. 10, 28).

Leib und Seele werden im Alten und Neuen Testament so völlig als untrennbare Einheit gesehen,
daß das eine Wort das andere vertreten kann. Röm. 12, 1 wird gewöhnlich übersetzt: “Ich
ermahne euch, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, daß ihr eure Leiber zum Opfer
bringt.” Ungleich besser ist die Übertragung von Ulrich Wilckens: “Bringt euer leibliches Leben
Gott zu einem wohlgefälligen Opfer dar.” Mit soma ist der ganze Mensch gemeint, der sich als
gerechtfertigter Sünder Gott ausliefern und darbringen soll.

Erst recht bedeutet das Wort Seele im hebräischen Sprachgebrauch nicht eine höhere Fähigkeit,
die dem Leib weit überlegen ist. Mit Seele (nephesch) ist der ganze Mensch als leibhaftige
Person gemeint. Er ist nicht zusammengesetzt aus verschiedenwertigen Substanzen. Er geht als
lebendige Einheit aus der Schöpfermacht Gottes hervor und ist in dieser ganzheitlichen Gestalt
berufen zum dialogischen Austausch mit dem ewigen Du Gottes in Liebe und Vertrauen.
Zutreffend übersetzt darum Calvin im lateinischen Psalmenkommentar das Wort anima mit vita
ipsa.

Wenn wir uns von dem platonischen Dualismus freimachen, als wäre allein die Seele der
gottverwandte himmlische Vogel, dann bekommen altvertraute Bibelworte einen völlig neuen
Klang. Denn immer, wenn uns das Wort Seele begegnet, haben wir dabei an den ganzen
Menschen als lebendige Person zu denken, und das in Zeit und Ewigkeit. Lesen wir also künftig:
“Mein Leben dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.” “Du hast mein Leben vom Tode
errettet.” “Laß mich leben, daß ich dich lobe!” “Wenn ich dich anrufe, so erhörst du mich und
gibst meinem Leben große Kraft.” “Ich freue mich im Herrn und mein Leben ist fröhlich in
meinem Gott.” (Ps. 42, 3; 119, 175; 138, 3; Jes. 61, 10).

Auch die Worte Jesu dürfen nicht platonisch, sie müssen hebräisch interpretiert werden: “Was
hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an sich
selbst?” “Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Leben zu verderben, sondern
zu erhalten.” “Wer da sucht, sein Leben zu erhalten, der wird es verlieren.” Zu dem reichen
Kornbauern spricht Gott: “Du Narr, noch diese Nacht wird man dein Leben von dir fordern.”

Es ist den Alttestamentlern Hans Joachim Kraus, Claus Westermann und Hans Walter Wolff zu
danken, das sie durch tiefgrabende Studien ganz wesentlich dazu beigetragen haben, den
qualitativen Unterschied zwischen dem griechischen und biblischen Verständnis von Seele
herauszuarbeiten.

Wer sich die biblische Schau zu eigen macht, wird im Blick auf die griechische Psychologie
einen doppelten Fehler feststellen: es wird der Leib unterbewertet, und es wird die Seele
überbewertet. Man vermag nicht zu sehen, das auch der Leib Gottes gute Gabe ist, für den es zu
danken gilt und der in Ehren zu halten ist, weil er der vitale Ermöglichungsgrund unserer
seelischen und geistigen Kräfte ist. Gewiß, auch das biblische Zeugnis weiß um die Begierden
und um den Jammer des Leibes, aber die Ursache liegt nicht in der stofflichen Substanz des
Leibes, sondern in der “Seele”, im Personkern des Menschen, der sich von Gott abgewendet hat
und den Leib in die Gottentfremdung mit hineinreißt.

In diesem Zusammenhang ist an die Worte Jesu zu erinnern: “Aus dem Herzen kommen arge Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Dieberei, falsch Zeugnis, Lästerung. Das sind die Stücke, die den Menschen unrein machen.
Aber ohne Waschung der Hände essen macht den Menschen nicht unrein” (Math. 15, 19).
Aber hat nicht Paulus den platonischen Dualismus doch wieder in die urchristliche
Verkündigung eingeschleust, wenn er Gal. 5, 17 schreibt: “Denn das Fleisch streitet wider den
Geist und der Geist wider das Fleisch, dieselben sind widereinander.” Wer mit der paulinischen
Terminologie nicht vertraut ist, könnte vermuten, es werde der griechische Gegensatz von Stoff
und Geist, von minderwertigem Leib und hochwertiger Geistseele erneut zu Ehren gebracht.

Aber die Gegenüberstellung von Fleisch und Geist hat bei dem Apostel einen völlig anderen
Sinn als im Bereich des Hellenismus. Fleisch bedeutet bei Paulus der von Gott getrennte, im
Aufstand gegen Gott sich verhärtende und darum der Vergänglichkeit anheimfallende Mensch.
Fleisch ist der Versuch des Menschen, ohne Gott, ja gegen Gott zu leben. Sünden des Fleisches
sind darum vor allem Eigenruhm, Selbstbehauptung, Hochmut, Unversöhnlichkeit. Gewiß ist
auch sexuelle Unordnung und Verwilderung dazuzuzählen, aber sie ist keineswegs die erste und
schwerste Verfehlung, zu der sie im christlichen Bewußtsein gemacht worden ist. Wenn Paulus
dem Fleisch den Geist entgegenstellt, dann denkt er dabei nicht an höhere Fähigkeiten des
Menschen wie Verstand, Vernunft, philosophische Erkenntnis. Das Wort Geist meint den Geist
Gottes, den Geist Christi, der richtend, Versöhnung stiftend und neues Leben schaffend in der
Gemeinde am Werk ist.

Dualismus in der Geschichte der Christenheit

Wenn aber der platonische Dualismus im Alten und Neuen Testament kein Heimatrecht besitzt,
wie ist es dann zu erklären, das dieses andersartige Denken gleichwohl in das Judentum und
Christentum Eingang finden konnte? Seit dem Siegeszug Alexanders des Großen wurde der
vordere Orient samt Palästina und Ägypten von griechischem Gedankengut und Lebensstil
überschwemmt. Die griechische Sprache wurde zur Weltsprache. Das hebräische Alte Testament
wird ins Griechische übersetzt. Auch Paulus schreibt seine Briefe griechisch.

Von dem Buch Jesus Sirach, das den alttestamentlichen Apokryphen zugezählt ist, war der
ursprünglich hebräische Text lange Zeit verschollen. Es gab nur eine griechische Übersetzung.
Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurden große Stücke des Originals aufgefunden. In der
Einleitung schreibt der Verfasser: “Etwas ursprünglich hebräisch Gesagtes hat eben nicht mehr
genau den gleichen Sinn, wenn es in fremde Sprache übertragen wird. Vieles lautet dann in der
Übersetzung erheblich anders.” Das Johannes-Evangelium beginnt mit den Worten: “Im Anfang
war der Logos.” Logos kann beides bedeuten: das Wort und die Weltvernunft. Wer den Satz mit
einem biblisch geschulten Ohr hört, verspürt alsbald den Zusammenhang mit dem Anfang der
Schöpfungsgeschichte: “Und Gott sprach, es werde Licht, und es ward Licht.”

Im Zeitalter des Hellenismus konnte der Satz sehr wohl auch interpretiert werden: Im Anfang war die
Weltvernunft, die sich im Geist des Menschen rein und ungetrübt widerspiegelt. Das gleiche
Schicksal mußte dem Wort Seele widerfahren. Wer vom Alten Testament her kam, dem stand
das ganzheitliche Bild des Menschen vor Augen, wie er als Gesamtperson von Gott geschaffen
ist. Einem im Geist von Hellas geschulten Leser lag es näher, bei dem Wort an den platonischen
Hintergrund zu denken, der die Seele als gottförmig versteht und den Leib als gottfern gering
achtet.

Es war eine Schicksalsstunde von unübersehbarer Tragweite, als das frühe Christentum den
palästinensischen Heimatboden verließ und in die Welt der hellenistischen Kultur eintrat. Wollte
es in dieser Luft atmen und wirken, wollte es in diesem neuen Raum seine Sendung erfüllen, so
mußte es sich mit dem Hellenismus irgendwie einlassen. Es konnte sich mit den Menschen, die
in dieser Welt lebten, nur verständigen, wenn es sich nicht nur ihrer Sprache, sondern auch ihrer
Denkform bediente. Es mußte seine Verkündigung mit den Denkmitteln der griechischen
Philosophie darstellen.

Es hat an Widerstand gegen den synkretistischen Verschmelzungsprozeß in der Frühzeit der
Kirchengeschichte nicht gefehlt. Paulus, der sich seiner Herkunft als Hebräer immer bewußt
blieb, ja sich dessen rühmte (Phil. 3, 5), hat auf dem Areopag in Athen nicht die Lehre von der
Unsterblichkeit der Seele vorgetragen. Er hat den auferstandenen Kyrios und die Auferstehung
der Toten verkündigt und ist deswegen verspottet und abgelehnt worden (Apg. 17, 22 ff.). Die
johanneischen Briefe sind Kampfschriften gegen den Geist der Gnosis. Die Kirchenväter,
Irenäus an der Spitze, warfen sich dem Doketismus entgegen, als hätte Jesus einen Scheinleib
getragen, weil es des göttlichen Logos nicht würdig war, in einem irdischen Leib zu wohnen.
Von Tertullian, einem leidenschaftlichen Christen am Ausgang des zweiten Jahrhunderts,
stammt der Ausspruch: “Was hat Athen mit Jerusalem zu schaffen?”

Platon und Plotin haben sich trotz aller Widerstände behauptet und durchgesetzt, auf
alexandrinischem Boden durch Clemens und Origenes, im Abendland durch Augustin, dessen
Lebenswerk eine grandiose Synthese von griechischer und biblischer Seelenlehre darstellt. Auf
die Frühscholastik hat Platon, auf die Hochscholastik Aristoteles nachhaltig eingewirkt. Die
glutvolle mittelalterliche Mystik war gewiß christozentrisch geprägt, aber ihre Vorstellungen
vom Leib und von der Seele tragen deutlich die Merkmale hellenistischer Beeinflussung. Man
mißtraut dem Leib, man tut ihm weh durch hartes Fasten und Geißelschläge. Zölibat und
bleibende Jungfräulichkeit werden weit über den ehelichen Stand gestellt.

Weltflucht wird höher bewertet als Weltverantwortung. Von der Seele aber lehrt man gut platonisch, sie sei zwar unter
dem Einfluß der sinnlichen Erscheinungswelt bestaubt und beschwert, auf dem Grund der Seele
aber glimme ein göttlicher Funke, den es nur zu entdecken gilt, damit er zur lodernden Flamme
werden kann. Daß der Mensch von Natur bis in den Seelengrund hinein durch Selbstliebe
verdorben ist, will man nicht wahrhaben. Erstmals bei Martin Luther kommt es auf Grund seines
Zurückgreifens auf die Bibel als die alleinige Quelle der Wahrheit wieder zu einem Durchbruch
des hebräischen Realismus. Der Reformator mißtraut dem Dionysius Areopagita. Er findet,
Aristoteles gehöre so wenig zur christlichen Kirche wie die Sau zur Synagoge. Der biblische
Schöpfungsglaube wird erneut zu Ehren gebracht. Urchristliche Worte erhalten ihren
ursprünglichen Glanz.

Man kann Gott auch an seinem Leibe preisen. “Denn alles, was Gott
geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, das mit Danksagung empfangen wird” (1. Tim.
4, 4). Der verheißungsvolle Auftakt sollte nicht allzulange währen. Bereits Melanchthon bekennt
sich wieder zu Aristoteles. Auch der lutherische und reformierte Pietismus konnte sich von der
dualistischen Einstellung längst nicht immer freihalten. Ein grandioser Sieg sollte dem
griechischen Geist im 19. Jahrhundert gelingen durch die Philosophie des deutschen Idealismus.
Durch Kant, Schiller, Fichte und Hegel triumphiert Athen und Weimar abermals über Jerusalem.
Gewiß, es waren großartige Gestalten von überragender geistiger Kraft und von hoher sittlicher
Verantwortung gegenüber sich selbst. Sie haben den Vorgang des Denkens genau so verherrlicht,
wie im Platonismus die Seele vergöttlicht wird. Aber dieser Geistmonismus war außerstande,
den erdhaften Realitäten liebevoll gerecht zu werden.

Für Fichte war die Natur lediglich das Material, an dem der Mensch seine geistige Überlegenheit einüben und verwirklichen sollte. Mit Recht sprach Schelling, der bei Böhme, Oetinger und Hamann in die Schule gegangen war, von
einem “völligen Totschlag der Natur”. Die eingebildete Überlegenheit des Geistes gegenüber der
Materie mußte schließlich zur Mißhandlung und Zerstörung der Natur führen, wie es heute vor
aller Augen ist. Und ebenso vergaß der Geistmonismus, daß die überlegene Herrschaft des
Geistes wenigstens einigermaßen menschenwürdige Lebensbedingungen zur Voraussetzung hat.

Wo es an ausreichender Nahrung, an Wohnung und Kleidung fehlt, wirkt das idealistische
Pathos unglaubwürdig. Es mußte sich von Bert Brecht sagen lassen: “Erst kommt das Fressen,
dann kommt die Moral.” Die idealistische Philosophie und die in ihrem Schlepptau sich
befindende Theologie war nicht imstande, die sozialen Aufgaben, die das Industriezeitalter mit
sich brachte, aufgeschlossen wahrzunehmen. Man empörte sich nur über die Minderwertigkeit
der materialistischen und marxistischen Weltanschauung, aber man hörte nicht den Notschrei der
unterdrückten und gequälten Kreatur.

Wenn man die Hellenisierung des Christentums in der Gesamtwirkung überblickt, dann möchte
man verzagt fragen, ob es der christlichen Kirche in Lehre und Leben jemals gelingen wird,
dieser Verfremdung Einhalt zu gebieten. Nietzsche scheint mit seiner Feststellung Recht zu
behalten, Christentum sei “Platonismus für das Volk”.

Eine ungeheure Erziehungsarbeit ist zu leisten, und man darf sich den Vollzug nicht zu leicht
vorstellen. Denn unsere Gemeinden sind im allgemeinen nicht geneigt, an dieser Stelle
umzudenken. Wer der Fehlentwicklung Einhalt gebieten will, bedarf vor allem einer intensiven
Schulung durch das Alte Testament. Denn “die Verkümmerung der hebräischen Wurzeln” (H. -J.
Kraus) ist einer der Hauptgründe dafür, daß der griechische Geist die biblische Botschaft
entstellen konnte.

Die Psychotherapie hat es in ihrer Praxis häufig mit Verkrampfungen im sexuellen Bereich zu
tun. Dabei stellt sich fast immer heraus, daß ein tief eingewurzelter hellenistischer Dualismus in
christlicher Ausführung die seelische Fehlhaltung verursacht hat. Man sollte darum meinen, die
moderne Seelenheilkunde müßte dankbar dafür sein, wenn das platonische Erbe in Kirche und
Theologie abgebaut wird und der hebräische Realismus neu zu Ehren kommt.

Um so unbegreiflicher muß es erscheinen, wenn die Psychotherapeutin Hanna Wolff, die den Doktor
der Theologie besitzt, in den Bahnen von Marcion, Schleiermacher und Harnack neuerdings die
Klage erhebt, “das Christentum sei bisher nie wirklich aus dem Schatten des Judentums
herausgetreten” und im Zusammenhang damit die Forderung aufstellt, “es sollte für Christen
absolut unmöglich sein, das Alte Testament weiterhin als Heilige Schrift und Grund des
Glaubens anzuerkennen”. Statt den jüdisch-christlichen Dialog, der nach 1945 in so erfreulicher
Weise in Gang gekommen ist, zu bedauern, hätte die Verfasserin besser daran getan, die
Harmonisierungstendenzen von Neuem Testament und Hellenismus anzuprangern.*

(*Hanna Wolff, Neuer Wein - alte Schläuche, Stuttgart 1981, S. 189. Die Verfasserin vermag
nicht einzusehen, daß die Preisgabe des Alten Testaments immer zu einem Verlust an
Lebensfülle führt.)


Stirbt auch die Seele?


Eine besondere Klärung verlangt die Frage: Was bedeutet die Unterscheidung von griechischem
und biblischem Seelenverständnis im Blick auf die Erfahrung des Todes? Für den Platoniker ist
der Tod kein aufwühlendes Ereignis. Die vielgerühmte gelassene Art, wie Sokrates stirbt, mag
als Beispiel dafür stehen. Die Seele hat ihre göttliche Wesensart auf Erden ja behalten. Sie ist nur
gedemütigt und gehemmt worden durch die leibliche Belastung. Aber nun darf sie die Fessel
abwerfen und wie ein Schmetterling, der der Raupe entschlüpft, in sonnige Höhen emporsteigen.
Die Unsterblichkeit der Seele gehört zu der nie angetasteten Grundüberzeugung der griechischen
Religionsphilosophie.

Die biblische Ganzheitsschau empfindet den Tod völlig anders. Er reißt auseinander, was Gott
als Einheit zusammengefügt hat. Keinen Leib mehr haben bedeutet nicht Lebenserhöhung,
sondern Lebensverkümmerung. Der Apostel Paulus erschauert vor dem Gedanken, im Tod des
Leibes beraubt zu werden. Was ihn angesichts dieser Entkleidung allein zu trösten vermag, ist
die Gewißheit, daß mit der Auferstehung Jesu eine neue Schöpfung begonnen hat, in der wir
überkleidet werden mit dem Auferstehungsleib (2. Kor. 5, 1).



Wenn der Platonismus mit seiner Auffassung Recht hätte, daß der Leib der große Hemmschuh für den Aufschwung der Seele zu Gott ist, dann müßte seine Verelendung als beginnende Wohltat empfunden werden. In Wahrheit
verhält es sich aber nicht so, wie jede Erfahrung an Kranken- und Sterbebetten zeigt.
Auch der christliche Glaube bekennt sich zum Fortleben über Tod und Grab hinaus. Aber diese
Gewißheit gründet sich nicht auf den unerschöpflichen, unversehrten Reichtum der Seele.
Unsere Hoffnung beruht auf der Zuversicht, daß Gott den Menschen als sein geschöpfliches
Ebenbild im Tode nicht fallen läßt. Die Unsterblichkeit der Seele ist allein von der Treue Gottes
her zu begründen und nicht aus dem Reichtum des humanum. An keiner einzigen Stelle in der
Bibel ist von der Unsterblichkeit der Seele die Rede. Gott ist es, der allein Unsterblichkeit hat (1.
Tim 6, 16).



Wir täten darum gut daran, auf den mißverständlichen Ausdruck ganz zu verzichten.
Wenn schlichte Gemeindeglieder, die von den Hintergründen der Auseinandersetzung nichts
wissen, ihren Ewigkeitsglauben gleichwohl auf diese Weise zum Ausdruck bringen, dann wollen
wir nicht lieblos über sie herfallen. Aber es wäre viel erreicht, wenn wir alle zu der Erkenntnis
gelangen würden: Unsterblichkeit ist nicht eine Eigenschaft, die wir in uns tragen und
postulieren können.

Theologen wie Karl Barth, Carl Stange und zeitweise auch Paul Althaus, die der Hybris der
griechischen Unsterblichkeitszuversicht entgegentreten wollten, bekannten sich darum, in
merkwürdiger Übereinstimmung mit den “Ernsten Bibelforschern”, zu der Lehre vom Seelentod,
vom Ganz-Tod, den der sündige Mensch als verdientes Gericht zu erleiden hat. Allein diese
Anschauung ist nicht schriftgemäß. Die Genannten mußten sich von Wilhelm Stählin mit Recht
sagen lassen: “Die Rede vom Ganztod ist ein erschreckendes Beispiel für die Gefahr, der die
Theologie immer wieder erlegen ist, in der Abwehr eines Irrtums in einen entgegengesetzten
Irrtum zu verfallen, also anstelle einer Irrlehre eine neue Irrlehre zu setzen.” Da die christliche
Hoffnung recht eigentlich auf den Jüngsten Tag hin ausgerichtet ist, auf die Vollendung des
Reiches Gottes in Herrlichkeit, da Gott sein wird alles in allem, ist die biblische Eschatologie
zurückhaltend mit Aussagen über das Geschick des einzelnen nach dem Tod.

Fest steht die Zukunft der Person, erhalten bleibt die Identität von geschichtlichem und
zukünftigem Leben. Es heißt schlicht: “Es begab sich aber, daß der Arme starb und ward
getragen von den Engeln in Abrahams Schoß” (Lk. 16, 22). Paulus schreibt an die Gemeinde in
Philippi: “Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christus zu sein” (1, 23). Der Geisterseher
Swedenborg, Schelling in dem religionsphilosophischen Traktat “Clara”, der Philosoph Max
Scheler sind dafür eingetreten, daß auch die nachtodliche Existenz des Menschen keine leiblose
Wirklichkeit ist, daß auch der Verstorbene eine plastische Gestalt trägt, wenn auch völlig anderer
Art als die materieller Stofflichkeit. Übersinnliche Erfahrungen im Bereich der Parapsychologie
haben diese Schau bestätigt. Man könnte von einem schattenhaften Dasein sprechen, schattenhaft
im Vergleich zu dem irdischen Leben und dem Leben in der Auferstehung. Doch seien solche
theosophischen Erwägungen nur am Rande erwähnt. Entscheidend bleibt die Frage, ob ein
Mensch im Frieden oder im Unfrieden mit Gott gestorben ist.

Der dreifaltige Mensch

Da die Bibel kein Lehrbuch der Psychologie ist, braucht es uns nicht zu verwundern und schon
gar nicht zu beunruhigen, daß die verwendete Terminologie nicht einheitlich ist. In den
synoptischen Evangelien begegnen wir durchgängig dem dichotomischen Zusammenklang von
Leib und Seele, der aber keinesfalls dualistisch interpretiert werden darf. Dagegen finden sich in
den Briefen Aussagen, die die Trichotomie bevorzugen. Die beiden wichtigsten Stellen sind 1.
Thess. 5, 23 und Hebr. 4, 12. “Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch, und
euer Geist ganz samt Seele und Leib müssen bewahrt werden unversehrt, unsträflich auf die
Ankunft unseres Herrn Jesus Christus.” Zu beachten ist: Leser aus dem hellenistischen Bereich
werden darauf hingewiesen, das auch der Leib in die Christusgemeinschaft mit hineingenommen
werden kann und soll.

Seele und Geist werden im Neuen Testament vielfach austauschbar als Wechselbegriffe
gebraucht. So beginnt der Lobgesang der Maria mit den Worten: “Meine Seele erhebt den Herrn
und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes” (Lk. 1, 46).
In der erwähnten Stelle aus dem Hebräerbrief dagegen treten Seele und Geist zueinander in ein
Gegensatzverhältnis: “Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer denn ein
zweischneidig Schwert und dringt durch, bis daß es scheidet Seele und Geist, auch Mark und
Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.”

Die medizinische Psychologie der Gegenwart hat die paulinische Trichotomie in vollem Umfang
übernommen. Sie spricht von der Leib-Seele-Geist-Einheit. Sie unterscheidet den Menschen
wohl als leibliches Leben, als seelisches und als geistiges Leben. Doch mit dem Wörtlein “als”
soll zum Ausdruck gebracht werden: es ist jedesmal ein und derselbe Mensch, nur das er immer
wieder von einer anderen Seite seines Wesens her anvisiert wird.

Wenn wir uns der dreifaltigen Betrachtung des Menschen anschließen, dann werden wir dein
Leib die bioshaften Kräfte zuweisen, dem Geist die intelligible und voluntaristische Ausrüstung.
Der Seele aber werden wir alles zurechnen, was mit Gemüt, Empfindung, Stimmung,
Ergriffenheit und dem Bereich des unbewußten Lebens zusammenhängt. Es gibt Menschen, die
auffallend gescheit, aber bedauerlich gemütsarm sind. Spurgeon hat solche Leute für den Dienst
der christlichen Verkündigung für ungeeignet erachtet mit der Begründung: “Mit Eiszapfen kann
man kein Feuer anzünden.” Es gibt aber auch Reichgottesarbeiter, die sich seelisch ungezügelt
und maßlos verausgaben. Sie meinen, sie müßten eine Hörergemeinde durch die Intensität der
seelischen Ausstrahlung für das Evangelium gewinnen. Solchen Seelenkünstlern ist das Wort aus
Hebräer 4 zur Warnung gesagt. Das Wort Gottes hat den Auftrag, seelischen Enthusiasmus und
geistgewirkte Klarheit auseinanderzuhalten. Je mehr in unserer Zeit religiöse
Fiebererscheinungen überhand nehmen, um so mehr dürfte die Mahnung, Seele und Geist zu
unterscheiden, bedeutsam werden.


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