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Erfahrungen aus der sexualtherapeutischen Praxis


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Rolf

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Peter Sennholz



Erfahrungen aus der sexualtherapeutischen Praxis


Wir sitzen an meinem Schreibtisch. Die Untersuchung war beendet und alle Untersuchungsergebnisse
besprochen. "Haben Sie noch eine Frage?" - "Nein, danke, das war alles." Die Patientin steht zögernd auf
und geht zur Tür, während ich noch eine Notiz mache. Plötzlich dreht sie sich um: "Herr Doktor, noch eine
kurze Frage..." Sie bricht abrupt ab und bleibt verlegen an der Tür stehen. "Ja?" frage ich und weise auf
ihren Sessel. Sie setzt sich vorn auf die Kante, fingert verlegen an ihrer Handtasche und blickt nach unten.
"Ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll." - "Lehnen Sie sich doch erstmal zurück, entspannen Sie sich und
versuchen Sie, einfach zu sagen, was Sie beschäftigt. Ich werde Sie sicher verstehen." Sie setzt sich richtig in
den Sessel, atmet tief durch. Ich sehe, wie Sie ihren ganzen Mut zusammennehmen muß. "Also in der letzten
Zeit... In unserer Ehe klappt es nicht mehr so richtig."

So oder ähnlich beginnen viele Gespräche über sexuelle Probleme in meiner Sprechstunde. Die Patientin sieht das
schon richtig: Als Frauenarzt sollte ich auch über intime sexuelle Dinge beraten können. Aber sie traut sich doch
nicht so recht, "mit der Sprache herauszukommen". Obwohl sie während der sogenannten "sexuellen Revolution"
aufgewachsen ist, hat sie große Hemmungen, offen zu sprechen, wenn es um ihre persönliche Sexualität und
Intimität geht. Und noch dazu mit einem fremden Mann! Sie meint, ein außerordentliches Problem zu haben, aber
ihre Scham hindert sie daran, mich zu fragen. Wer weiß, wie oft sie das schon versucht und im letzten Moment
doch nicht den Mut dazu aufgebracht hat. Was sie nicht weiß, ist, daß ihr Problem wahrscheinlich gar nicht so
außergewöhnlich ist, sondern vielen Ehepaaren, die einige Erfahrung haben, bekannt ist. Ihre Scham, so
verständlich sie auch sein mag, ist völlig fehl am Platz.

In meiner Praxis als Frauenarzt und Sexualtherapeut habe ich festgestellt, daß die meisten Probleme, die mir
geschildert werden, nahezu allen erfahrenen Ehepaaren mehr oder weniger vertraut sind. Als Beispiel sei der
Problemkreis einer verschieden stark ausgeprägten Libido bei den Partnern genannt: Es ist höchst selten, daß beide
Partner gleich oft Lust verspüren, miteinander Verkehr zu haben. Häufig ist es der Mann, der öfter möchte und
daher das Ziel, zum Koitus zu kommen, direkter ansteuert. Das kann dazu führen, daß er wiederholt "einen Korb
bekommt". Im Laufe der Zeit verursacht das Streß und möglicherweise bei ihm das Gefühl, seine Frau nicht richtig
befriedigen zu können, also zu versagen oder für sie nicht recht attraktiv zu sein. Sie wiederum fühlt sich
zunehmend von ihm bedrängt und interpretiert jede Zärtlichkeit als einen Versuch, mit ihr schlafen zu wollen und
wehrt sie deshalb ab. Oder sie vermeidet sie, obwohl sie Verlangen nach seinen Zärtlichkeiten hat. Er fragt:
"Warum hast du keine Lust, mit mir zu schlafen? Ist es nicht schön für dich?" Sie sagt: "Doch, schön ist es wohl,
aber immer, wenn du mich anfaßt, willst du mit mir schlafen, und unter diesem Druck vergeht mir von vornherein
die Lust."

Der daraus entstehende Konflikt kann im Lauf der Jahre dazu führen, daß beide Partner den Koitus nicht mehr frei
und gelöst genießen können, sondern sich unter Druck gesetzt fühlen, was innerhalb der Ehe neue Probleme
herbeiführen kann. Häufig wird Müdigkeit vorgeschoben, oder einer der Partner engagiert sich beruflich oder
ehrenamtlich derart, daß er der Begegnung mit diesem Problem entkommt. Manche Paare begeben sich ständig in
Gesellschaft, um so der Zweisamkeit zu entfliehen und die Konfrontation miteinander und mit den Schwierigkeiten
zu vermeiden.

Ehepaare werden diesen Konflikt nachempfinden können. Die einen lernen, im gegenseitigen Verständnis positiv
damit umzugehen, die anderen entwickeln ein Fehlverhalten, das sich allmählich fixiert und den Konflikt
verschärft. Die Ursache des Problems in einem solchen Fall ist also ein "alltäglicher" Konflikt, der von dem Paar -
meist aus Unwissenheit oder falscher Scham - mit unangemessenen Verhaltensmustern beantwortet wurde. Ziel der
Therapie ist, daß beide Partner erstens die Ursache des Problems, die an sich nicht zu beseitigen ist, als solche
erkennen und somit Schuldgefühle und -zuweisungen abbauen können und zweitens Verhaltensmuster entwickeln,
die trotz des Problems wieder zu einem freudigen, gelösten und befriedigenden Sexualleben führen. Dazu eignet
sich besonders gut eine Verhaltenstherapie in Form einer Paartherapie. Ich führe das Sensualitätstraining durch,
das auf die Erkenntnisse der beiden amerikanischen Sexualwissenschaftler Masters und Johnson zurückgeht.

Es wird dabei vorausgesetzt, daß beide Partner sich wirklich lieben und eine Besserung der gegenseitigen
Beziehung wollen, kein tiefgreifender Partnerschaftskonflikt besteht oder psychische Störungen vorliegen, die die
Sexualstörung bei einem oder gar beiden Partnern bedingen. Beide müssen bereit sein, das Problem gemeinsam
lösen zu wollen, ohne die Schuld einseitig sich selbst oder dem anderen zu geben. Die zu behandelnde
Sexualstörung muß den Charakter einer Verhaltensstörung haben. Somatische Ursachen für eine "sexuelle
Dysfunktion" sind vor Beginn des Sensualitätstrainings auszuschließen. Ob sich ein Paar mit seinem Konflikt für
diese Art der Therapie eignet, ist vorab durch den Therapeuten festzustellen. Manchmal stellt sich aber erst
während einer Behandlung heraus, daß die Voraussetzungen doch nicht gegeben sind. Dann ist Verhaltenstherapie
sinnlos und muß abgebrochen und ggf. durch eine angemessene Maßnahme (z. B. Psychotherapie, Eheberatung
etc.) ersetzt werden. Tatsächlich liegen der Mehrzahl der Sexualstörungen in intakten Ehen keine schweren
psychischen Konflikte zugrunde; sehr wohl können sie aber zur Ursache von ernsten Beziehungsstörungen des
Paares werden oder zu psychosomatischen Erkrankungen eines Partners führen.

Die geschlechtliche Begegnung in der Ehe, die die Bibel das gegenseitige "Erkennen" der Partner nennt, soll dazu
beitragen, die köperliche und seelische Vereinigung weiter zu festigen. Gott schuf den Menschen zu Seinem Bilde
"als Mann und Frau". Nicht nur Freude und Glück können durch den Koitus vermehrt, sondern auch Streß,
Angst, Verzweiflung oder Not im gegenseitigen "Erkennen" gemildert oder gar beseitigt werden. Dem "Sich-
Finden" entspringen Friede, Sicherheit und Geborgenheit, so daß gemeinsame Probleme wieder besser anzugehen
sind. So wird es in einer intakten Ehe oftmals der Fall sein. Wenn Sexualstörungen bestehen, kann aber genau das
Gegenteil eintreten.

Die Ursachen für die Entstehung von isolierten Sexualstörungen liegen sehr oft in mangelndem Wissen sowohl
über sexuelle Funktionen als solche als auch über den Partner oder die Partnerin in seiner bzw. ihrer Persönlichkeit,
gepaart mit der Scham, sich mit eigenen intimen Vorstellungen, Wünschen und Phantasien zu offenbaren. Es ist
schwierig, gute Informationen über Sexualität zu bekommen. Noch viel schwieriger sieht es mit solchen
Informationen über die eigene Frau oder den eigenen Mann aus. Schließlich will ich nicht eine Frau oder einen
Mann, sondern meine Frau bzw. meinen Mann erkennen. Deshalb liegt ein großer Teil der Aufgabe der
Sexualtherapie darin, hilfreiche Informationen über Sexualität im allgemeinen zu vermitteln; außerdem die Partner
zu befähigen, sich einander immer mehr zu öffnen, damit sie sich, auch und gerade im Hinblick auf ihre Sexualität,
zunehmend besser kennenlernen. Dazu bedarf es oftmals neben Einfühlungsvermögen und Bereitschaft zum
Zuhören einer sehr deutlichen Sprache, die ebenfalls in der Therapie erlernt werden soll. Aber selbst wenn diese
Kommunikation gut gelingt, wird die eigene Frau oder der eigene Mann immer ein wenig fremd bleiben. Positiv
ausgedrückt: es wird immer noch etwas an ihr oder an ihm zu entdecken bleiben.

Zu den Störungen, die mit dem Sensualitätstraining (sensate focus) behandelt werden können, gehören beim Mann
der vorzeitige Samenerguß (Ejaculatio praecox), nicht somatisch bedingte Erektionsstörungen (Impotentia coeundi)
und der verzögerte oder ausbleibende Samenerguß (Ejaculatio retarda); bei der Frau die generelle sexuelle
Erregungsstörung und die unzureichende Fähigkeit, einen Orgasmus zu bekommen (Anorgasmie). Weiterhin bei
beiden Geschlechtern Störungen des sexuellen Verlangens (Libidostörungen). Hinter dieser Aufzählung verbirgt
sich eine große Zahl von "Unterpunkten" wie z.B. Schmerzen beim Geschlechtsverkehr (Dyspareunie).

Im allgemeinen trägt derjenige Partner, der sich für die vorliegende Sexualstörung verantwortlich fühlt, das
Problem dem Therapeuten zunächst vor; in meiner Praxis naturgemäß überwiegend die Frau. Wenn nach diesem
Gespräch eine Sexualtherapie in Frage kommt, wird das Paar zu einem Vorgespräch eingeladen, in dem
entschieden wird, ob die Therapie durchgeführt werden soll. Ist das der Falll, nehme ich von jedem Partner einzeln
eine ausführliche Sexualanamnese auf. Zeigt sich danach, daß eine Therapie Aussicht auf Erfolg verspricht, wird
der Behandlungsvertrag geschlossen, in dem die voraussichtliche Dauer (Anzahl der Sitzungen) und das
Therapieziel formuliert werden. Das Paar wird über den Verlauf und die Art der Therapie informiert.
Das sich daran anschließende Sensualitätstraining ist ein Einüben und Neuerlernen der Fähigkeit, Liebkosungen
zu geben und zu empfangen, wobei der Gebrauch aller Sinne trainiert werden soll. Es ist keine spezifische
Vorbereitung zum Koitus und nicht auf ein Ziel hin ausgerichtet, sondern sein Ziel liegt im Training selbst.

Auf diese Weise wird Leistungsangst gemindert. Es reicht nicht aus, das Paar aufzufordern, es sich gemütlich zu
machen, einander zu streicheln und anschließend darüber zu berichten, denn gerade dazu sind beide nicht in der
Lage. Die Fähigkeit, "es sich schön zu machen" und ohne ein bestimmtes Ziel physisch und psychisch zärtlich
miteinander umzugehen, muß neu gelernt werden. Um die eingefahrenen Verhaltensweisen, die die
zugrundeliegende Störung bedingen, zu durchbrechen, ist es notwendig, sexuelle Aktivitäten zunächst auf

diejenigen zu beschränken, die der Therapeut dem Paar je nach Verlauf der Therapie vorgibt. Auf jeden Fall muß
das Paar in der ersten Zeit völlig auf den Koitus verzichten.
Der Therapeut gibt gezielte Anweisungen, etwa wie folgt:
"Nehmen Sie sich ein bis zwei Stunden Zeit, in denen Sie ungestört zu Hause allein sind. Sorgen Sie dafür,
daß es gemütlich und warm ist. Ziehen Sie sich aus, und wenn Sie wollen, baden Sie zusammen. Legen Sie
sich dicht aneinander und umarmen Sie sich, so daß der Rücken des einen an Brust und Bauch des anderen
ruht. Atmen Sie ein paarmal tief durch und versuchen Sie, die Atembewegungen gegenseitig zu spüren.
Haben Sie das eine Zeitlang getan, tauschen Sie die Rollen. Nehmen Sie sich Zeit. Es soll Ihnen beiden zur
Freude sein. Spüren Sie bewußt den eigenen Körper und den des Partners.

Danach legt sich einer von Ihnen, wir nehmen an, es ist die Frau, auf den Bauch, so daß sie es sehr behaglich hat." Zum Mann: "Sie liebkosen jetzt ihre Frau ganz zart. Vielleicht beginnen Sie im Nacken. Streicheln Sie den Nacken und die
Schultern und spielen Sie mit ihren Ohren, wenn sie es mag. Tun Sie das, was Sie selbst gerne hätten und
beobachten Sie, ob es ihr gefällt. Gehen Sie sanft den Rücken hinunter, mit den Fingerspitzen, den
Handflächen oder dem Mund. Lassen Sie sich Zeit. Machen Sie es, solange es Ihnen Spaß macht." Zur
Frau: "Erleben Sie seine Zärtlichkeiten. Sie dürfen ganz passiv sein. Sagen Sie ihm oder zeigen Sie ihm,
was Sie besonders gern und was Sie nicht so gern mögen. Sagen Sie es freundlich und positiv: Nicht: ,Laß
das!’, sondern: ,Es ist schöner, wenn Du es fester (oder zärtlicher) machst.’ Loben Sie ihn, wenn er es gut
macht. Genießen Sie! Später ist er dran." Zu beiden: "Legen Sie sich wieder auf die Seite und atmen Sie
zusammen tief ein und aus, während Sie sich entspannen und Ihre warmen Körper fühlen. Danach legt sich
die Frau auf den Rücken."

Zum Mann: "Streicheln Sie zuerst sehr zart ihr Gesicht, ihre Lippen und ihre
Schläfen, liebkosen Sie ihre Arme und Hände, gehen Sie weiter am Körper und an den Beinen herab,
streicheln Sie ihre Füße, ohne sie zu kitzeln. Sorgen Sie dafür, daß sie sich geborgen fühlt. Ihre Brüste und
Geschlechtsorgane sollen jetzt noch nicht einbezogen werden. Konzentrieren Sie sich darauf, wie ihr
Körper und ihre Haut sich anfühlen, und achten Sie darauf, was ihr besonders gut gefällt."
Danach werden wieder die Atemübungen durchgeführt, und die Rollen werden getauscht. Die Frau soll seine
Geschlechtsorgane nicht streicheln, auch nicht, wenn er eine Erektion bekommt. Keinesfalls soll ein Koitus
versucht werden.

In der nächsten Sitzung werden die Erfahrungen, die das Paar gemacht hat, detailliert besprochen und das weitere
Vorgehen festgelegt. Häufig kommt es dabei zu Widerständen, die überwunden werden müssen, deren
Aufarbeitung jedoch wertvolle Aufschlüsse über den Fortgang der Therapie geben kann. In diesen Gesprächen
werden oft Ängste offenbar, die bearbeitet werden können. Manche neue Anregungen können vom Therapeuten
kommen. Das Gespräch zu dritt, beziehungsweise in Anwesenheit eines Dritten, der moderierend eingreifen kann,
sprengt die intime Enge der Zweisamkeit; so lassen sich Dinge formulieren und konkretisieren. Der Therapeut hat
genügend Abstand, um Tabuthemen anzusprechen, mit denen sich die Partner gegenseitig zu verletzen meinen.
"Festgefahrenen" Gesprächen kann er neue Aspekte geben. Je nach Fortschritt des Paares, schließen sich weitere
Übungen an.

Es ist dabei der Phantasie des Paares und des Therapeuten überlassen, welche Art von Übungen
vorgenommen wird. Manche Paare umsorgen sich dabei gern, waschen sich gegenseitig die Haare, maniküren sich
die Nägel oder ähnliches. Später werden die Übungen unter Berücksichtigung der zugrunde liegenden Störung
behutsam auf mehr sexuell erregende Praktiken ausgeweitet, wobei aber nicht der Koitus das Ziel ist, sondern die
ausgeübten Zärtlichkeiten ihren Wert in sich selbst tragen. Die Wirkung des Sensualitätstrainings besteht darin, daß
der Koitus in einen Zusammenhang mit anderen "alltäglichen" Zärtlichkeiten gestellt wird, aus dem er sich nicht
isolieren läßt. Diese Übungen eignen sich nicht nur als Therapie einer Sexualstörung, sondern können auch allen
Ehepaaren viel Freude bereiten und deren "Sinnlichkeitshorizont" erweitern.

Insgesamt werden sechs bis acht Sitzungen möglichst wöchentlich durchgeführt, zu denen das Paar gemeinsam
erscheint. Während dieser Zeit muß es wöchentlich mindestens zwei-, besser dreimal ein bis zwei Stunden Zeit
haben, um die vorgeschlagenen Körperübungen miteinander zu praktizieren. Das Sensualitätstraining wird der Art
der Störung und den individuellen Erfordernissen angepaßt. Bei Anorgasmie der Frau z. B. kann es erforderlich
sein, auch Einzelübungen vor oder während der Therapie zum Körperbewußtsein und zur körperlichen
Selbsterfahrung durchzuführen.
Der Erfolg dieser Behandlungsmethode ist recht hoch unter der Voraussetzung, daß die Paare von vornherein so
ausgewählt werden, daß die Therapie für sie und ihre Störung geeignet ist, was für die meisten zutreffen dürfte.

Die zunehmende Erfahrung in der Praxis zeigt, daß eine hohe Anzahl sexueller Probleme zwischen Ehepartnern mit
wesentlich bescheideneren Mitteln angegangen werden kann.
Es gibt in der Sexualtherapie keine Patentrezepte, aber ich habe festgestellt, daß sich bestimmte Probleme in vielen
Ehen nahezu gesetzmäßig wiederholen. Meistens geht es dabei - wie bereits ausgeführt - um Störungen der Libido
bzw. verschieden stark ausgeprägte Libido der Partner. Diese Störungen manifestieren sich häufig nach einigen
Ehejahren (ich nenne sie dann die "Sieben-Jahres-Krise") oder nach der Geburt eines (meistens des zweiten)
Kindes. Oft klagt die Ehefrau darüber, keine Lust oder zu selten Lust zum Koitus zu haben, obwohl sie ihn schön
und befriedigend empfindet. Bei diesem weit verbreiteten Problem spielen fast immer zwei Faktoren eine
wesentliche Rolle: erstens mangelnde Zweisamkeit und zweitens Verständnismangel für den Partner, gekoppelt mit
der Unfähigkeit zur angemessenen Kommunikation.

Die Frau, die ja meistens primär die Kinder versorgt, ist durch ein (weiteres) Kind in der Familie körperlich und
emotional ganz anders in Anspruch genommen als vorher. Der Mann ist davon in der Regel weniger stark
betroffen. Während sie sich früher schon tagsüber auf den gemeinsamen Feierabend freute, hat sie heute dafür kein
"Emotionspotential" mehr frei. Diese "Vorfreude" ist aber eine wichtige Voraussetzung, um "Lust" zu entwickeln.
Fehlt sie, dann überwiegt das Gefühl der "Feierabendmüdigkeit". Dem Mann geht es nach einem anstrengenden
Arbeitstag nicht viel anders. So sucht man nach - hoffentlich gemeinsamer - Erledigung der Aufgaben, die eine
Familie mit sich bringt, nach Ruhe und Entspannung. Meistens, so zeigt die Erfahrung, wird dann der Liebestöter
Nummer eins, der Fernseher, eingeschaltet. Bestenfalls kommt es beim späten Ins-Bett-Gehen noch zu einem
schwachen Versuch, durch Zärtlichkeiten die verlorene Chance auf Zweisamkeit nachzuholen, was nicht selten zur
Verwunderung des Mannes erfolglos endet.

Er versteht nicht, und damit komme ich zum zweiten Faktor, warum sie keine Lust hat, obwohl sie ihm immer
wieder versichert, daß sie gern mit ihm schläft. Eine derartige Situation, die ich hier bewußt etwas pointiert
dargestellt habe, wird oft von beiden Partnern als ausweglos empfunden und kann Ursache für mannigfaltige
Partnerkonflikte und Sexualstörungen sein.

Es ist eine Binsenweisheit, daß ein gewisses Quantum an Zweisamkeit für das sexuelle Miteinander in der Ehe auf
die Dauer unabdingbar ist. Unter Zweisamkeit verstehe ich in diesem Zusammenhang die ungestörte
Kommunikation zwischen den Partnern: Man kann reden, sich streiten (und wieder versöhnen), sich etwas
vorlesen, schmusen, vielleicht auch einmal zusammen essen oder ins Kino gehen, miteinander spielen. Wichtig ist
nur, daß man aufeinander bezogen ist und sich nicht voneinander ablenkt. Ich empfehle daher allen Paaren mit
Sexualproblemen (und allen anderen auch) die Einführung eines sogenannten "Ehe-Abends", mindestens einmal
pro Woche. An diesem Abend, der einen festen Platz im Wochenablauf haben sollte, werden das Telefon und die
Klingel abgestellt, die Kinder gehen früh ins Bett (ältere Kinder werden aufgefordert, sich zurückzuziehen und
nicht zu stören). Der Fernseher darf auf keinen Fall angeschaltet werden, denn das Paar muß sich in dieser Zeit
ganz allein gehören. Freunde und Verwandte werden informiert, daß es an diesem Wochentag abends keine Zeit
hat. Weiterhin sollten beide Partner gelernt haben, daß Zärtlichkeit ihren Wert in sich trägt und nicht zwangsläufig
mit dem Koitus enden muß. Das führt dazu, daß sich derjenige Partner, der seltener Lust zum Koitus hat, nicht
bedrängt fühlt und Zärtlichkeiten genießen kann, ohne sich dem Druck ausgesetzt zu sehen, diesen Genuß mit
einem Koitus gewissermaßen "ausgleichen" zu müssen.

Die Einrichtung eines solchen Ehe-Abends kann in manchen Fällen Wunder wirken. Seine Einführung bedarf nur
minimaler Beratung und hat schon manche Sexualtherapie in meiner Praxis überflüssig werden lassen.
Diese Erfahrungen machen mir Mut, seelsorgerlich interessierten Laien zu empfehlen, sich auf diesem Gebiet
fortzubilden. Es herrscht großer Mangel an geeigneten Sexualtherapeuten, und andernorts ist auf diesem Gebiet
schlecht Rat zu bekommen, zumal Ärzte nur sehr selten sexualtherapeutisch fortgebildet sind. Bei entsprechender
Qualifikation könnte ein Laien-Seelsorger hier gute Arbeit leisten. Wir werden deshalb im Weißen Kreuz bereits in
diesem Jahr ein Seminar für Sexualberatung in der Seelsorge anbieten und damit einen ersten Impuls geben.


Der Autor, Peter Sennholz, verh., 4 Kinder, ist Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Hessisch
Lichtenau. Er ist 2. Vorsitzender und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Weißen Kreuzes.

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