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"Einmal Mörder, immer Mörder"?


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Rolf

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Der Spiegel, 24. Juli 2006



KIRCHE KIRCHE



"Einmal Mörder, immer Mörder"


Von Bruno Schrep

Obwohl er als junger Mann einen Menschen tötete, wurde ein evangelischer Theologe von der Nordelbischen Kirche als Seelsorger eingestellt. Die Kirchenoberen halten trotz massiver Kritik an dem reuigen Sünder fest.


Der Besucher, der den evangelischen Seelsorger Bernhard D. spätabends mit Fragen bedrängt, wirkt aufgewühlt und verzweifelt. Er läuft unruhig im Zimmer auf und ab, lehnt den angebotenen Stuhl ab, schwitzt. Kniet plötzlich nieder, springt wieder auf.

"Herr Pastor, vergibt Gott alle Sünden?"

"Er hat sie vergeben, bevor wir sie begangen haben."

"Auch wenn es sich um die Tötung eines Menschen handelt?"

"Auch dann."

"Wieso sind Sie sich da so sicher?"

"Ich weiß es einfach."


Helmut Schwarzbach / argus

Theologe Bernhard D.: Wie glaubwürdig kann ein Seelsorger sein, der gegen das fünfte Gebot verstoßen hat?
Was der Geistliche nicht sagt: Er selbst muss an Vergebung glauben, um mit seiner Vergangenheit fertig zu werden. Seelsorger D. hat als junger Mann einen Menschen getötet. Aus Habgier. Ein Gericht verurteilte ihn wegen Mordes zu lebenslanger Haft.

Noch als Gefangener hat er Theologie studiert, acht Semester bis zum Abschluss. Seit Jahren kümmert er sich in der norddeutschen Provinz um Alte und Gebrechliche, redet in Heimen mit Drogensüchtigen und Kranken, tauft, traut, beerdigt. Predigt täglich bei Gottesdiensten.

Ein unauffälliger, stiller Mann, der nachdenkt, bevor er spricht. Der nie verurteilt, selten wertet, oft nur schweigend zuhört. Ein Mann, der gerufen wird, wenn Patienten von Ängsten geschüttelt werden, wenn Straffällige beichten wollen, wenn ein Kranker stirbt.

Für seinen Arbeitgeber, die evangelische Kirche, ist dieser Mann jetzt zum Problemfall geworden - der Seelsorger, der ein Mörder war.

Mensch und Institution sind von der Vergangenheit eingeholt worden: Aus Zorn über Erbstreitigkeiten machte ein Bruder des Geistlichen den Fall, der jahrzehntelang ein Geheimnis war, öffentlich. "Muss man bei euch erst jemand umbringen, um Alte und Kranke betreuen zu dürfen?", schrieb er an die zuständige Landeskirche.

Prompt ist innerhalb und außerhalb der Kirche eine Diskussion über den Umgang mit der heiklen Personalie entbrannt. Einerseits: Wie glaubwürdig kann ein Seelsorger Nächstenliebe predigen und Gottes Segen erteilen, der selbst gegen das fünfte Gebot verstoßen hat? Andererseits: Hat nicht auch Saulus Blut vergossen, bevor er zum Paulus wurde? Und ist nicht die Vergebung von Schuld für Christen ganz oben angesiedelt, höher als fast alles andere?

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Bernhard D. ist 21 Jahre alt, als er eine Kontaktanzeige aufgibt: "Junger Mann sucht wegen fehlender Gelegenheit auf diesem Wege nettes Mädel kennen zu lernen."

Mit 17 Jahren ist er von zu Hause ausgezogen, hat bereits eine gescheiterte Beziehung hinter sich, sucht. Was, weiß er selbst nicht so genau. Eine Frau fürs Leben? Bestätigung? Einfach Spaß?

Bankkaufmann hat er gelernt, leitet trotz seiner Jugend schon eine kleine Außenstelle. Aber er will höher hinaus, viel höher. Will dem Vater imponieren, der

ihn und seine beiden Brüder regelmäßig verprügelt und gedemütigt hat. Will selbst wichtig und mächtig werden, und zwar ganz schnell. Aber wie?

Die 18-Jährige, die sich auf die Annonce meldet, möchte weg, weit weg. Raus aus dem winzigen Hunsrückdorf, in dem sie seit ihrer Geburt lebt, wo sie jeden, wirklich jeden, kennt. Wo das Mädchen, wenn zu Hause Schlachtfest ist, mit einem Schweineschwanz durch die Hauptstraße laufen muss.

Nach Plänen des Vaters, des reichsten Bauern im Dorf, soll die behütete einzige Tochter den Hof übernehmen, sich später um die 20 Hektar Ackerland und den großen Viehbestand kümmern.

Doch Helga K., brünett, schlank, offen und fröhlich, hat die Landluft satt und die Landwirtschaftsschule auch, die Strenge des Vaters, der wenig erlaubt, sowieso. Sie träumt vom aufregenden Leben in der Großstadt, weiter als bis Koblenz ist sie nur einmal gekommen.

Bernhard D., modische Langhaarfrisur, Goldrandbrille, forsches Auftreten, erscheint ihr wie ein Märchenprinz, der gekommen ist, um sie aus ihrer engen kleinen Welt zu befreien.

Das Mädchen, unerfahren, neugierig, lebenshungrig, glaubt nur zu gern seinen Beteuerungen, seinen Versprechungen von einer glücklichen Zukunft. Dabei verfolgt Bernhard D. längst einen diabolischen Plan.

Obwohl er nicht in sie verliebt ist, macht er Helga K. nach kurzer Bekanntschaft einen Heiratsantrag. Weil die Eltern des Mädchens strikt dagegen sind, überredet er die 18-Jährige, heimlich ihre Sachen zu packen.

An einem Freitagmorgen kreuzt er mit nagelneuem rotem Sportwagen, den er mit einer Bürgschaft des Bruders erschwindelt hat, bei der Kartoffelernte im Hunsrück auf. "Ich hol die Helga nur zu einer Probefahrt ab", flunkert er. "Aber höchstens eine Viertelstunde", mahnt der Vater. Die Eltern sehen ihr einziges Kind nie wieder.

Ziel ist Edinburgh in Schottland, wo Minderjährige ohne die Zustimmung der Eltern heiraten können - volljährig war man damals in Deutschland erst mit 21 Jahren. In Paris verkauft Bernhard D. den Sportwagen, mit dem Erlös kauft er unter anderem Flugtickets. Er hat alle Brücken hinter sich verbrannt: den Job geschmissen, seine Wohnung aufgegeben, sich von niemandem verabschiedet. Was anfangs eine fixe Idee schien, hat sich immer tiefer in sein Bewusstsein gegraben: Er will mit einem Schlag alle Sorgen loswerden. Und dazu, so sein Entschluss, muss Helga K. sterben.

Die 18-Jährige, glücklich und vom unerwarteten Abenteuer begeistert, ahnt nichts. Sie wird auch nicht misstrauisch, als Bernhard D. wenige Tage vor der Trauung eine Lebensversicherung abschließt, bei der, wenn einer der Partner stirbt, rund 450.000 Pfund (umgerechnet dreieinhalb Millionen Mark) fällig werden.

Am Hochzeitsabend, es ist der 13. Oktober 1972, führt Bernhard D. seine Ehefrau auf den Salisbury-Felsen, eine der höchsten Erhebungen in Edinburghs Holyrood Park. Oben auf der Klippe ist es stockdunkel und einsam, die 18-Jährige bekommt Angst. "Irgendetwas stimmt hier nicht", flüstert sie, fleht ihren Ehemann an: "Bitte, bitte, lass uns umkehren." Doch es ist zu spät.

Bernhard D. täuscht ein Stolpern vor, packt seine junge Frau an der Hüfte, als wolle er sich festhalten, stößt sie in die Tiefe. Sie fällt wie ein Stein, ist sofort tot.

"Zuvor habe ich ihr noch von Liebe erzählt", berichtet Bernhard D. Jahre später, "von Kindern, von einer gemeinsamen Zukunft. Sie sollte nicht mitkriegen, dass ich sie töte."

Einen Tag nach dem Mord ruft Bernhard D. Helgas Vater an. "Wir haben geheiratet, eigentlich können wir uns jetzt duzen." "Wo ist Helga?" "Die Helga ist im Himmel."

Bernhard D.s Version, der Sturz von der Klippe sei ein Unfall gewesen, hält nur ganz kurz. Als die schottische Polizei vom Abschluss der Lebensversicherung erfährt, wird der Deutsche festgenommen. Ein Gericht in Edinburgh, der High Court of Justiciary, verurteilt ihn nach dreiwöchigem Prozess wegen Mordes.

Erst im Knast, sagt Bernhard D. heute, sei ihm klar geworden, was er angerichtet habe. Er träumt von der Tat. Sieht das Mädchen fallen, wieder und wieder. Peinigt sich mit Selbstvorwürfen, beschimpft sich als "Stück Dreck", als "nutzloses Nichts", wälzt sich heulend und mit Fäusten hämmernd auf dem Zellenboden. Und beginnt, in der Bibel zu lesen.

Die Lektüre, die er früher verabscheut hat, fasziniert ihn plötzlich. Manche Kapitel liest er ein Dutzend Mal und mehr, bald kann er viele Stellen auswendig. Er glaubt jetzt fest, Gott habe ihm verziehen und bestimme sein künftiges Dasein. Vor lauter Glück über seine Bekehrung erlebt er Momente religiöser Ekstase.

Der Gefangene singt, pfeift und lacht in seiner Zelle, steigert sich in einen Gefühlsrausch. Ruft "Herr, ich liebe dich" und "Mein Leben gehört ganz dir" - eine Form fast hysterischer Selbsttherapie, die ihm hilft, bohrende Schuldgefühle abzuwehren und zu überwinden.

Nach einigen Tagen wird Bernhard D. wieder ruhig. Auf seine Umgebung wirkt er wie ein anderer.

Im schottischen Gefängnis, wo der "womankiller" aus Germany anfangs als "Nazi-Schwein" geschmäht und wegen seiner Widerspenstigkeit drangsaliert wird, stößt die neue Frömmigkeit des Gefangenen Nr. 3629/72 zunächst auf Spott und Ablehnung. Bald aber wandelt sich Häme in Respekt.

Selbst gefürchtete Rabauken, die mit Gewalt, Drogenhandel und sexuellem Missbrauch den Knastalltag beherrschen, suchen Rat bei diesem komischen Heiligen, der so geduldig zuhören kann und offenbar für alle menschlichen Verir-rungen Verständnis aufbringt. Und der, wenn die anderen Karten spielen oder fernsehen, stets über seinen Büchern brütet.
Weiter zu Teil zwei: Streit um einen verlorenen Sohn


"Einmal Mörder, immer Mörder" (2)



Als Bernhard D. nach 16 Jahren entlassen wird, hat er nicht nur Maler und Dekorateur gelernt, sondern auch, als Freigänger, ein komplettes Theologiestudium absolviert. Die University of Edinburgh verleiht dem verurteilten Mörder die "Licentiate of Theology", die akademische Voraussetzung für den Pfarrerberuf - ein wohl einmaliger Fall. Professoren raten dem Theologen, der hinter Gittern auch Griechisch und Hebräisch gelernt hat, dringend zur Promotion.

Doch Bernhard D., inzwischen 37 Jahre alt, zieht es zurück nach Deutschland, in das Land, das er einst zusammen mit der jungen Helga K. verlassen hat. Er will seine Mutter wiedersehen, die ihn ein paar Mal im Knast besucht hat. Und er will allen beweisen, den Brüdern, den Bekannten von früher, dass er ein anderer, geläuterter Mensch geworden ist. Dazu braucht er Praxis.

In Hannover, der Zentrale der Evangelischen Kirche in Deutschland, löst die Bewerbung des reuigen Sünders keine Freude aus. Ein verurteilter Mörder, glauben die Verantwortlichen, sei keiner Gemeinde als Pfarrer zuzumuten. Andererseits will niemand diesem verlorenen Sohn die Tür weisen.

Bernhard D. wird zunächst als Leiter eines Jugendheims in Niedersachsen eingesetzt, kurz darauf, nach einer Zusatzausbildung, als Betreuer von Behinderten. Mit denen startet er zu Wanderungen, organisiert Grillabende, hilft bei Behördengängen. Niemand dort weiß von seiner Vergangenheit.

Die wird erst wieder Thema, als sich der Theologe 1999 bei einer großen evangelischen Einrichtung als Seelsorger bewirbt. Bevor er in Altenheimen und Krankenhäusern arbeiten kann, eine Sondergenehmigung zum Taufen, Trauen und Beerdigen erhält, wird er zum obersten Dienstherrn zitiert, dem zuständigen Bischof.

"Trauen Sie sich das zu?", fragt der Kirchenführer, nachdem er Bernhard D.s Lebensgeschichte gehört hat. "Ja, mit Gottes Hilfe". "Dann, Bruder, wünsche ich Ihnen viel Glück."

Für die Entscheidung des Bischofs mit maßgebend: Bernhard D. hat nach seiner Haftentlassung geheiratet, ist Vater von mehreren Kindern, wohnt mit der Familie in einer großen Wohnung, führt eine durch und durch bürgerliche Existenz. Mehr Resozialisation geht nicht.

Gegenüber der Ehefrau, die er im Kirchenchor kennengelernt hat, beichtete er schon nach kurzer Bekanntschaft: "Ich habe im Gefängnis gesessen." "Ja?" "Für längere Zeit." "Na, und?" "Was ich meine: 16 Jahre." "Dann hast du viel hinter dir."

Auch die Einzelheiten des Verbrechens bringen die Frau nicht davon ab, mit dem Gattenmörder von einst einen Neuanfang zu wagen. "Ich sehe dich so, wie du heute bist", erklärt sie.

Für die Eltern der getöteten Helga K. ist kein neuer Anfang möglich. Das gewaltsame Ende der einzigen Tochter hat auch ihr Leben zerstört. Jahre nach dem Verlust, es ist kurz vor Weihnachten, kommen Verwandte zu Besuch. "Warum habt ihr keinen Baum?", fragt der Schwager. Antwort des Vaters: "Für uns gibt es keine Weihnachten mehr. Nie mehr."

Der Landwirt holt nach der Tat den Sarg mit seinem toten Kind aus Schottland, lässt die Tochter auf dem Friedhof des heimatlichen Dorfes beerdigen. Auf dem Grabstein steht Helgas Mädchenname, nicht - wie es eigentlich Vorschrift wäre - der Familienname des angeheirateten Mörders.

Mit Hilfe eines Kripobeamten verfolgt der Vater den Werdegang des Täters. Er weiß von dessen Bekehrung im Gefängnis, kriegt mit, dass sein größter Feind in Deutschland zum Kirchenmann avanciert.

"Wenn der predigt, stehe ich auf und schreie die Wahrheit heraus", schwört der Vater. "Glaubt dem Heuchler kein Wort,

rufe ich. Der hat meine Tochter umgebracht. Das wird er mir büßen."

Dazu kommt es nicht. Helga K.s Eltern sterben verbittert, der Vater mit 70 Jahren, die Mutter mit 75. Das Unheil jedoch, das der Vater dem Mörder seiner Tochter gewünscht hat, tritt tatsächlich ein, vor allem für die Familie des Seelsorgers - Stoff für ein Drama.

Seit der Fall öffentlich diskutiert wird, hat sich eine schwere Krankheit von Bernhard D.s Ehefrau verschlimmert. Selbst starke Medikamente helfen nicht mehr.

Auch eine Tochter, mitten in der Pubertät, gerät in eine schwere Krise. Bislang nichtsahnend von der Vorgeschichte des Vaters, reagiert sie auf die Enthüllung fassungslos. "Bevor ich einen anderen Menschen töten würde, würde ich mich selbst umbringen", erklärt sie.

Das Mädchen, hochsensibel, versucht, sich vor ein Auto zu werfen, schluckt eine Überdosis Schlaftabletten, wird gerade noch rechtzeitig entdeckt. Sie isst kaum noch, wiegt 38 Kilogramm. Wenn Wut und Verzweiflung sie überkommen, und das passiert häufig, nennt sie ihren Vater einen "verfickten Mörder".

Der muss zudem aushalten, dass verstörte Evangelen gegen seine Beschäftigung protestieren, dass sich im Internet Christen und Nichtchristen über seinen Fall auslassen.

"Einmal Mörder, immer Mörder", erregt sich in einem Saarbrücker Forum ein empörter Surfer, "so jemand ist im Kirchenamt nicht tragbar." "Ich würde ihn sofort entlassen", schreibt ein zweiter, ein dritter zweifelt am Geisteszustand der Kirchenoberen: "Ich find die Kirche immer lächerlicher."

Repräsentanten der Nordelbischen Kirche stehen dagegen fest zu Seelsorger D. Wesentlich dabei: Während 18 Jahren im Kirchendienst, während vieler Jahre Notfallseelsorge, Behindertenarbeit, Liturgie, gab es nicht eine einzige Beschwerde.

"Christlicher Glaube lebt von Vergebung und Neuanfängen", argumentiert deshalb Otto-Uwe Kramer, Propst des Kirchenkreises Oldenburg. Und der Schleswiger Bischof Hans Christian Knuth verteidigt die "sicher problematische Entscheidung" mit der Feststellung: "Wir nehmen die Bibel ernst."

"Jeder hat das Recht auf eine zweite Chance", ergänzt die Hamburger Bischöfin Maria Jepsen. "Wenn ein Mensch sein Fehlverhalten ehrlich bereut, darf ihm seine kriminelle Vergangenheit nicht ewig angelastet werden."

Für die Kirche, so die Bischöfin, gelte auch bei der Einstellungspraxis das Jesus-Wort: "Du sollst siebenmal siebzigmal vergeben."
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