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Ist der christliche Glaube intolerant?


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Rolf

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Ist der christliche Glaube intolerant?



Prof. Dr. Bodo Volkmann

Frühjahrstagung am 10. Mai 2003



Ist der christliche Glaube intolerant?


I. Einleitung

Toleranz ist ein Hauptschlagwort in unserer Gesellschaft, wo auf engstem Raum Menschen miteinander leben, die unterschiedliche religiöse Überzeugungen haben, vielleicht verschiedene moralische Vorstellungen, vielleicht verschiedene politische Meinungen. In einer solchen Situation überall wird die Forderung nach Toleranz erhoben. Darunter verstehen die meisten heutzutage, man möge den anderen in Ruhe lassen; möge jeder - wie damals Friedrich der Große sagte - nach seiner Fasson selig werden.

In dieser Situation sind wir Christen in den Augen vieler ein Störfaktor: Leute, die einen festen Glauben haben und verkünden, die also - wie man uns vorwirft - intolerant sind. Auch in theologischen, in kirchlichen Kreisen wird manchmal die Forderung erhoben nach einer Welt-Einheitsreligion, nach einer Vereinigung aller, die irgendwelche Gottesvorstellungen haben, und natürlich - damit das funktioniert - muss dann jede Gruppe auf ihre Besonderheiten verzichten, auf diese Weise Toleranz in ihrer höchsten Form!

Ich denke an ein großes Ereignis aus dem Jahre 1971. Damals tagte der Zentralrat der Ökumenischen Bewegung in Addis Abeba. Einer der anwesenden Theologen, ein Libanese namens Chodre, hielt einen flammenden Vortrag zu dieser Frage der Toleranz und der Vereinigung der Weltreligionen. Er sagte dem Sinne nach: "Die Frage stellt sich, ob das Christentum so, wie es bisher seine Botschaft verkündigt hat, nicht den Frieden unter den Weltreligionen stört.“ Und dann steigerte er sich in eine emphatische Äußerung hinein: „Christus ist schlafend in allen Weltreligionen verborgen.“ D.h. also im Klartext, alle sollten sich zusammenschließen; denn überall ist irgendwie Christus verborgen. Die Christen sollten aufhören, das zu verkünden, was in Johannes 14 steht: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt anders zum Vater als durch mich!" Es geht also um die Vereinigung der Weltreligionen, um ein Weltethos, in dem alle übereinstimmen, und in diesem Sinne um Toleranz in ihrer höchsten Form.

Wir müssen uns der Frage stellen, ob die Vertreter dieser Position Recht haben. Ist der Glaube der Christen denn wirklich intolerant? Dazu ist es erforderlich, etwas tiefer auf den Begriff der Toleranz einzugehen.

II. Historischer Toleranzbegriff

Bei uns ist der Begriff der Toleranz seit dem 18. Jahrhundert häufig verwendet worden. Er hängt in Mitteleuropa zusammen mit der Bewegung des Humanismus, genauer des Neu-Humanismus, also jener Strömung, zu der Leute wie Goethe und Schiller, vor allem aber Lessing und Herder gehörten. Die meisten von uns werden im Deutschunterricht mit der Lehre des Humanismus konfrontiert worden sein, die allgemeine Toleranz predigt. Der Mensch ist in seinem Kern gut und strebt nach Verwirklichung des edlen Zweckes, zu dem er da ist. Dabei gehört Toleranz, also gegenseitige Duldsamkeit, zu den Tugenden, die man dem Einzelnen anerziehen und bei sich selber entwickeln sollte.

Die meisten von uns sind groß geworden in einer Umgebung, wo humanistische Ideen vielleicht viel stärker vertreten waren als biblisch-christliche. Man muss sich daher die Frage stellen, ob diese humanistischen Vorstellungen mit dem christlichen Glauben übereinstimmen oder sich jedenfalls stark berühren, wie es oft behauptet wurde. Um dies klären zu können, müssen wir uns auf das beiderseitige Menschenbild besinnen.



III. Das humanistische Menschenbild



Es beruht vor allem auf drei Grundüberzeugungen:

1. Der Mensch ist in seinem Kern gut

Wenn Goethe schreibt: "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut; denn das unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen", dann meinten die Humanisten, der Mensch ist im Kern edel, und die Aufgabe der Erziehung, der Bildung, der Religion besteht darin, diesen angeblich vorhandenen edlen Kern in jedem einzelnen zu entfalten. Wenn es in einer Gesellschaft Kriminalität und böses Verhalten gibt, dann ist dies eine Entgleisung, die sich durch Erziehung korrigieren lässt. Die Humanisten waren der Meinung, dass darin in aller Zukunft der Fortschritt der Menschheit bestehen würde, diesen edlen Kern voll zur Geltung zu bringen. Das wahrhaft Menschliche, das wahrhaft Humane ist nach dieser Auffassung zugleich das Gute, das Wahre, das Schöne. An der Universität in Straßburg, die früher ja deutschsprachige und ein Hauptzentrum des Humanismus war, stand noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts am Hauptgebäude in goldenen Buchstaben:

"Dem Wahren, dem Schönen, dem Guten“.

2. Das Gute ist durch die Vernunft erkennbar

Lessing hat ein Buchmanuskript hinterlassen, das erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde, mit dem Titel: „Ein Christentum der Vernunft“. Was er meinte, war eigentlich kein Christentum, sondern eine Religion, in der es keinen übernatürlichen Gott mehr geben sollte, sondern in der der Mensch sich nur noch von seiner Vernunft leiten lässt, weil die Vernunft das Edelste an ihm ist. Wenn man vernünftige Erkenntnis fördert - so meinte Lessing -, wird dadurch eine weitere Veredlung der gesamten Menschheit entstehen.

Die Humanisten haben aus diesem Grunde, weil sie die Menschheit verbessern wollten, viele Schulen eingerichtet, weiterführende Bildungseinrichtungen, Museen, Theater, Konzerthäuser und Bibliotheken. Sie haben also sehr viel getan, um die Bildung in der Bevölkerung zu fördern, weil sie wirklich meinten, dadurch würde sich das Böse in der Gesellschaft eines baldigen Tages endgültig überwinden lassen.

Die Vernunft soll also von sich aus erkennen, was gut ist. Natürlich wussten auch die Humanisten, dass man nicht durch bloßes Fachwissen allein guter, gebildeter Mensch wird (Es könnte ja einer auf einem Spezialgebiet noch so viel wissen und im übrigen ein Banause bleiben). Sie kannten den Unterschied von Sachwissen und Bildungswissen. Sie haben sich daher eingesetzt für solches Wissen, das den Menschen bildet, verändert und veredelt, und dies glaubten sie vor allem in der Wiederbelebung des Geistes Griechenlands zu finden. Daher die so genannten Humanistischen Gymnasien, in denen die griechische Sprache neun Jahre lang unterrichtet wurde und dem Schüler griechische Philosophie und Geschichte nahe gebracht wurde in der Absicht, dadurch sein Denken und seinen Charakter zu veredeln.

3. Der Weg zu Gott führt über das Streben nach Vollkommenheit

Bei den Humanisten ist der Mensch immer aufgefordert worden, sich strebend zu bemühen. Goethe schreibt in seinem Faust: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Auch sonst findet man in den Schriften der Humanisten immer wieder den Appell, der Mensch möge sich Mühe geben und sich anstrengen. Gott ist nach humanistischer Auffassung so eingestellt, dass er, wenn ein Mensch sich ein Leben lang Mühe gegeben hat, ihn anschließend aus Gnaden in dem Himmel einlässt. So wird Goethes Faust nach seinem Tode in den Himmel aufgenommen, obwohl alles ungeordnet war in seinem Leben. Er hatte Gretchen schwanger gemacht und sich dann von ihr zurückgezogen, was sie unter den damaligen gesellschaftlichen Bedingungen zum Selbstmord trieb. Er hat sich mit dem Dämon Mephisto, mit okkulten Praktiken eingelassen, ohne dies jemals endgültig zu bereinigen. Es war also viel Schuld im Leben des Faust. Aber Goethe lässt ihn trotzdem am Ende in den Himmel kommen, weil er sich immer wieder strebend gemüht, also immer wieder neue Vorsätze gefasst hatte, immer wieder die Absicht gehabt hatte, ein besserer Mensch zu werden.

Nach humanistischer Auffassung ist der Weg des Menschen zu Gott ein solcher, bei dem man gewissermaßen eine Leiter durch eigene Anstrengung stufenweise höher zu steigen versucht, soweit man eben kommt. Gerade in Norddeutschland war früher in den Kirchen die humanistische Auffassung sehr stark verbreitet, so dass die Menschen dort vielfach von den Kanzeln dazu ermutigt wurden, sich strebend zu bemühen und anzustrengen, um dadurch näher zu Gott zu kommen. Es wird berichtet, wie einer auf dem Sterbebett lag und der Seelsorger ihn fragte, wie es denn mit seinem Verhältnis zu Gott stand. Der Sterbende antwortete: "Herr Pfarrer, ich habe doch das Eiserne Kreuz Erster Klasse.“ Er dachte: Weil ich mich bemüht habe, als Soldat dem Vaterland zu dienen und dafür sogar ausgezeichnet worden bin, wird doch Gott, wenn ich jetzt sterbe, dies anerkennen. Gott weiß doch, was das Eiserne Kreuz ist; folglich wird er mich doch wohl in den Himmel aufnehmen.

Wenn man humanistisch geprägte Leute - und das gilt auch in Süddeutschland - vor sich hat und jemanden fragt: "Sind Sie Christ?“, dann ist die Antwort oft ganz merkwürdig: "Ich wage nicht, mich als Christ zu bezeichnen. Ich bin zumindest kein so guter Christ." Dahinter steckt also die Vorstellung: Christ sein heißt, ein guter Mensch sein; je besser einer ist in moralischer Hinsicht, desto christlicher. Das ist eine Grundüberzeugung der Humanisten.

Auf diesen drei Säulen beruht der humanistische Toleranzbegriff. Weil jeder sich strebend bemüht, ein besserer Mensch zu werden, und weil der Mensch sich durch geistige Vervollkommnung zu verbessern versucht, sollte jeder die Bemühungen des anderen anerkennen. Niemand sollte vorwegnehmen, welche Antwort der andere bei der entscheidenden Suche nach Orientierung findet. Jeder soll tolerant sein, also die Auffassung des anderen stehen lassen und die Hoffnung haben, dass alle schließlich, durch die Vernunft geleitet, das gleiche Ziel erreichen.

IV. Das christliche Menschenbild

Bevor wir nun auf die Ausgangsfrage zurückkommen, ob der Glaube der Christen intolerant ist, vergleichen wir das christliche Menschenbild mit dem humanistischen. Hier ist die Antwort völlig klar: In allen drei genannten Punkten sagt die Bibel das genaue Gegenteil des Humanismus.

1. Der Mensch ist im Kern böse

Wenn nach humanistischer Auffassung der Mensch im Kern gut ist, so sagt uns die Bibel, dass der Mensch böse ist, und zwar im Kern, dass also das Böse, die Sünde in biblischer Sprechweise, nicht darin besteht, dass jemand ein paar unmoralische Handlungen begeht, sondern dass sie den Kern des Menschen, also seine Gedanken, Gefühle und Empfindungen verdirbt. Und das weiß jeder, der etwas Selbstkritik übt: Das Böse besteht nicht nur in vollendeten Handlungen, die vielleicht von der Polizei bestraft werden, sondern auch in bösen Gedanken, in Hass, in Groll, in Neid, in falscher Verbitterung, fehlender Liebe, in vielem anderen. Wir wissen aus der Bibel, wie das Böse in die Welt hineingekommen ist und dass es im Menschen tiefe Wurzeln geschlagen hat.

2. Die Vernunft als solche führt nicht zum Guten

Wenn nach humanistischer Auffassung das Gute durch die Vernunft erkennbar ist, also die Vernunft der Weg ist, der zum Guten führt, so lässt sich nach biblischer Erkenntnis erwidern: Die Vernunft ist zwar eine wertvolle Gabe, die Gott dem Menschen schenkt, aber sie ist auch vom Bösen beeinflusst. Vernunft, für sich allein genommen, führt nicht zum Guten. Sonst wäre ja die höchste Moral durch Computer erreichbar.

Das Böse wird nicht nur von Menschen mit geringer Bildungsstufe begangen, sondern auch zum Teil von Hochgebildeten. Unter den SS-Funktionären, die grausame Massenmorde begangen haben, waren manche, die an der Universität Theologie oder Germanistik studiert hatten und Goethe in- und auswendig kannten. Das hat sie nicht daran gehindert, die schlimmsten Verbrechen zu begehen. Bei der terroristischen Bewegung, die wir in den 60er und 70er Jahren hatten, ist uns erschütternd aufgefallen, dass Leute wie Andreas Baader oder Gudrun Ensslin aufgrund ihrer Vernunftüberzeugung grausame Verbrechen begangen haben. Beide gehörten zu den Stipendiaten der Studienstiftung des deutschen Volkes, die nur solche Studenten fördert, die begabter sind als 99 % der übrigen. Es fehlte ihnen nicht an Vernunft, sondern an den einfachsten geistlichen Einsichten. Die Auffassung ist also falsch, dass die Vernunft den Menschen automatisch zum Guten führen würde.

Man braucht nicht einmal so weit auszuholen, wenn man Gegenbeispiele sucht. Wie steht es denn mit den Rauchern, die sich im Moment so sehr darüber ärgern, dass sie mehr Steuern für ihre Sucht bezahlen sollen? Es gibt Raucher, die vielleicht sogar von Beruf Ärzte sind und sehr genau wissen, dass die Wahrscheinlichkeit, Lungenkrebs zu bekommen, für sie 37 mal so hoch ist wie für einen Nichtraucher, dass das Rauchen in hohem Maße gesundheitsschädlich ist und darüber hinaus auch noch sozialschädlich, denn man belastet ja andere Menschen mit. Dies alles wissen viele, und doch können sie das Rauchen nicht lassen. Die Vernunft reicht eben nicht aus, das zu tun, was man als richtig erkannt hat.

Wer Nichtraucher ist, wer also dieses Problem nicht hat, wird es doch auf anderen Gebieten kennen. Paulus jedenfalls kannte es, als er dem Sinn nach im Römerbrief schrieb: "Das Böse, das ich nicht will, tue ich mitunter, während mir das Gute, das ich eigentlich will, nicht gelingt!“ Konflikte also zwischen dem, was wir als gut erkannt haben und eigentlich wollen, und dem, was wir wirklich tun, blieben nicht einmal Paulus erspart und keinem von uns. Wir müssen daher einsehen, dass die Vernunft allein nicht zum Tun des Guten ausreicht, sondern dass ganz andere Einflüsse notwendig sind, um einen Menschen vom Bösen zu befreien.

3. Gott ist für das Streben des Menschen unerreichbar

Die Grundüberzeugung der Humanisten, dass der Weg zu Gott über die Strebsamkeit des Menschen führt, wird in der Bibel an so vielen Stellen widerlegt und beanstandet, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll, sie zu zitieren. Jesus Christus war bekanntlich ein leidenschaftlicher Gegner jener Frömmigkeit, die sich etwas auf eigene Leistungen zugute hielt, die also glaubte, durch eigenes Handeln Gott näher zu kommen. Er sagte: "Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist, als die der Pharisäer, werdet Ihr nie in das Reich Gottes kommen." Der Mensch kann Gott nicht von sich aus erreichen, weder durch moralische Anstrengung (also auch der beste Mensch nicht) noch durch geistige Bildung (der klügste Theologe oder Philosoph kann durch das, was er weiß, nicht zu Gott kommen), auch nicht durch esoterische Meditation oder Versenkung in das eigene Innere (denn dort ist Gott am allerwenigsten zu finden, und das wissen solche, die sich jahrelang in solcher Richtung vergeblich bemüht haben).

Es gibt keinen Weg, durch den der Mensch die persönliche Verbindung mit Gott herstellen kann, auch keinen religiösen. Jesus war das Ende jeder von Menschen gemachten Religion. Gott kann man nicht dadurch erreichen, dass man die richtigen rituellen Handlungen vollzieht und die richtigen religiösen Gebräuche über sich ergehen lässt. Statt dessen sind wir darauf angewiesen, dass Gott zum Menschen kommt. Und wenn Jesus Christus sagte: "Ich bin der Weg“, dann ist damit eigentlich der Weg gemeint, den Gott beschreitet, um den Menschen zu erreichen, da es, wie gesagt, keinen Weg gibt, durch den der Mensch Gott erreichen kann. Wir sind auf Jesus Christus angewiesen, weil Gott in ihm zu uns Menschen gekommen ist. Jesus Christus ist gestorben und auferstanden, um unsere Schuld rückgängig zu machen. Dass man das nicht durch eigene Anstrengung, durch Strebsamkeit bewerkstelligen kann, sollte jeder wissen. Das wäre etwa so wie der Versuch, durch Hochsprung den Mond zu erreichen. Ähnliches gilt für die moralischen Anstrengungen! Wenn man die Bergpredigt kennt, weiß man, welche hohen Maßstäbe Gott wirklich für uns Menschen hat.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die humanistische Vorstellung und die biblische Aussage vom Menschen und seinem Weg zu Gott sich völlig widersprechen. Und das hat einen Einfluss auf den Toleranzbegriff. Wenn Christen überzeugt sind, dass nur der Weg, den Gott beschritten hat (der Weg durch Jesus Christus) zu einer Versöhnung zwischen Mensch und Gott und zu echter Gemeinschaft führt, dann ist eben doch der Glaube der Christen in diesem Sinne intolerant.

V. Humanistische und christliche Toleranz

Wir kommen jetzt zu der eigentlichen Toleranzfrage. Wie wird sie beim Humanismus letztlich beantwortet? Die bekannteste Stelle dazu aus der humanistischen Literatur steht in dem Drama "Nathan der Weise“ von Lessing. Manche haben das vielleicht auf der Bühne gesehen: Im dritten Akt wird jene berühmte Ringparabel erzählt. Da wird die Frage gestellt, welche der drei Religionen - Judentum, Christentum und Islam die wahre ist.

Nathan der Weise kleidet seine Antwort in die berühmte Ringparabel ein: Es gab einen Vater, der drei Söhne hatte. Er besaß einen Ring, der dem, der ihn trug, wundersame Kräfte der Liebe und der Weisheit verleihen konnte. Nun starb der Vater, und bald darauf hatte jeder der drei Söhne einen Ring in seinem Besitz. Der Vater hatte Ersatzringe herstellen lassen und jedem zu Lebzeiten einen Ring überreicht. Jeder der drei Söhne meinte, dass sein Ring der echte wäre. Sie gingen vor Gericht. Der Richter sollte nun entscheiden, welcher Ring der echte wäre.

Die Antwort des Richters, und das ist die humanistische Antwort auf die Toleranzfrage: "Der echte Ring vermutlich ging verloren!" Und dann heißt es bei Lessing schließlich: „ Ein jeder eifre seiner reinen, von Vorurteilen freien Liebe nach ...“ Das heißt im Klartext: Nach humanistischer Auffassung ging die echte Wahrheit verloren (es gibt keine Wahrheit, die Gott wirklich offenbart hätte), und was nun übrig bleibt für diese drei oder auch andere Religionen, das ist der Wetteifer um die größtmögliche Liebe. (Heute würde man vielleicht sagen: um die beste Entwicklungshilfe. Wer am meisten tut für die Menschheit, mag darin die anderen beschämen, aber absolute Wahrheit gibt es nicht.)

Der echte Ring ging vermutlich verloren. Die humanistische Toleranzauffassung also besagt im Klartext: Da es keine echte Wahrheit gibt, möge niemand Wahrheit verkünden. Jeder soll sich bewusst sein, dass sein Glaube Privatsache ist ohne Wahrheitsanspruch, und er soll daher den anderen in den Fragen des Glaubens nicht beeinflussen. Der Wettstreit sollte ohne Mission oder Verkündigung geschehen, sondern ausschließlich ein Wettstreit der Nächstenliebe sein. Dies ist die humanistische Auffassung von der Toleranz.

Und die christliche? Wir müssen uns darauf besinnen, dass das Wort Toleranz von dem lateinischen Begriff "tolerare", d.h. "erdulden", herkommt. Jesus Christus hat uns vorgelebt, wie man erduldet, was andere tun, und wie man andererseits für die Wahrheit eintritt mit Vollmacht, Liebe und viel Fingerspitzengefühl, Takt und Einfühlungsvermögen. Jesus hat uns vorgelebt, dass man die Wahrheit, um die es geht, niemals anderen Menschen aufzwingen darf: Keine Kreuzzüge, keine gewaltsame Christianisierung ganzer Länder und Erdteile, kein gewaltsames Überstülpen des Glaubens gegenüber der jungen Generation, wodurch man sie ja verprellen würde. Stattdessen ist Jesus den Menschen liebevoll nachgegangen. Er hat mit jedem einzelnen dort, wo die Gelegenheit bestand, ausführlich über Gott gesprochen. So hat er mit viel Einfühlungsvermögen Menschen für das Reich Gottes gewonnen. Er hat sich mit ihnen zunächst über die Themen unterhalten, mit denen diese Menschen beschäftigt waren, etwa mit einer Samariterin über das Trinkwasser oder mit einem reichen Mann über die Fragen des Besitzes. Und er hat sie dann eingeladen, sich von ihm, Jesus Christus, erneuern zu lassen und dadurch zu Gott zu kommen.

Jesus hat nie Gewalt und Druck angewendet. Niemals war er unfreundlich, wenn er Menschen zum Glauben einlud, sondern er hat es zugelassen, dass manche Nein gesagt haben. Und wenn der Gesprächspartner absagte, mochte Jesus traurig sein, wie in dem Fall des reichen jungen Mannes, aber er zwang ihn nicht zu seinem Glück. Jesus hat uns Toleranz vorgelebt in diesem Sinn: die Wahrheit zu bezeugen mit viel Liebe, Menschen- und Sachkenntnis sowie Einfühlungsvermögen und Opferbereitschaft, aber niemals mit Gewalt, Druck, politischer Macht und dergleichen. Jesus hat bekanntlich nach seiner Verhaftung erklärt, dass sein Reich nicht von dieser Welt ist. Wenn ich in Osteuropa über dieses Thema spreche und die Leute nicht wissen, was das Reich Gottes ist, dann erkläre ich, Jesus hat gemeint: "Meine Gesellschaftsordnung ist keine politische. Sie kann nicht mit politischen Machtmitteln errichtet und erhalten werden.“

Aber eins hat Jesus nie getan: Er hat nie Abstriche an der Wahrheit gemacht, hat sie nie poliert, um dadurch weniger Anstoß zu erwecken. "Tolerale“ heißt "erdulden“. Er hat es erduldet, für diese Wahrheit ans Kreuz geschlagen zu werden. Er war bereit, für sie zu sterben, statt auch nur den geringsten Abstrich an ihr zu machen. Und darin können wir lernen, was echte Toleranz ist. Es kommt jetzt im 21. Jahrhundert die Situation, in der das entscheidende Thema sein wird, ob es gelingt, dass in unserer Gesellschaft diese Form der Toleranz wieder neu entdeckt und praktiziert wird, die Jesus Christus uns vorgelebt hat.

Es geht darum, Jesus Christus als die Wahrheit zu kennen, von ihm erfüllt und begeistert zu sein, so dass Menschen, die mit Jesus Christus leben, von morgens bis abends in ihrem Umfeld etwas ausstrahlen von ihm und von seiner Liebe. Es geht um eine Wahrheit, die attraktiv wirkt und nicht abstoßend, und darum, ob diese Wahrheit wieder von mehr Menschen erfahren und von anderen wenigstens friedlich respektiert wird, und ob es gelingt, in unserer Gesellschaft die Menschen dahin zu bringen, dass sie es beim Umgang mit der Wahrheit und bei der Suche nach ihr, überhaupt beim Ausleben von Überzeugungen von Jesus lernen, auf Gewalt in jeder Form zu verzichten.

Es gibt also zwei verschiedene Arten von Wahrheit: Wahrheit, die vernünftig und richtig ist und Wahrheit, die den Menschen befreit und ihm hilft.

VI. Zusammenfassung

Es gibt zwei verschiedene Arten von Toleranz: unverbindliche Toleranz, die auf fehlender Überzeugung beruht, und Toleranz, die die Wahrheit, die Jesus Christus ist, kennt, von ihr erfüllt ist und die innere Kraft hat, zu leiden, zu dulden, zu erdulden, dass die Wahrheit nicht von allen angenommen wird. Wenn wir in Jesus Christus immer tiefere Wurzeln schlagen, werden wir von ihm diese Form der Toleranz geschenkt bekommen, die uns bewahrt vor Fanatismus und vor Lieblosigkeit, zugleich die Form der Wahrheit, die ja in Jesus Christus Person geworden ist, die uns die Gewissheit und Geborgenheit in der Liebe Gottes schenkt und uns frei macht von aller fanatischen Intoleranz.


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