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Heimat in Bewegung


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Rolf

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Heimat in Bewegung






Es war ein spektakulärer Umzug: Vor fast einem Jahr wich die Emmauskirche im sächsischen Heuersdorf dem Bergbau. Heute ist sie ein Symbol für das, was Technik möglich macht - und was sie zerstören kann

Der Kirchturm steht schief. Mitten in der Stadt könnte sich eine Katastrophe ereignen. Schlimmstenfalls könne der Turm einstürzen und das ganze Dach mitreißen, unkt die Stadtführerin, als sie die Gruppe um das Bauwerk lotst. Hat man denn nicht alles erst so schön restauriert? Die Kirche, ein Wahrzeichen der Stadt Borna, ist in höchster Not. Nein, nicht die Emmauskirche ist in Gefahr, jenes Bauwerk, das im vorigen Herbst auf Rädern durch den Landkreis rollte. Emmaus, die Kirche, die Heuersdorf verlassen hat, steht fest am neuen Platz. Ihre große Beschützerin, die Stadtkirche St. Marien, ist aus dem Lot.

Die Emmauskirche hatten die Rentnerinnen aus Auerswalde bei Chemnitz gefahrlos betreten. Sie hatten sich erzählen lassen, unter welchen Fährnissen die Kirche an ihrem alten Ort, welcher der Braunkohle weichen wird, auf einen Wagen gehoben und vor aller Augen zwölf Kilometer in die Große Kreisstadt Borna verbracht worden war. "Ja, das haben wir gesehen", riefen sie im Chor. Beeindruckt verließ die Schar Sachsens älteste erhaltene Wehrkirche, dessen Alter im vergangenen Sommer um vierzehn Jahre auf 1283 zurückdatiert wurde. Nur eine der Damen hob den Finger und bemerkte mit deutlich sächsischem Akzent: "Unsere Kirche ist von 1186!"

Egal, die Emmauskirche war vor einem Jahr zumindest für ein paar Herbsttage prominenter als die Frauenkirche in Dresden. Heute leuchtet sie in der Mittagssonne, ziegelrotes Dach, cremefarbener Putz, Schiefertürmchen und blinkende Wetterfahne. Die letzten Monate haben Wunder gewirkt, der kleine Schornstein, als wäre er ein Makel, ist verschwunden. Auch drinnen riecht es nach Erneuerung: Gestühl, Fußboden, Decke und Orgel, dazu behindertengerechte Zufahrt, die Emmauskirche strahlt, als wäre sie die Pforte zum Himmelreich.

Vor einem Jahr war sie ein gemarterter Leib, bedrängt von einer Braunkohlengrube, ein Haufen Elend mit Türmchen obenauf, in einer aufwendigen Operation angehoben und für immer hinausgefahren aus dem Dorf, das sie doch schützen sollte. Die Zuschauer feierten das als technisches Meisterstück, nur für die Heuersdorfer war es ein Leichenzug. Der Abtransport ihrer Kirche führte noch dem Letzten vor Augen, dass das Dorf verloren ist. Wer nicht weiß, was sich ereignet hat, hält Emmaus auf der winzigen grünen Insel nur für eine etwas zu ambitioniert restaurierte Kapelle. Immerhin, der Putz werde nachdunkeln, haben die Restauratoren versprochen.

"Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren!" Der Baulärm ist verklungen, jetzt schallt hinter den dicken, im vorigen Jahr mit Schaummörtel versteiften Mauern nur die Orgel - und Waldemar Styra. Während die Rentnerschar aus Auerswalde schon im Bornaer Ratskeller tafelt, hebt der katholische Priester in der Kirche an zu singen - und zwölf folgen ihm, je nach Stimmgewalt und Gottvertrauen. Das ökumenische Mittagsgebet jeden Mittwoch um zwölf ist die erste Tradition am neuen Ort.

"Es ist gut, dass wir hier sind." Das Loblied ist verklungen, es ist plötzlich wieder sehr still, Waldemar Styra zitiert den Apostel Petrus und wählt seine Worte mit Vorsicht, als ob nicht nur die Menschen hier des Trostes bedürfen, sondern auch der Bau. Styra erzählt von der Verklärung des Herrn, als "sein Angesicht leuchtete wie die Sonne", faltet die Hände und betet mit samtener Stimme: "Gott ist mit uns, wenn wir in diese Welt kommen, wenn wir eine Familie gründen, wenn wir reifen. Und Gott ist mit uns, wenn die Herberge dieses Lebens brüchig geworden ist." Styra zündet eine Kerze an. Bald darauf verliert sich die Gemeinde in der Mittagsglut.

Horst Bruchmanns Herberge ist keinesfalls brüchig, und doch wird sie bald einstürzen. Das ist hier in der Idylle seines Dreiseithofs in Heuersdorf schwer zu begreifen. Bruchmann sitzt an einem geräumigen Tisch im Schatten vor der Tür, die Decke zieren arglose Obstmotive. In der Ferne dröhnen Motoren. Ja, was man hier gefeiert habe, schöne Feste waren das, mit der Familie, den Verwandten, die alle auf dem Hof der Vorfahren wohnten. Bruchmann lächelt versonnen, als könnte die Erinnerung die Gegenwart mildern. Die Verwandten sind alle ausgezogen, selbst der Hofhund, ein ungemütlicher Kerl, ist schon weg.

Horst Bruchmann ist der Ortsvorsteher von Heuersdorf, und täglich wird sein Dorf kleiner. Ja, in die Emmauskirche habe er mal kurz hineingeschaut, irgendwann nach Ostermontag, als der erste Gottesdienst nach Umsetzung und Restaurierung stattfand. Und? Horst Bruchmann räuspert sich. "Es ist eine Kirche, die von Heuersdorf nach Borna umgesetzt wurde", beginnt er, bemüht um Sachlichkeit. Einem Bürgermeister steht das wohl an. Von dem Spektakel vor einem Jahr profitiere die Kirche noch. "Aber es ist nicht mehr unsere Kirche." Bruchmann klopft dabei mit einer Eichel, die er irgendwo gegriffen hat, heftig auf den Tisch. Er wird noch heftiger. "Die Bevölkerung von Heuersdorf hat mit eigenem Geld die beiden Kirchen durch die DDR-Herrschaft hindurch instand gehalten. Ich sollte eine Einweihungsrede halten, mich ins Goldene Buch eintragen. Das habe ich abgelehnt. Ich will nicht deren Kasper sein!" Er schränkt ein, dass das seine persönliche Meinung sei, wird aber gleich noch viel grundsätzlicher: Es gebe Milliarden im Lande und dennoch richte man allerorten Tafeln für Bedürftige ein. "Das erschüttert doch schon." Es scheint, dass Horst Bruchmann nicht nur mit seiner alten Kirche hadert.

Wessen Kasper wolle Bruchmann nicht sein? Vor allem der der Mibrag, der Mitteldeutschen Braunkohlengesellschaft, die dafür verantwortlich ist, dass der Heuersdorfer Untergrund, Kohle für 20 Jahre, nach und nach im Kraftwerk Lippendorf durch die Esse geht. Die Mibrag hat an jeden Grundeigentümer hohe Entschädigungen gezahlt. Und doch will es nicht in Bruchmanns Kopf, dass ein Unternehmen per Gesetz die Erlaubnis erhält, für 20 Jahre Strom ein über Jahrhunderte gewachsenes Dorf wegzuhacken wie ein Diestelnest. "Ich bleibe dabei, die Umsiedlungen sind Verbrechen!"

Etwas Zerstreuung täte jetzt gut. Horst Bruchmann führt in den Garten, wo die Früchte geradewegs in den Mund wachsen, wie er versichert. Die Äpfel hängen sehr ordentlich, nur die Pflaumen machen sich in diesem Jahr rar. Die Enkeltöchter, mit ihren Eltern schon umgezogen und heute zu Besuch, laufen mit der Gießkanne zwischen den Beeten. 32 Jahre hat Bruchmann in der Braunkohle gearbeitet, zuletzt als Elektroingenieur, 1987 hat er hingeschmissen. Seit 1992 kämpfte er als Bürgermeister gegen den Tagebau. Vergebens. Der Bagger steht in Sichtweite hinter dem Zaun ganz still, als wäre er erschöpft. Sein Ausleger zeigt zum Kraftwerk, wo weißer Dampf senkrecht in den Himmel steigt.

Wo die Emmauskirche gestanden hat, könne man nicht mehr hin, dort werde schon gebaggert, versichert Bruchmann. Die zweite Kirche, die Taborkirche, sei noch zugänglich und solle es bleiben, bis der letzte Christ das Dorf verlassen hat, zitiert er den Ortspfarrer. Das dürfte Horst Bruchmann selbst sein, der andeutet, Heuersdorf erst im Februar zu verlassen, Wochen nach dem eigentlichen Stichtag 31. Dezember 2008. Doch vorher werde sein neues Haus nicht fertig. Beim Abschied auf dem gepflasterten Hof umkreisen die Enkeltöchter wie auf ein Zeichen Horst Bruchmann, tanzen und hören lange nicht auf, als wollten sie den Opa niemals von hier ziehen lassen.

Zwölf Kilometer weiter östlich schaut Matthias Weismann in der Emmauskirche nach dem Rechten. Der Superintendent ist einer der drei Pfarrer der Bornaer Kirchengemeinde und somit der neue Hausherr. Drinnen sitzt ein Ein-Euro-Jobber und führt penibel Strichliste über die Besucher. Die kleinen Strich-Zäune nehmen beachtlich zu, sehr zur Freude des Pfarrers. Matthias Weismann war maßgeblich daran beteiligt, dass die Kirche hierhin kam.

Hektisch wurde nach einem neuen Platz gesucht. Manche sahen sie als Autobahnkirche, andere als Kapelle über einem gefluteten Tagebau, wieder andere als Kirche von Neu-Heuersdorf. Nichts von dem war realistisch. Weismann, ganz Pragmatiker und wohl auch im Marketing nicht unerfahren, hat die Dinge schnell geklärt: Die Kirche kam gleich neben die Stadtkirche St. Marien, da, wo bis vor ein paar Jahren die alte Schule gestanden hat. Irgendwie würden die Dinge schon zueinanderfinden, so wie die beiden Biedermeierstühle und der Glastisch im Amtszimmer, wo Weismann nun sitzt.

Sicher, es sei auch ein Risiko gewesen, gesteht er. Wenn es unmöglich aussehen würde, hätte er wohl die Koffer packen müssen. Er blickt zufrieden zur Kirche. Das Nebeneinander von Stadt- und Dorfkirche sei ein spannungsvoller Reiz und lade zu Gesprächen ein. "Sehen Sie, da kommt schon wieder ein Bus!" Derzeit wollen etwa tausend Besucher pro Woche die Emmauskirche sehen - für eine Dorfkirche mehr als beachtlich.

Das nächste Ereignis steht schon fest: Am zweiten Septemberwochenende feiern Stadt und Kirchgemeinde 750 Jahre Emmauskirche. Soll sich das alles im Kirchlein abspielen? Nein, die Stadtkirche ist auch noch da. Dort solle schließlich auch mit einer Ausstellung an die abgebaggerten Dörfer erinnert werden. Und der Turm der St.-Marien-Kirche? Nein, er werde nicht einstürzen. Matthias Weismann gibt Entwarnung. Die Risse seien kein Grund zur Sorge, die Sanierung sei erfolgreich gewesen. Überhaupt steht der Turm seit Menschengedenken schief, nur habe die Neigung in den letzten Jahren zugenommen, eine Auswirkung der Grundwasserschwankungen durch den Bergbau. Auch St. Marien ist von der Kohle geprüft.

Es gebe für die Emmauskirche schon ein Logo und einen Slogan: "Heimat in Bewegung." Darüber habe er im neuen Gemeindebrief geschrieben - die Emmauskirche als Sinnbild, was sich Menschen gegenseitig zumuten und was sie ertragen müssen. Matthias Weismann reicht seine Visitenkarte. Darauf krempelt sich ein Pastor energisch die Ärmel hoch, gerade so, als wollte er noch eine zweite Kirche nach Borna abschleppen.

Der Superintendent hatte auch davon geredet, dass die Emmauskirche "bespielt" werden müsse. Das hat, während der Pastor noch redete, Udo Hackenberg besorgt. Er hat die Busgesellschaft empfangen, unterhalten und wieder hinausgeleitet. Jetzt sitzen zwei Damen vor ihm auf der Bank. Hackenberg ist kein Pastor, aber er fesselt die Damen wie Petrus zu Pfingsten. Hackenberg arbeitet als Moderator und Discjockey und verdient sich in der Emmauskirche ein Taschengeld. Er steht in Jeansweste am Triumphbogen gelehnt, streckt seine Plauze nach vorn, wie man hier einen stattlichen Männerbauch nennt, und fabuliert laut und lässig. Über die Biedermeierbemalung, den Außenputz aus Quark, Eiern und Sand, über die Umsetzung im letzten Jahr, an der fast nur sächsische Firmen beteiligt gewesen seien, und über Besucher, die bis von Mexiko kommen.

Die Damen hören schweigend zu. Doch als Hackenberg erzählt, dass er aus Eythra stammte, ein Dorf, das 1984 abgebaggert wurde, fällt ihm eine der Frauen ins Wort. Sie sei in Blumroda geboren, das 1954 der Braunkohle zum Opfer fiel. "Sehen Sie, die Kirche steht nun auch für solche Leute wie uns hier." Und das hat er auf einmal sehr sanft gesagt. Emmaus hat einen Freund hier gefunden. Und das ist immerhin ein Anfang.
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