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"Die Macht der Moral hat nicht abgedankt"


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Rolf

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Joseph Ratzinger





"Die Macht der Moral hat nicht abgedankt"


In der "Welt am Sonntag"-Serie "Es gilt das gesprochene Wort" trafen sich im April 1999 die Interviewer Klaus Bölling (Ex-Regierungssprecher) und Peter Gauweiler (CSU-Politiker) mit Joseph Kardinal Ratzinger, Präfekt der Glaubenskongregation im Vatikan. Ratzinger ist inzwischen Papst.

Bölling: Hat der Vatikan, der Heilige Vater, der ja fraglos eine moralische Weltmacht ist, über moralische Appelle hinaus noch die Möglichkeit, erfolgreich an der Konflikteindämmung und der Konfliktbewältigung mitzuwirken - etwa mit Blick auf den Krieg im Kosovo? Im Kalten Krieg half die Ostpolitik des Vatikans, die Härten der kommunistischen Herrschaftsausübung zu mildern. Ist es nicht bedrückend für den Papst und auch für einen Mann wie Sie, daß Sie heute, etwa im ehemaligen Jugoslawien, nicht mehr tun können?

Ratzinger: Ja, bedrückend ist es auf jeden Fall. Ich weiß, wie schwer das dem Papst auf der Seele liegt und jedem von uns. Hier in Italien ist besonders hautnah spürbar, wie ernst und wie tragisch dieses Problem ist. Die Einwirkungsmöglichkeiten im ehemaligen Jugoslawien selbst sind natürlich gering, eingedenk der dortigen Verschmelzung einer patriotischen Orthodoxie mit dem jugoslawischen Selbstbewußtsein, die gern Rom zum Gegner stempelt. Aber Sie haben vorhin gesagt, der Papst habe nur noch die Möglichkeit moralischer Appelle. Natürlich ist die Macht der Moral zurückgegangen, aber sie hat nicht ganz abgedankt. Es gibt in der westlichen Welt, ja, ich denke in der ganzen Welt, immer noch das Bewußtsein, wenn wir uns von der Moral abwenden, zerstören wir uns. Und soweit Moral einsichtig wird, ist sie eine Macht. Deswegen wird der Vatikan alles tun, einerseits durch öffentliche Appelle wirksam zu werden, aber auch durch vertrauliche Gespräche auf verschiedensten Ebenen zu Einsichtsbildungen zu verhelfen, die dann dem Frieden dienen. Insofern sind wir auch nach dem Ende der Ost- politik nicht ganz wehrlos geworden, denke ich.

Gauweiler: Apropos Orthodoxie: Der Papst hat einmal daran erinnert, daß gerade das Amt des Petrus auch das Amt der Einheit ist. Es fragen sich zum Ende des 20. Jahrhunderts und in Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert immer mehr Menschen: Warum die vielen Teilungen und Feindschaften zwischen denen, die sich auf Christus berufen? Gibt es eine Chance, daß das herannahende Datum der Jahrtausendwende vielleicht doch einen Schub in die Richtung bewirkt, daß die ganze Christenheit wieder in einer Kirche zusammenfindet?

Ratzinger: Das hoffen wir natürlich. Andererseits muß uns der Realismus nötigen, nicht zuviel zu erwarten, weil enttäuschte Hoffnungen oft tiefere Verwundungen und damit Spaltungen hervorrufen als sie vorher schon dagewesen sind. Wir müssen immer wieder auch mit den kleinen Schritten zufrieden sein. Ich denke, daß noch in diesem Jahr die Unterzeichnung des Recht- fertigungskonsensus stattfinden kann, und das ist dann schon immerhin etwas. Es löst nicht die ganze Spaltung auf, aber es ist doch ein ganz großer Schritt, nachdem dies der eigentliche Auslöser der Trennung gewesen ist. Und so gibt es viele Schritte dieser Art. Insgesamt glaube ich, ist vor allem etwas sehr Wichtiges geschehen, und das entwickelt sich meiner Meinung nach weiter: das sich verstärkende Bewußtsein, als Christen in einer gemeinsamen Verantwortung zu stehen. Über die Trennung hinweg, die wir nicht einfach abschütteln können, wissen wir heute wieder viel stärker, daß wir alle Christen - ob evangelisch oder und katholisch - sind und somit zueinander gehören, miteinander wirken sollten, auch in der öffentlichen Welt. Das Bewußtsein wächst, daß die Trennung nicht das letzte Wort ist, sondern daß auch in bestehender Trennung Einheit da ist. Ich glaube, diese tatsächlich vorhandene Einheit sollten wir nicht gering schätzen. Natürlich ist die volle Einheit das Erstrebenswerte, aber dieses innere Einswerden in so wesentlichen Dingen unserer Verantwortung ist der beste Schritt, um auch in den anderen Fragen allmählich das Trennende zu überwinden.

Gauweiler: Das Katholische und das Evangelische hat, wenn man Ihre Erinnerungen liest, ja auch Sie immer wieder in allen Abschnitten Ihres Arbeitens als theologischer Wissenschaftler begleitet, und ich habe daraus den Eindruck gewonnen, daß auch hier versöhnte Verschiedenheit ein Weg sein kann, um unter die alten Streitpunkte einen Schlußstrich ziehen zu können, ohne den eigenen Charakter aufgeben zu müssen. Einst hat Martin Luther Kaiser und Reich mit dem Wort getrotzt: "Hier stehe ich; ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen." Das könnte auch eine Devise von Johannes Paul II. sein. Heute ist es nicht ganz 500 Jahre her, daß der junge katholische Augustinermönch und katholische Religionslehrer Martin Luther hier in Rom alle frommen Übungen als Pilger absolviert hat, im Ringen um den gnädigen Gott. Ist es vorstellbar, daß irgendwann der Reformator, wie wir evangelischen Christen ihn nennen, die gleiche Gnade erfährt wie Galileo Galilei, und daß die gegen ihn ausgesprochenen Bannsprüche aufgehoben werden?

Ratzinger: Er persönlich ist ohnedies in Gottes Händen. Da brauchen wir uns keine Sorge zu machen. Was zwischen ihm und den Katholiken steht, sind Elemente seiner Lehre. Es gibt da gewiß viele Elemente, die uns verbinden. Da sind ja die Lieder, die aus der Reformation hervorgegangen sind, Gebete und so weiter. Aber es gibt bestimmte Elemente, die zwischen uns stehen. Luther wird dann wieder voll in die Gemeinschaft aufgenommen sein, wenn diese Elemente wirklich gemeinsam überwunden sind. Die Rechtfertigungslehre ist eines. Einige andere gibt es noch. Nachdem wir einen Schritt geschafft haben, hoffen wir, daß wir mit Geduld auch mit den anderen vorankommen, aber daß Luther ein Lehrer ist, der trotz allem, was wir nicht annehmen konnten, zum Teil auch nicht annehmen können, uns allen etwas gegeben hat. Das sieht man einfach an der Präsenz des von Luther ausgehenden Erbes an Liedern, die Gebete sind, in der katholischen Kirche.

Bölling: Eminenz, Sie verübeln es mir nicht, wenn ich einen Sprung zurück tue und die Frage an Sie richte. Es gibt über eine Milliarde katholischer Christen . . .

Ratzinger: Wie katholisch sie im einzelnen sind, das weiß man nicht. Bölling: Das weiß man natürlich nicht. Aber numerisch. Und da haben wir natürlich auch wieder eine Mehrheit von Frauen. Wird der Heilige Vater den Forderungen einer stärkeren Einbeziehung der Frauen in das kirchliche Leben Gehör schenken, oder ist das nach Ihrer Auffassung, der Sie doch als eine Art - ich drücke mich jetzt etwas journalistisch aus - Bollwerk gegen den Zeitgeist gelten, unvorstellbar? Ratzinger: Ordination von Frauen und deren stärkere Einbeziehung sind zwei ganz verschiedene Dinge. Das Zweite ist voll im Gange, und wenn Sie in die Kirche gehen, dann können Sie auch Gottesdienste erleben, wo der Priester relativ spät und sozusagen nur bescheiden umgeben von Frauen in Erscheinung tritt.

Ob das alles nun ganz geschmackvoll und gut ist, ist eine andere Frage. So wichtig ist es ja auch nicht, vor einem Altar zu stehen, obwohl es viele Leute offenbar sehr fasziniert. Entscheidender ist es, in der Kirche Verantwortung zu tragen, zu leben und zu sein. In dieser Hinsicht war im Prinzip die Rolle der Frauen immer viel größer als man heute gemeinhin annimmt, wenn man zum Beispiel bedenkt, daß es im Mittelalter Doppelklöster für Männer und Frauen gegeben hat, wo eine Frau die Chefin auch für die Männer war und die Frau die Jurisdiktion über sie ausübte. Oder denken Sie nur an die großen prophetischen Frauen wie Hildegard von Bingen, Katharina von Siena, Brigitta von Schweden, die öffentlich gepredigt und den Männern, auch Päpsten, ins Gewissen geredet haben. Die Kraft der Frauen in der Kirche ist eigentlich immer sehr groß gewesen. Ich würde überhaupt sagen, daß die Kirche, indem sie den Jungfrauenstand, den weiblichen Ordensstand geschaffen hat, einen wesentlichen Schritt für die Emanzipation der Frau getan hat.

Sie konnte nun alleine leben, sie brauchte nicht unter einem Mann zu sein, sondern sie konnte selbst ihr Leben gestalten. Gut, jede Zeit hat ihre eigenen Formen. Da wird man fragen müssen, was heute möglich und angemessen ist. Wir in der Kurie sind eher langsam, aber immerhin haben wir auch natürlich weibliche Mitarbeiterinnen. Als die erste kam, das war noch bei meinem Vorgänger, war es noch eine Verwunderung, inzwischen ist es ganz normal, daß hier Frauen dazugehören. Das wird sich ausweiten, und die richtige Form zu finden, ist vielleicht manchmal auch nicht ohne Streitkultur möglich, aber es wird geschehen. Ein ganz anderes Problem ist die Frauenordination. Sie wissen ja, welches Erdbeben das in der anglikanischen Kirche hervorgerufen hat, wie auch die orthodoxe Kirche dagegen steht. Da sind für uns einfach andere Gewichte, weil es nicht eine von uns zu vergebende Position ist, sondern ein Sakrament, das die Kirche von Christus empfangen hat. Wichtig ist dabei, daß das Priestertum nicht als eine besondere Ehre erscheint und nicht als Macht- position, sondern wirklich als eine Dienstposition.

Gauweiler: In den letzten Jahren sind zur Ehre der Altäre in ganz besonderer Weise Frauen erhoben worden. Die Einladung des Verfahrens zur Seligsprechung von Mutter Teresa hat vor einiger Zeit besondere Aufmerksamkeit erregt. Sie sprachen gerade von den neuen Formen, die die heutige Zeit verlangt. Das Wirken der Mutter Teresa war und ist in besonderer Weise verbunden mit den Unorten der Dritten Welt, wo das Elend die Menschen anspringt. Solche Unorte sind aber nicht nur der Dritten Welt vorbehalten, wir haben sie bei uns auch. In Berlin, in der Frankfurter Innenstadt, in zahllosen anderen Metropolen der westlichen Welt. Müßten eigentlich in Wahrnehmung der Vorgaben dieser zukünftigen Heiligen die neuen Klostergründungen des 20. und 21. Jahrhunderts im Westen nicht genau an diesen Plätzen stattfinden?

Ratzinger: Man kann Ordensgründungen nicht künstlich schaffen. Ich kann jemand zu einem Aufsichtsratsvorsitzenden ernennen oder auch in der Kirche eine Funktion zuteilen, aber die Gründung eines Ordens muß aus einem inneren geistigen Ruf kommen. Da endet gleichsam die Macht der Kirche, und die des Heiligen Geistes beginnt. Dann aber muß die Kirche offen sein, dem Raum zu geben. Ganz sicher war Mutter Teresa eine Antwort auf eine große Herausforderung, und inzwischen ist es ja auch so, daß an diesen Unorten, die es im Westen gibt, ihre Gemeinschaft beginnt, da zu sein. Wir haben hier in unserem Palazzo an der Ecke ein Stück Grund dafür gegeben, daß ein Haus gebaut werden konnte, in dem Frauen schlafen können, die ohne Obdach sind, und Männer Essen erhalten. So eine Präsenz in Rom gerade an dieser Stelle war sicher sehr wichtig. Und ich finde es auch schön, daß jetzt Schwestern aus der Dritten Welt uns in der sogenannten Ersten Welt helfen. Dieser Austausch, daß nicht nur wir geben, sondern daß auch sie geben und daß die uns inzwischen etwas zu schenken haben, ist ganz wichtig.

Gauweiler: Ich frage dies deshalb, weil der Papst selbst die Evangelisation, besser gesagt die Neuevangelisation, als eigentlich die zentrale Aufgabe der ganzen Christenheit bezeichnet hat. Man hat eigentlich den Eindruck, daß der Kommunismus bei all seiner Fürchterlichkeit und bei all seinem Schrecken für die Kirche - verstehen Sie das bitte nicht falsch - der einfachere Gegner gewesen ist, als jetzt dieser äußere und innere Niedergang und Verfall, den wir in dieser Mischung aus sozialer Verwahrlosung, Drogenkultur und Jugendelend in den Zentren unserer Großstädte, leider auch in Deutschland, immer mehr beobachten können.

Ratzinger:
Als geschlossene ideologische Macht war der Marxismus der leichtere Gegner, weil er sich definierte, und dagegen konnte man streiten. Man darf aber nicht übersehen, daß er ungeheure seelische Verwundungen und Verarmungen hinterlassen hat, die sichtbar geworden sind, nachdem der Eiserne Vorhang aufgegangen war. All dies verschlimmert sich jetzt weiter, weil keine Antwort da ist und wir nicht imstande waren, an Stelle der abgebrochenen Ideologie seelische Kräfte bereitzustellen, die das aufgefangen hätten. Insofern sind wir jetzt in Ost und West dem Atheismus ausgesetzt, der die Menschen verfallen läßt. Und indem man das Leben einfach fließen, fallen lassen will, fällt man wirklich. Da sind wir genau wieder am Anfang: Wie können wir über das Subjektive hinaus dem Moralischen gemeinsame Kraft geben? Das geht gar nicht, wenn Gott nicht in Erscheinung tritt! Hans Küng macht ja den lobenswerten Versuch, ein Weltethos aufzubauen. Aber man sieht auch immer mehr die Grenzen dieses Mühens. Entweder wird dieses Ethos so allgemein, daß es nichts hilft oder es wird konkret; dann freilich stellt sich die Frage der Verbindlichkeit, nach der Instanz, die dafür einsteht. Es kann natürlich aus dem Nachwirken Gottes auch eine hohe atheistische Moral geben, das bestreite ich nicht, aber ich würde doch sagen, auf Dauer steht sie im Leeren. Soeben ist ein Dialogbuch von Kardinal Martini mit Umberto Eco erschienen, zu dem Indro Montanelli, einer der angesehensten italienischen Journalisten, einen Brief beigetragen hat, in dem er sagt, Atheisten seien benachteiligt: "Ich kann nicht glauben, und weil ich es nicht kann, kann ich eigentlich auch nicht mehr sehen, was mein ganzes Leben sollte." Diese Frage tritt irgendwann auf.

Bölling: Ich hatte mir über lange Jahre eine längere Meldung aufbewahrt über eine Rede, die Sie 1986 in Südamerika zur Befreiungstheologie gehalten haben. Sie haben damals sehr einleuchtend vor dem Mythos der Revolution gewarnt. Aber Sie haben damals einen Satz gesprochen, der vielen aufgefallen ist. Sie haben gesagt, daß es in Extremsituationen auch ein Recht auf Widerstand gibt. Ich bin selber einige Male in Südamerika gewesen, auch mit dem damaligen Bundeskanzler bei einem Zusammentreffen mit den katholischen Bischöfen, von denen einige jedenfalls darüber klagten, daß die sozialen Ungerechtigkeiten in Brasilien und anderen lateinamerikanischen Ländern fortbestehen und man bisweilen den Eindruck gewinnen könne, daß ein Teil der dortigen Bischöfe sich eher für den Status quo zur Verfügung stellten. Von Europa nach Lateinamerika blickend brachten Sie ein gewisses Verständnis für jene auf, die gesagt haben, die katholische Kirche müsse sich auf die Seite der Unterdrückten und Entrechteten stellen, gegen verfestigte Strukturen, die nicht gottgefällig seien.

Ratzinger: Das ist unbestritten, daß die Kirche sich auf die Seite der Unterdrückten stellen mußte und muß. Das haben wir auch immer wieder deutlich gesagt. Das ist aber etwas anderes als das, was einige von der Ideologie Betäubte forderten, die aus der Entfernung meinten, wenn man das marxistische Muster anwendete, dann verteidigte man die Unterdrückten am besten, und dies sei im Grunde die einzige Art, sie zu verteidigen. Das war verständlich, aber es war trotzdem weder rational noch christlich, und man mußte andere Formen des Widerstands suchen. Wir haben nicht einfach gesagt, paßt euch an. Wir haben aber gesagt, glaubt nicht, die Sache wird gelöst, wenn ihr dieses marxistische Rezept annehmt und wenn ihr euch dabei gleichzeitig unter den Schutz der sowjetischen Großmacht begebt, die euch auch nicht wohltätiger sein wird. Überhaupt war es ein Irrtum zu glauben, man könnte mit einem großen Knall plötzlich alles richtig machen, ohne das Leiden eines langen Weges der Besserungen und auch des Widerstandes, der seine Formen finden muß. Viele Elemente gehören dazu, vor allem Bildung, die Verantwortungsübernahme ermöglicht und auch die Herausbildung einer neuen Führungsschicht erlaubt. Mein Ansatz ist der, die Menschen im Elend dazu zu befähigen, selbst etwas zu können und dann zu einer Schicht zu werden, die auch etwas bedeutet im Staat und sich Mächten entgegenstellen kann. Wir waren also schon gar nicht auf der Seite der Mächtigen, die nur ihre Position verteidigen wollten, aber auch nicht gegen Formen von Widerstand, die rational sind. Wir haben nur vor, erstens, einer Vermischung zwischen Glaube und Ideologie und, zweitens, vor einem einfältigen Aberglauben an die Macht einer Ideologie und eines revolutionären Knalls gewarnt.

Bölling: Langmut, wenn es darum geht, die unwürdigen Bedingungen, unter denen diese Menschen leben, zu beseitigen?

Ratzinger: Die Kirche ist natürlich auch nicht die Macht, die nun plötzlich alles anders machen kann. Man muß ihre Grenzen richtig einschätzen. Die Verelendung in den großen Städten ist ohnedies erst ein Phänomen der letzten 50 Jahre. Vorher waren die Menschen arm. Sie lebten auf dem Lande. Aber sie hatten doch in einer wesentlich agrarischen Gesellschaft einen Platz im Leben, und der Einbruch der Industrialisierung, die diesen Ländern in einer unvorbereiteten Form und ohne eine gebildete Mittelschicht aufgestülpt wurde, der hat dann die Landflucht geschaffen, diese wirklich zerstörerischen Städte mit 15 Millionen Einwohnern, in denen eine ganz neue Form von Elend entstanden ist.

Gauweiler: Herr Kardinal, zurück nach Deutschland. Sie sagten einmal, wir sollten nicht soviel deutsche Selbstanklage betreiben. Nun haben wir schon die zweite Diktatur hinter uns, und man hat nicht den Eindruck, daß wir den Dingen frei und unverkrampft ins Auge sehen können. Was kann die versöhnende Macht des Glaubens zu dieser Debatte um Deutschland und seine Vergangenheit beitragen?

Ratzinger: Zunächst natürlich den Mut zur Wahrheit. Das ist immer das erste, daß man zunächst einmal sieht, was ist gewesen, und das redlich annimmt. Und dann natürlich mit dem Mut zur Wahrheit auch die Fähigkeit zur Versöhnung. Denn ein Menschenleben ohne Vergebung, ohne Versöhnung und die Möglichkeit zum Neubeginn gibt es einfach nicht. Das muß natürlich verbunden sein mit dem Sinn für die Gerechtigkeit. Es gibt Dinge, die einfach nicht von der Versöhnung ausgestrichen werden können. Was eigentliche kriminelle Aktion war, muß - damit das Recht und die wahre Versöhnung gewahrt bleiben - in der entsprechenden Weise Antwort finden. Diese Verbindung von Gerechtigkeit, die die Maßstäbe wieder klarstellt, was Recht und was Unrecht ist, verbunden mit der Fähigkeit zum Versöhnen und zum Neubeginn, sind die zwei Elemente, die wir brauchen - fundiert auf der Fähigkeit zur Wahrheit. Hinzu kommt die Güte, die versöhnend ist. Das, meine ich, ist das Dreigestirn, für das der Glaube die seelischen Voraussetzungen liefert.

Bölling: Wir sind ja, Herr Kardinal, faktisch Generationsgefährten. Genau wie Sie habe ich zuletzt meinen Latein- und Mathematikunterricht in unmittelbarer Nähe der Geschütze erhalten. Deshalb habe ich Ihre Erinnerungen auch mit einiger Emotionalität gelesen. Und da ist mir ein Satz aufgefallen, den ich zitieren will und den ich Sie ein wenig zu kommentieren bitten möchte. Sie haben geschrieben, daß, wer auf Gottes Seite steht, nicht notwendig auf Seiten des Erfolgs steht. Gerade Zyniker, so haben Sie gesagt, seien oft Menschen, die das Glück zu verwöhnen scheint, und genau über solche Fragen denken sicher nicht nur schlichte Christengemüter, sondern auch Menschen nach, die sich mit der Religion auseinandersetzen, vor allem, wenn sie älter werden: Über den Zweifel an der Gerechtigkeit der göttlichen Ordnung.

Ratzinger: Diese Frage wird nie verstummen. Schon in den Psalmen ist von den guten Menschen die Rede, denen es schlecht geht, und zynischen Erfolgsmenschen, denen alles glückt. Das Hiob-Buch ist das klassische Buch dieses Streites mit Gott, und in der christlichen Literatur kann man dies immer wieder, besonders bei Augustinus nachlesen. Zusammengefaßt kann man dennoch sagen, daß es die Erfahrung gibt: Wer sich im Leiden an Gott hält, findet auch in seiner Leidenssituation Sinn und fängt an, darüber hinauszuschauen. Dann wird ihm auch das ewige Leben mehr als eine Vertröstung - etwas, was er als eine Kraft der Gegenwart verspürt. Ich denke, man kann Argumente sammeln und soll es auch immer tun, aber ohne die eigene Erfahrung im Leiden, sich mal durchzuraufen oder sagen wir: durchzuringen, wird man es letztlich nicht erkennen. In dieser Erfahrung des sich Durchringens wird dann doch etwas von der Gegenwart Gottes spürbar. Das Leiden bekommt ein anderes Gesicht, wird etwas anderes, was ich dann mit Christus tragen kann, wo ich mitgetragen bin und andere mittragen darf und weiß, daß etwas Neues aus mir wird. Für mich bleibt das Bild der drei Jünglinge im Feuerofen das bewegende Bild: Gerade aus dem Feuerofen des Leidens sind die größten Lobpreisungen für Gott aufgestiegen, weil die Leidenden Gott mehr erfahren haben und ihm näher gekommen sind, sein Gesicht besser erkannt haben als die Reichen.

Bölling: Darf ich eine letzte Frage stellen? Welche Empfindungen hatten Sie, als der Ruf nach Rom kam? Menschen, die sie gut zu kennen glauben oder Sie vielleicht wirklich ganz gut kennen, sagen, daß Sie Ihrer ganzen geistigen und emotionalen Konstitution nach eigentlich für das Amt des Präfekten der Glaubenskongregation akkurat der falsche Mann deshalb gewesen sind, weil Sie sich eigentlich nach einer Gelehrtenexistenz gesehnt haben. Sahen Sie in dem Ruf an die Seite des Papstes nicht doch eine Herausforderung, ein Bollwerk, ein Ritter gegen den Zeitgeist zu sein, so daß es eigentlich für Sie gar nicht ehrenrührig ist, wenn Sie in Ihrem Amt gelegentlich als der Vertreter eines gewissen katholischen Rigorismus apostrophiert werden?

Ratzinger: An sich war mir schon die Ernennung zum Erzbischof fremd, weil ich gerade große wissenschaftliche Projekte vor mir hatte. Ich habe immer noch gehofft, durch einen eher rechtzeitigen Rücktritt das wieder machen zu können, aber das ist also doch nicht geschehen. Beim Ruf nach Rom kam dazu, daß mir Italien noch ziemlich fremd war: Ich habe nicht hier studiert und verfügte nur über bescheidene Italienischkenntnisse; auch diese Kurienwelt kannte ich überhaupt nicht - also schon ein Sprung ins Fremde. Aber andererseits habe ich es auch wirklich als eine Herausforderung verstanden, das muß ich sagen. Es war zwar nicht meine eigene Wahl, aber eine Herausforderung, die ich wichtig fand und in der ich auch glaubte, etwas einbringen zu können. Als Rigorist indes möchte ich mich nicht so gern sehen, weil ich das Prinzip Barmherzigkeit gern festhalten möchte; aber als jemanden, der schon auch willentlich gegen den Strom schwimmt und Widerstand leistet, sehe ich mich ganz gern an. Ein Rigorist sei er nicht, aber als jemanden, der gern gegen den Strom schwimmt, sieht er sich schon.
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