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Fließende Identität? Gender in kritischer Sicht


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Rolf

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DIE NEUE ORDNUNG

begründet von Laurentius Siemer OP
und Eberhard Welty OP
Nr. 3/2008 Juni 62. Jahrgang




Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz





Fließende Identität? Gender in kritischer Sicht




„Angekommen im neuen Jahrtausend geht es nicht mehr um den Dualismus des
Geistes von der Natur, von seiner eigenen Leiblichkeit und körperlichen Bedingtheit,
sondern dieses Gegensatzpaar ist aufgelöst, der Körper selbst steht zur
Disposition. Der postmoderne Verlust der Grenzen zwischen innen und außen,
belebt und unbelebt, männlich und weiblich, Geist und Körper kulminiert im
Verlust der Grenze zwischen Körperrepräsentation und Körperwirklichkeit. Die
Lust am Fragmentarischen, Heterogenen zerstörte zwar die Zwangsjacke der
Moderne, aber öffnete zugleich das Tor zu einer nihilistischen Desintegration.
Menschliche Körper fungieren als bloße Kunstobjekte [...], sie bilden lebendige
Skulpturen, ein bewegliches Ereignisfeld oder sind überhaupt nur noch ‚undifferenziertes
Fleisch‘.“




1 Wie kommt es zu solchen Thesen?




1. Gender: Genese des Begriffs aus einer leibfernen Philosophie

In der bisherigen Entwicklung der Feminismen gab es zwei hauptsächliche Richtungen:
1. „Frau muß Mann werden, um Mensch zu sein“, so die Kurzthese des
Egalitätsfeminismus (Simone de Beauvoir, 1949 „Le deuxième sexe“), 2. „Frau
soll Frau werden, um Mensch zu sein“, so die Kurzthese des Differenzfeminismus
vor allem in der Generation nach Beauvoir (Luce Irigaray). In diesen Richtungsstreit
hat sich eine neue Theorie eingeschaltet, die postfeministische Aufhebung
von Frausein: Es gebe gar kein biologisches Geschlecht (sex), nur noch
ein sozial und kulturell zugeschriebenes Geschlecht (gender). Diese Theorie ist
radikal „dekonstruktivistisch“, d. h. sie löst alle gewohnten Sichtweisen über
Frau und Mann als ideologisch auf und entwirft eher spielerisch und unverbindlich
neue Deutungen.

Was den schon „klassisch“ gewordenen Entwurf von Beauvoir angeht, so ist er
durch Regula Giuliani als „der übergangene Leib“ charakterisiert: „Der Leib
wird [...] zu einem trägen, der Materie verhafteten Körper, er wird zum bloßen
Instrument und Werkzeug, das der Realisierung geistiger Entwürfe besser (mit
männlichem Leib) oder weniger gut (mit weiblichem Leib) dienlich ist.“2 Solcherart
Leibferne ist nicht allein in der (männlich dominierten) Philosophiegeschichte,
sondern bis zu zeitgenössischen Positionen des Dekonstruktivismus
und philosophischen Feminismus auszumachen, die dem Denktypus der Postmoderne
beizuordnen sind. Die Themenliste der Philosophie enthielt kaum das
Thema Leib/Geschlechtlichkeit, was sich zeigt in der randständigen Bedeutung,
die dem Leib philosophisch zugewiesen wurde. Diese historische Linie kann bis
in die Gegenwart verfolgt werden als Aussparung, Unterordnung oder Reduktion
des Leibes, wofür das neuzeitliche Körper-Paradigma von René Descartes
165 (1596-1650) steht, der unter anderem den tierischen Körper bzw. Tiere überhaupt
als Maschinen verstand. Dieser Reduktionismus der Neuzeit bringt eine Quantifizierung
und Mechanisierung der Welt, die gleichfalls zur Geometrisierung des
Menschen geführt hat.3

2. Die postfeministische sex-gender-Debatte

Schon Sigmund Freud hatte die Differenz der Geschlechter bezweifelt: Wer den
Schleier des Weiblichen lüfte, treffe auf das Nichts (des Unterschieds). Nach
Simone de Beauvoir sind nur noch strukturelle Fragen zugelassen: Wie wird man
eine Frau?, aber keine Wesensfragen mehr: Was ist eine Frau? Seit den 90er
Jahren ist im Rahmen der feministischen Dekonstruktion neu, daß auch Sexualität
nicht mehr gegeben, sondern konstruiert sei. Zum ersten Mal sind damit auch
biologische Vorgaben als nicht definitiv angesehen und dem Rollenspiel unterstellt.
Ontologie, auf der die klassische Geschlechteranthropologie fußt, sei selbst
nur ein Konstrukt versteckter „phallogozentrischer“ Macht.

Als Wortführerin dieser Theorie kann Judith Butler4, Professorin für Rhetorik in
Berkeley, gelten, mit dem Werk Gender Trouble. Sie glaubt, einen Widerspruch
in der bisherigen feministischen Argumentation zu erkennen: auf der einen Seite
sei das Geschlecht ein Ergebnis sozialer Determination (und somit durch kritischen
Diskurs auflöslich), auf der anderen Seite aber biologisch unhintergehbar
determiniert (und somit unauflöslich). Der Widerspruch sei jedoch zu beheben:
Es gebe überhaupt keinen „natürlichen“ Körper als solchen, der „vor“ der Sprache
und Deutung der Kulturen liege. Körperliche Geschlechtsunterschiede seien
allesamt sprachlich bearbeitet; radikalisiert bedeute es, daß der Unterschied zwischen
sex und gender pure Interpretation sei. Schlicht ausgedrückt: Auch „Biologie“
sei Kultur. Um emanzipatorisch weiterzukommen, sei daher ein subjektives
und offen pluralistisches Geschlecht zu „inszenieren“.

Bei Jane Flax liest sich dies konzentriert: „Die postmodernen Denker möchten
alle essentialistischen Auffassungen des Menschen oder der Natur zerstören [...].
Tatsächlich ist der Mensch ein gesellschaftliches, geschichtliches oder sprachliches
Artefakt und kein noumenales oder transzendentales Wesen [...]. Der
Mensch ist für immer im Gewebe der fiktiven Bedeutung gefangen, in der Kette
der Bezeichnungen, in der das Subjekt nur eine weitere Position in der Sprache
darstellt.“5 Sehen wir uns die Argumente im Einzelnen an.

2.1 Judith Butler: Geschlecht ist semantisch konstruiert

Butlers Ansatz ist erkenntnistheoretisch: Alles Wirkliche muß durch Erkennen/
Sprechen vermittelt sein, auch der (eigene) Körper. Normativität könne
niemals aus der Natur, immer nur aus Kultur stammen; die Rede von Mann und
Frau im Blick auf den Körper sei in ihrer verborgenen, durchwegs unbewußten
Normativität aufzudecken. Erst der Imperativ der heterosexuellen Norm führe zu
einer binären Geschlechtswahrnehmung: Allein diese sei erlaubt und sinnvoll –
und werde daher als einzige eingeblendet. Andere geschlechtliche Möglichkeiten
gerieten damit von vornherein aus dem Blick. Wenn diese Konstruktion – Ge166
schlecht als Folge einer latenten, nicht begründeten Norm – durchschaut sei,
verfalle damit auch die Auffassung von einem „anderen“ Geschlecht.6

Butlers Radikal-Konstruktivismus unterläuft der Absicht nach den Sex-Gender-
Dualismus, indem Erkennen, Sprache und Symbolik einfach auf den Körper
geschrieben werden, und zwar eher vom Individuum, weniger von einer gemeinsamen
Kultur ausgehend (genauer: Kultur soll über Individuen verändert werden).
Die Faktizität des Körpers gilt als leer, als tabula rasa je meines Entwurfes;
insofern kann (soll?) er mehrfach und immer wieder überschrieben werden. Fließende
Identität hat auch das (aufklärerische) Denken von Subjekt als oktroyierte
Norm aufzudecken. Dieser Vorschlag geht folgerichtig an die Grenzen der Sprache,
sofern sie unterschwellige Normen oder eben binäre geschlechtliche Zuweisungen
tradiert. Tatsächlich ist die Umformung von Sprache ebenfalls ein politisches
Ziel dieser Art von Konstruktivismus.7

Auch Grammatik wird aufgebrochen:
In englisch-sprachigen Ländern, vor allem in USA und Australien, wird
anstelle von he/she oder her/his tendenziell das „gender-neutrale“ they oder their
im Sinne eines Singulars (!) propagiert, auch wenn es grammatisch mißverständlich
wird. („This person carries their bag under their arm.“) In Spanien ist es
unter der sozialistischen Regierung bereits Gesetz, anstelle von Vater und Mutter
in den Geburtsurkunden nur noch „Progenitor A“ und „Progenitor B“ einzutragen,
um Geschlechtsangaben zu vermeiden.8 Daß es damit sprachlich nur noch
„Erzeuger“, nicht aber mehr „Gebärende“ gibt, ist offensichtlich gegen eine
sperrige Sprache, die noch prämodernen Mustern verhaftet bleibt, in Kauf zu
nehmen.

2.2 Verschwinden des Leibes im neutralen Körper
Butler läßt eine tief problematische Ausblendung, fast überscharf, erkennen. Ihr
„Linguizismus“9 verstärkt sogar den Sex-Gender-Dualismus, den er aufzulösen
beabsichtigt: Sie versteht den Körper als un-wirkliches, un-soziales, passives
Objekt, nicht mehr als Subjekt des Diskurses: Er spricht nicht mehr mit, macht
selbst keine Aussage mehr über sich. Dieses Verstummen oder Sich-willenlosÜberschreiben-
Lassen weist auf ein entschieden dominantes Verhalten zum
Körper hin: Keinesfalls ist er mehr „Leib“ mit eigener „Sprachlichkeit“, zum
Beispiel in seiner unterschiedlichen Generativität von Zeugen und Empfangen/
Gebären oder in seiner unterschiedlichen leibhaften Erotik von Eindringen
und Annehmen/Sich-Nehmen-Lassen. Zum „Ding“ reduziert, bleibt er gleichgültig
gegenüber dem willentlich Verfügten. Aus Leib mit der Wortwurzel lb- (wie
in „Leben“ und „Liebe“) wird endgültig Körper (corpus in der Nähe von corpse).

Seine Symbolik wird nicht fruchtbar, die phänomenale Selbstaussage kastriert.10
Die radikal dekonstruktivistische Gender-Theorie steht dem Gedanken einer
Gegebenheit des Geschlechts deswegen abweisend gegenüber, weil darin ein
rascher Schritt vom Sein zum Sollen vermutet wird. Dieses Tabu wäre aber mittlerweile
umgekehrt zu befragen: Statt des „biologistischen Fehlschlusses“
herrscht hier ein „normativistischer Fehlschluß“: Normen werden einfach – je
nach Situation, je nach Individuum – als willkürlich gesetzt verstanden und daher
aufgehoben, ohne je einen sachlichen Bezug vorauszusetzen. Das Ich kennt
keine Fleischwerdung; der Körper ist „,Platzhalter des Nichts’ und Hüter der
‚tabula rasa’ seiner scheinbar völlig ausgeräumten Ankunfts-stätte“.11

So gesehen liefert Butler eine erneute Variante der extremen Bewußtseinsphilosophie
mit ihrer hartnäckigen Körper-Geist-Spaltung (die eigentlich als „phallogozentrisch“
angegriffen wird). Der Vorwurf maskulinistischer Subjektzentriertheit
mit Fixierung des Objekts ist solcherart geradewegs umzudrehen. Butlers Epistemologie
schaltet Ontologie einfachhin aus. Von woher der Wunsch zur Überschreibung
(genauer: Beschriftung) des Körpers genommen wird, bleibt unklar –
gibt es nicht wenigstens vage reale Vorgaben für diesen Wunsch? Wenn schon
Text: Ist der Leib nicht wenigstens ein „Palimpsest“, will sagen ein Dokument,
dessen Erst-Beschriftung, obwohl ausradiert, hie und da wieder durchschimmert?

Ist er nicht sogar ein „Kryptogramm“, ein „Intext“, der im (beliebig?) dekonstruierbaren
Text hartnäckig aufscheint?12 Die Dekonstruktion des Leibes gerinnt zur
Geste des Imperators, der in fremdes unkultiviertes Gebiet eindringt und es besetzt
– obwohl er dies doch selbst „ist“. Widerstandslos, ja nichtig bietet sich der
Leib als „vorgeschlechtlicher Körper“ an.

2.3 Fließende Identität als Kunstwerk und politischer Hebel
Die Sprengwirkung solcher Vorstellungen ist beträchtlich. Der offene Körperbegriff
oder auch die „fließende Identität“ sind mittlerweile z. B. in der Bildenden
Kunst bereits benutzt. Die Resonanz auf eine zunächst sehr theoretisch klingende
Idee wurde beispielsweise spielerisch verarbeitet in einer „hypothetischen
Sammlung“ von Werken junger schweizer Künstler.13 In der Ankündigung war
vom „irritierenden Spiel mit den vertrauten Geschlechterkategorien und Sexualitätsdispositiven“
die Rede. „Der Körper wird inszeniert, um überhaupt definiert
zu werden, und überschreitet damit die Grenze zum Artifiziellen.“14 Die Französin
Orlan (ein Pseudonym) hat in einer Computer-Überblendung berühmter
Frauen ein ideales Selbstporträt entwickelt, auf das hin sie sich, über Video dokumentiert,
chirurgisch verändern läßt. „Indem ich eine andere werden möchte,
werde ich ich selbst.“ Anders: „My body is my art.“ Solche Utopien der fließenden
Identität im Sinne des totalen Selbstentwurfes setzen sich zunehmend durch.

„Ich“ und „mein Leib“ sind angeblich virtuelle Größen. Auch der Popstar Michael
Jackson hat sich mit Hilfe mehrerer Operationen ein solches transsexuellsynthetisches
Gesicht zusammenstellen lassen. Dazu paßt der Witz: Ein Kind
wird geboren; endlich erreicht die Oma den Vater am Telefon mit der Frage: „Ist
es denn ein Bub oder ein Mädchen?“ Darauf er stolz: „Das lassen wir es später
selber mal entscheiden.“

Ähnlich arbeitet die Romanistin Barbara Vinken die Mode als Feld für „Travestie
und Transvestie“ heraus: „Mode spielt mit den Geschlechterrollen, parodiert
sie, durchkreuzt sie auch oder eignet sie sich an.“15 Im selben Prozeß, dessen
Hauptwort „Konstruktion“ lautet, gerät natürlich auch das männliche Geschlecht
in Konstrukt-Zwänge oder Konstrukt-Freiheiten. So sind die Stereotypen der
Männlichkeit bereits durch die Antitypen in Auflösung begriffen oder, um in der
Begrifflichkeit zu bleiben, „im Ideal der androgyn-multiplen Körperlichkeit der
Techno-, Pop- und Cyber-Kultur bzw. in dekonstruktivistischen Gendertheo168
rien“16 erschüttert. Der Schritt zu dem bereits um 1900 aufgetauchten Schlagwort
vom „Dritten Geschlecht“ liegt nahe. Längst sind auch Schaufensterpuppen im
„gender nauting“, Navigieren zwischen den Geschlechtern, gestaltet; der Typ
„Zaldy“ hat hohe männliche Wangenknochen und einen sinnlichen weiblichen
Mund.

Diese „neue Weiblichkeit“ polarisiert sich nicht mehr gegenüber der „Männlichkeit“,
sondern unterläuft den Gegensatz „männlich“ und „weiblich“. Konkret ist
gemeint, daß ein Ausschöpfen aller sexuellen Möglichkeiten, insbesondere des
Lesbentums, von den bisherigen Konstruktionen freisetzen könne. Die eigentliche
Stütze der Geschlechter-Hierarchie sei die „Zwangsheterosexualität“, die als
bloßer Machtdiskurs entlarvt werden könne (Monique Wittig). Auch Transvestismus
sowie die Geschlechtsumwandlung, psychisch wie physisch, werden
denkbar und sogar wünschbar. Tatsächlich wird Geschlechtsleben „inszeniert“,
das Ich trägt die jeweilige geschlechtliche Maske – mit der Konsequenz, daß
„diese Maske gar kein Ich verbirgt“.17

Literarisch ist Ähnliches schon seit längerem bearbeitet, freilich durchaus parodistisch-
leicht: in Virginia Woolfs „Orlando“ von 1927. Ein narzißtischer junger
Adeliger gleitet in unaufhörlich wechselnden Amouren durch vier Jahrhunderte
und verwandelt sich dazwischen auch in eine Frau. Dieser spielerische Exkurs
über die Unbestimmtheit des Geschlechts trägt durchaus neurotische Züge. Der
Zwitter hinterläßt aber gerade heute Eindruck, wenn man dem Erfolg des Theaterstücks
und der Verfilmung traut.

Nicht weniger exotisch als die „fließende Identität“ wirkt die postmodernfeministische
Folgerung, den Begriff des Körpers, durch den Begriff des „Cyborg“
= „Cyber Organismus“ abzulösen.18 Die amerikanische Feministin Donna
Haraway propagiert deswegen eine neue Denkweise, „in der die Begriffe von
Körper und Subjekt einer neuen Terminologie weichen, bei der man von ständigen
Prozessen ausgeht, in denen Informationsströme und Kodes sich kreuzen
und immer neue, vorübergehende Bedeutungen entstehen. Körper und Geist
werden nicht mehr als ontologisch begründete Entitäten aufgefaßt. Im Gegenteil,
der Körper, der traditionellerweise als der materielle Aspekt des Menschen betrachtet
wird, macht in paradoxer Weise einer semiotischen Materialität Platz,
die weder eine biologische Gegebenheit, noch eine rein kulturelle Schöpfung ist.

[...] das ‚Objekt‘ tritt immer in einer bestimmten Sprache, einer bestimmten
Praxis, in einem bestimmten historischen Kontext zutage.“19 Sofern Biologie
nicht mehr einen identischen Körper beschreibt, sondern ein Diskurs über den
Körper sei, ist von einer vorhandenen Identität dieses Körpers auch nicht mehr
die Rede.

Zu konstatieren sind also mannigfaltige, auch künstlerische Ansätze zur Auflösung
und Neuinstallation des Körpers im Sinne einer fortlaufend zu inszenierenden
Identität, die sowohl die bisherige angebliche Starre des Körperbegriffs als
auch seine Abgrenzung von der Maschine aufheben – zumindest fiktiv in spielerischer
Virtualität, teils bereits real mit Hilfe operativer Veränderung. Der
Mensch als seine eigene Software mit der entsprechenden Verpflichtung zur
(Dauer-)Transformation – diese Vision kennzeichnet eine Zerstörung, zumindest
die Vernachlässigung eines umfassenden Leibbegriffs.

Konkret bedeutet dies eine neue Praxis und Gegennormierung: Homosexualität,
möglicherweise sogar inzestuöse Verbindungen (so Butler) werden als politisches
Mittel vorgeschlagen, um als Ziel den Staat und die Gesetzgebung zu einer
Abschaffung bisheriger Normierungen zu zwingen und die individuelle Wahl
variabler Geschlechtsbetätigung außerhalb irgendwelcher Normen zu ermöglichen.

Staat und Recht werden in Bezug auf Geschlecht unnötig; Staat wird in
Individuen atomisiert, deren Geschlechtsbezeichnung als (vorläufige) Geschlechtsorientierung
nicht mehr abgefragt werden darf.20 Um so merkwürdiger
ist, daß seit der Weltfrauenkonferenz in Peking gender mainstreaming noch als
Mittel der Frauenpolitik grundsätzlich überall durchgesetzt werden soll. Ob es
sich dabei um eine Soft-Version handelt?

3. Kritik der radikal dekonstruktivistischen Gender-Theorie

Das in den letzten zwanzig Jahren explodierende interdisziplinäre Material zum
„sozialen Geschlecht“ („Gender“) brachte eine Fülle radikaler Neuansichten zu
Tage. Diese Ansichten sind nicht einfach kurzschlüssig zu erfassen, als „progressiv“
gutzuheißen oder zu verwerfen. Sie können durchaus in die Geschichte des
Körperbegriffs seit der Antike bis zur Neuzeit eingeordnet werden. Bereits darin
zeigen sich nämlich ererbte, nicht unerhebliche Aussparungen des Gesamtphänomens
„Leib“. Zumindest seit Descartes wurde der Körper eben nicht mehr als
mein Leib, als Träger meiner Subjektivität verstanden.

Das Christentum hatte demgegenüber durch die Aussage der „Fleischwerdung“ Gottes eine ganz andere
Sicht auf den Leib eröffnet; diese wurde aber viel zu selten philosophisch angerissen.
21 Auch andere nicht-mechanische Leib-Begriffe der Tradition (nicht jeder
Geist-Leib-Dualismus muß von vornherein leibfeindlich sein) müssen neu bedacht
werden. Die heutige Pointe einer Selbsterstellung des eigenen Körpers
zeigt jedenfalls, daß postmoderne destruktiv wirkende Thesen durchaus in einer
männlich (!) geprägten Philosophie wurzeln und keineswegs einem kritischen
Weiterdenken entzogen werden dürfen. Gerade das begrifflich scharfe Lesen der
durchwegs komplizierten Autorinnen ist zugleich Ansatz für eine treffende Kritik.

Beispiele liefern die Körper-Theorien von Simone de Beauvoir, Judith Butler
und Donna Haraway, deren letztlich unterschwellige Widersprüche bei genauer
Betrachtung aufscheinen. Bei allen dreien kommt es (ungewollt? jedenfalls unausgesprochen)
zu einer Abwertung des weiblichen Leibes, sei es in seiner Vermännlichung
(Maskulinisierung) bei Beauvoir, seiner Entwirklichung (Deontologisierung)
bei Butler oder seiner entgrenzenden Technisierung (Denaturalisierung)
bei Haraway.

Der Umgang mit der Gender-Theorie bedarf der Kenntnis der Argumentationsstränge
von der alteuropäischen bis zur neuzeitlichen Philosophie; er bedarf eines
hohen Problembewußtseins und der Fähigkeit, das komplexe Thema sicher durch
seine verschiedenen Spielarten zu leiten, ohne den roten Faden zu verlieren und
zu vereinfachen. Es ist zu beobachten, daß auch innerhalb der feministischen
Diskussion die These bloß konstruierter Leiblichkeit nicht einfach geteilt wird.

So hat Lyndal Roper entwickelt, der Leib (weiblich oder männlich) sei keineswegs
nur diskursiv und sozial erstellt, sondern durch physische Kennzeichen
bestimmt.22

Sofern Wirklichkeit nur über Rollenspiel – gleichgültig ob dekonstruiertes oder
neu konstruiertes – erklärt wird, verlieren sich gültige Aussagen über Identität.
Sofern auch der Körper nur Spielplatz beliebig wechselnder Bedeutungen sein
soll, bedürfte es jeweils erst der Verhandlungen, in welchem Sprachspiel „der
Körper“ zu behandeln sei. Auch wechselnde Eigenschaften bedürfen eines Trägers.
Gegenüber dem variablen „Rollenspiel“ und der Auflösung des Ich in ein
„Produkt männlicher Aufklärung“ ist der Begriff der Person neu und vertieft ins
Auge zu fassen. Dieser Begriff der Person entstand ursprünglich durch Boethius
im 6. Jahrhundert in Verarbeitung der christlichen Impulse. Er unterfängt die
Geschlechtsdifferenzen, ohne sie aufzuheben: durch die gemeinsame Personalität.
23

Was die These von der Umwandlung des Geschlechtes (psychisch oder physisch)
in ein anderes Geschlecht betrifft, so ist dem entgegenzuhalten, daß –
abgesehen von organischen Mißbildungen oder Zwitterbildungen – jede Person
auch in ihrer „Hälftigkeit“, die das Geschlecht ausmacht, dennoch ein Ganzes ist.
Die Person in ihrer geschlechtlichen und sonstigen Differenzierung stellt nicht
nur einen schmalen Ausschnitt aus dem Ganzen an möglicher menschlicher
Erfahrung vor, sondern in dieser ihrer Begrenztheit ist sie zur Wahrnehmung des
Ganzen befähigt. Das ist der Grund, weswegen auch Jungfräulichkeit nicht als
Mangel, sondern als Erfüllung gelebt werden kann.

Deutlich und unabweisbar ist die Notwendigkeit eines weitergehenden Nachdenkens
über „Wirklichkeit“ als „gegeben“ und nicht bloß „(selbst)gemacht“. Leib
als „datum“ muß nicht erst ein „factum“ werden, um annehmbar zu sein. Solche
Fragen betreffen nicht allein die Philosophie, sondern bereits die Alltagskultur
(siehe die synthetische Kunstfigur Michael Jackson). Ist der „weibliche Eunuch“
24 das Modell der Zukunft?

Die heutige radikal dekonstruktivistische Gender-Theorie steht zweifellos dem
Gedanken von Gabe/datum ausgesprochen skeptisch gegenüber, zumal darin ein
rascher Schritt vom Sein zum Sollen vermutet wird. Auch dieses Tabu wäre
mittlerweile zu befragen: Statt des „biologistischen Fehlschlusses“ herrscht heute
ein „normativistischer Fehlschluß“: Normen werden einfach – je nach „Bedürfnis“
– gesetzt und wieder aufgehoben, ohne den Bezug auf das zu lösende Problem
zu vertiefen.

4. Vorgabe und Anverwandlung

Man könnte auch einwenden, daß die Suppe so heiß nicht gegessen wird: Sind
nicht unter dem Stichwort Gender, verstanden als „Geschlechtergerechtigkeit“,
heute im politischen Raum viele Maßnahmen für Jungen und Mädchen, Männer
und Frauen sinnvoll einzufordern? Das ist richtig. Vielleicht wird der Alltag die
beschriebene Ideologie glätten und entschärfen. Auch viele katholische Frauen171
verbände haben Gender auf ihrer Agenda. In der Regel ist ihnen dabei der harte
Kern des Begriffs nicht bewußt oder sie glauben, ihn einfach praktisch nutzen zu
können. Wenn dies – im Gegenzug gegen die Leibferne von gender – gelingt,
sollte einen das freuen. Aber dazu bedarf es einer Offensive: mit Hilfe eines
christlich gestützten Leibverständnisses. „Ich habe einen Körper, aber ich bin
mein Leib“, lautet ein berühmter Satz von Helmuth Plessner. Ein Glaube, in
dessen Mitte die Fleischwerdung Gottes steht, kann die Annahme des eigenen
„gegebenen“ Leibes und seines Geschlechts anbieten. Seine „Anverwandlung“ in
Leib, Liebe, Leben ist viel dringender als seine virtuelle Veränderung in einem
Niemandsland. Anstelle von „fließender Identität“ ist ganz umgekehrt Mannsein,
Frausein die „Urgabe“. Nur der wirkliche Leib schließt das Abenteuer der Liebe
zum anderen Geschlecht (nicht zur Wiederholung im selben!) und das Abenteuer
von Kindern ein.

Der Gedanke der Selbstgestaltung des Menschen ist an sich gesehen weder sachlich
falsch noch moralisch böse. Er gründet in der merkwürdigen – auszeichnenden
wie gefährlichen – Tatsache, daß der Mensch unter den anderen Lebewesen
tatsächlich eine Sonderstellung einnimmt, auch im Blick auf sein Geschlecht –
schon rein naturwissenschaftlich betrachtet. Die Sonderstellung beruht – nach
Jahrzehnten der vergleichenden Verhaltensforschung bekannt – auf der Instinktarmut,
der erstaunlichen „Unbehaustheit“ des Menschen in der Welt. Positiv:

Er hat zwar keine Reiz-Reaktions-Sicherheit wie ein Tier, dafür aber Freiheit vom
Instinkt und Freiheit zur Welt und zu sich. Freiheit von bietet volles Risiko der
Fremd- und Selbstgefährdung. Freiheit zu bildet zugleich die schöpferische
Flanke: zur Gestaltung von Welt und Mensch – als homo faber. Anthropologie
kommt daher nicht umhin, den Menschen als spannungsreiche Wirklichkeit zu
beschreiben, das heißt als zwischen Polen „ausgespannt“: dem Pol einer gegebenen
Ausstattung der „Natur“ und dem Gegenpol der Veränderung: einem Werden,
einem Futur, der „Kultur“. „Werde, der du bist“, formuliert der orphische
Spruch, aber was so einfach klingt, ist das Abenteuer eines ganzen Lebens. Abenteuer,
weil es weder eine „gußeiserne“ Natur noch eine beliebige „Kultur“
gibt, sondern datum und factum in lebendiger Beziehung stehen: zwischen Grenze
der Gestalt (positiv: dem „Glück der Gestalt“) und Freiheit (positiv: „dem
Glück des Neuwerdens“).

In Anwendung auf die vorliegende Frage heißt das: Ein Tier hat seine Geschlechtlichkeit
und muß sie nicht gestalten; daher ist seine naturhaft gesicherte
Sexualität frei von Scham und funktional eindeutig auf Nachkommenschaft gerichtet.
Ein Mensch ist und hat seine Geschlechtlichkeit und muß sie gestalten:
Sie ist nicht einfach naturhaft gesichert, vielmehr kulturell bestimmt und schambesetzt
wegen des möglichen Mißlingens; außerdem ist sie funktional nicht notwendig
an Nachkommenschaft gebunden. Wir sind nicht distanzlos eins mit der
Geschlechtlichkeit, sondern von ihr distanziert: In ihr tut sich ein Freiraum für
Glücken und Mißlingen auf, auf dem Boden der unausweichlichen Spannung
von Trieb (naturhafter Notwendigkeit) und Selbst (dem Freimut der Selbstbildung).

Fleischwerdung im eigenen Körper, Anverwandlung der körperlichen
Vorgabe in den eigenen Leib, „Gastfreundschaft“ („hospitalité“ bei Levinas)
gegenüber dem anderen Geschlecht sind die Metaphern, die den Vorgang der
Annahme, nicht der Rebellion oder Neutralisierung, Nivellierung und „Verachtung“
der Vorgabe kennzeichnen.

Daher ist das zwiefache Geschlecht einer kulturellen Bearbeitung nicht nur zugänglich,
sondern sogar darauf angewiesen. Nur: Selbstgestaltung ist in eine
komplexe Ausgangslage gestellt. Geschlechtlichkeit ist zu kultivieren, aber als
naturhafte Vorgabe (was könnte sonst gestaltet werden?). Kultivieren meint:
weder sich ihr zu unterwerfen noch sie auszuschalten. Beides, Natur und „Überschreibung“,
läßt sich an den zwei unterschiedlichen Zielen der Geschlechtlichkeit
zeigen: der erotischen Erfüllung im anderen und der generativen Erfüllung
im Kind, wozu allemal zwei verschiedene Geschlechter vorauszusetzen sind.
„Zur erotischen Rechtfertigung des Menschen gehört das Kind“ – solche Sätze
können neuerdings wieder philosophisch geschrieben werden.25 Und auch das
Kind selbst ist wiederum kein Neutrum, sondern tritt als „Erfüllung“ des Liebesaktes
selbst in das zweiheitliche Dasein.

Zur kulturellen Bearbeitung gehört andererseits, aus der Zweiheit in eine gemeinsame
Welt zu blicken. Fruchtlos wird die Geschlechtsdifferenz dann, wenn
sie aus der Zweiheit einen Antagonismus des Herrschens und Sich-Unterwerfens
(beides auch noch gegenseitig) ableitet. Diese Verstörung der Geschlechter ist
hinlänglich bekannt und kulturgeschichtlich wirksam (gewesen). Zu diesem
Geschlechterkampf, zum Messen aneinander kann die zunächst „unschuldige“
Vorstufe des Sich-Nicht-Verstehens durchaus verleiten. „Frauensprache“/ „Männersprache“
ist immer noch nicht die Sprache zweier gegenseitig Taubstummer,
oder weniger dramatisch ausgedrückt: ist immer noch nicht Schicksal.

Denn:
Gerade auch das Geschlecht will noch einmal überstiegen, transzendiert werden
– eben auf den anderen hin; in diesem Übersteigen liegt die Beglückung, eben im
Finden des „Anderen“. Wo das Geschlecht im leeren Suchen zerschellt, was zu
den tragischen Möglichkeiten gehört, ist damit nicht schon sein Kern des „Übersich-
Hinaus“ trügerisch. Die christliche Kultur weiß von der Möglichkeit eines
Alleinseins, das sich auf ein göttliches Gegenüber bezieht – über das Geschlecht
hinaus.

5. Welche Lösungen wahrt das Christentum?

Es macht die Not unserer Existenz aus, daß sie alle Lebensvollzüge degradieren
kann. Es gibt die Zweckgemeinschaft Ehe, den Selbstgenuß im Sex, das frustrierte,
leergewordene Zölibat, das erzwungene, lähmende Alleinsein. Bibel und
Kirche, die an dieser Stelle immer seltener befragt werden, „wahren“ jedoch eine
„Lösung“ der geschlechtlichen Phänomene. Wenn am Ende eines philosophisch
argumentierenden Artikels das Christentum als Erkenntnisquelle eingeführt wird,
scheint dies ein unzulässiger Ebenenwechsel zu sein. Es geht dabei aber gerade
nicht um theologische Setzungen, sondern um jenen intellektuellen Thesaurus,
der in den eher narrativen biblischen Sätzen und in den Theologien der Jahrhunderte
phänomenal erschlossen werden will. Es ist aller Energie des Denkens
wert, den Aussagen über den Ur-Sprung des Geschlechts nachzudenken. Was
wird darin sachlich „verwahrt“?

Zunächst eine Einsicht in Fehlentwicklungen, an zweiter Stelle eine Formulierung
von „Fleischwerdung“, auch im Geschlecht.
Tatsächlich gibt es vor dem Maßstab der Bibel drei große (Fehl)entwicklungen
schon antiker Art, die bis zum heutigen Tage wirksam sind. Zum einen: Die
Vergötterung des Geschlechts wird wie alle welthaften Götzendienste abgewiesen
(Ex 20, 4f). In einer magischen Kultur sind alle ekstatisch-rauschhaften Zustände,
auch der Sexualgenuß, als unmittelbare Anwesenheit eines geheimnisvoll
Göttlichen (Numinosen) gesehen, gefeiert, ja angebetet worden, z.B. in der Form
von Fruchtbarkeitsriten. In der heutigen Form hat sich dies als das verantwortungslose
Überwältigen-Lassen durch den Trieb, dem man sich wie einer fremden
Macht ausliefert, erhalten. Mit dieser Potenz wird auch in den Medien gespielt:
mit dem Feuer einer tiefen, noch ungeordneten Faszination, die „wie von
außen“ anspringt.

Zum zweiten verwirft die Bibel den egozentrischen Ich-Genuß, der das Gegenüber
nur werkzeuglich (sklavisch) nimmt – hier fällt das Wort „Unzucht“ (Mk 7,
22; Röm 13, 13; Gal 5, 19; 1 Petr 4, 3). Aus seiner scheinbaren Antiquiertheit
übersetzt: Man kann den Leib zum (animalischen) Körper degradieren, die Personalität
ausklammern und den Trieb zum mechanischen Ablauf herabsetzen.
Solche „Abspaltungen“ bringen den ‚Sex’ hervor, der im Grunde die Beziehung
zu einer Ware erniedrigt und, noch deutlicher ausgedrückt, gerade die Frau,
neuerdings auch der Mann, als Ware verkauft. – Noch im 19. Jahrhundert betrachtete
übrigens eine atheistisch eingefärbte Medizin – im Soge der Aufklärung
– alle Leibvorgänge als bloße Maschinenreaktionen (1748 erschien das berühmte
Buch „L’Homme machine“ / „Die Menschmaschine“ von La Mettrie). Auch
seelische Empfindungen, die Liebe eingeschlossen, wurden als steuerbare Abläufe
gedeutet, als unfrei-mechanisch. In diesem Sinne konnte man auch von „Geschlechtsteilen“
an der Körpermaschine sprechen. Solche „Teile“ können verkauft
oder hergegeben werden, aber „das Ganze“ behält man für sich, auch in der
Geschlechtsbeziehung.

Drittens widerspricht die Bibel aber auch einer nicht minder gefährlichen Einschätzung
eines übersteigerten Idealismus: Der Leib wird vom Geist getrennt
gesehen und diesem untergeordnet. Wieder wird hier die Person in ihre „Teile“
zerschnitten, nur daß das Geistige als Maßstab empfunden wird. Hier kommt es
zur Scham, überhaupt einen Leib zu haben (wie in der Spätantike häufig formuliert),
ja der Bereich der Sexualität wird als tierisch empfunden. Das orphische
Wortspiel „Körper-Gefängnis“ (soma sema) wirkt durch die abendländische
Geistesgeschichte in mannigfaltigen (auch christlichen) Umsetzungen. Diese
Wirkung ist um so stärker, als ja tatsächlich Leib, Sexualität und Geist nicht
einfach aufeinander zugeordnet sind; nicht zuletzt ist die Scham eine Antwort
auf dieses Empfinden, in seinen Anlagen uneinheitlich zu sein. Auch außerhalb
des Christentums gibt es, wie die Kulturgeschichte breit belegt, eine Fülle von
unterschiedlichen Überformungen des Geschlechts durch Tabu, Askese, Triebverzicht.

Diesen Überformungen des Geschlechts stehen Entwürfe gegenüber, die den
Leib – im Alten wie im Neuen Testament – als Träger der Personalität (subjektiv)
sehen, und (intersubjektiv) weitergehend als Träger aller Beziehungen, zu
Welt, den Menschen, zu Gott. Im Alten Testament ist die innere Nähe von Geschlechtsliebe
und Gottesbeziehung mit großer Unbefangenheit ausgesprochen,
am strahlendsten im Hohenlied, wo die leibliche Liebe der beiden Menschen
zueinander auch auf die Liebe des Schöpfers zu seinem Geschöpf gelesen werden
kann (und in der mystischen Tradition lange gelesen wurde). Nicht zuletzt:
Gerade die Fleischwerdung Gottes ist ein Neueinsatz und eine Herausforderung:

Wie kann Gott überhaupt einen Leib und ein Geschlecht annehmen? Dies ist
entgegen allen Idealisierungen leibloser Göttlichkeit die eigentliche Unterscheidung
von allen anderen religiösen Traditionen, sogar vom Judentum. Caro cardo
– das Fleisch ist der Angelpunkt. Die Inkarnation Gottes setzt das gesamte Leibphänomen
in ein neues, unerschöpfliches Licht26 – nicht minder die leibliche
Auferstehung zu todlosem Leben. Auch Kirche wird als Leib gesehen, das Verhältnis
Christi zur Kirche als bräutliches (Eph 5, 25), und die Ehe wird zum
Sakrament: zum Zeichen realer Gegenwart Gottes in den Liebenden. Es ist dieses
Rückbinden des Geschlechts in seinen zentrifugalen Möglichkeiten an den ganzen
Menschen, das die Bibel vorstellig macht: damit der ganze Mensch sich
übersteigt, und nicht nur seine Biologie oder sein Geist ins Leere, ins Du-Lose
wegstreben.27 Statt dessen spricht die Sprache, wieder einmal überraschend, vom
Gegen-Über: worin der Anteil des „Über“ gerade am Du zu erfahren ist.

Auch dahin muß Geschlecht bearbeitet, kultiviert werden, aber nicht um seiner Zähmung
oder sogar Brechung willen, sondern seiner wirklichen und wirksamen
Ekstase wegen.28 Ekstase meint: „Liebe. Man verlegt den Mittelpunkt aus sich
selbst heraus.“29

Allerdings: „Aber wiederum in eine endliche Sache.“30 Das Glücken der Geschlechtlichkeit
kann daher weder durch das Sakrament noch durch anderen
Segen garantiert werden, aber christlich angeben lassen sich die Elemente, unter
denen die schwierige Balance gelingen kann: a) den Leib in seinem Geschlecht
und B) in der Anlage für das Kind als Vorgabe anzuerkennen. Anders: Im Endlichen
zu verbleiben – im Geschlecht sich nicht selbst genug sein können, im Kind
zu „sterben“. Das ist kein naiver Naturbegriff mehr, sondern die schöpferische
Überführung von Natur in kultivierte, angenommene, endliche Natur.

Dennoch und gerade deswegen steht sie im Raum der Übersteigung und nicht in
einem flachen Materialismus. c) Auch der Eros wird in den Bereich des Heiligen
gestellt: im Sakrament. Auch Zeugung und Geburt werden in den Bereich des
Heiligen gestellt: Sie sind paradiesisch verliehene Gaben (Gen 1, 28). Nie wird
nur primitive Natur durch Christentum (und Judentum) verherrlicht: Sie ist vielmehr
selbst in den Raum des Göttlichen zu heben, muß heilend bearbeitet werden.
Hildegard von Bingen sagt den schönen Satz, Mann und Frau seien „ein
Werk durch den anderen“ (unum opus per alterum). Wie tief solches Werk im
Leiblichen verankert ist, zeigt eben das Kind. „Leiblichkeit ist das Ende der
Werke Gottes“, formulierte der Pietist Friedrich Christoph Oetinger. „Frucht175
barkeit ist das Ende der Werke Gottes“, könnte man der Sache nach weiterformulieren,
leiblich und geistig verstanden.

Geschlecht ist Selbstgewinn und Selbstverlust im anderen, es ist fleischgewordene
Grammatik der Liebe. Leib ist schon Gabe, Geschlecht ist schon Gabe – aber
nicht im Festhalten als „meine“, „dir“ unzugängliche Habe, sondern im Weitergeben,
sogar im Entäußern, im Armwerden am anderen, zugunsten des anderen.
Aber auch nicht im Verwerfen der Gabe und in ihrem Umschreiben zur Selbstbemächtigung,
in der Sterilität der Verweigerung: Ich will mir nicht gegeben
sein. Nicht zufällig entfaltet sich heutiges phänomenologisches Fragen an einem
Denken der „Gabe“, wie Husserls Letzt-Begriff der „Gegebenheit“ weiterformuliert
wird.31

Geschlechtlichkeit ist Grund und Ur-Sprung des von uns nicht Machbaren, der
Passion des Menschseins. „Liebe, Schmerz der getrennten Existenz. Zwei Wesen
sollen eines sein, doch wenn sie eines wären, würde sich dieses Wesen selber
lieben, und welchen schlimmeren Alptraum könnte man sich vorstellen? (...)
Narziß verlangt von sich selbst, ein anderer zu werden, um ihn lieben zu können.
Der Liebende verlangt von der Geliebten, daß sie er wird.“32 Reich an dieser
Zweiheit und arm durch sie – mit ihr begabt, uns selbst aber nicht genügend, wie
Platon im Symposion zeigte, abhängig von der Zuwendung des anderen, hoffend
auf die Lösung durch den anderen, die aus dem Raum des Göttlichen kommt und
in ihrer höchsten, fruchtbaren Form dorthin zurückleitet (Gen 1, 27f). Was also
im griechischen Denken ein „Fehl“ ist: die mangelnde Einheit, wird im biblischen
Denken zum Glück der Zweiheit, die vom einen Ursprung unterfangen
wird.

Zu modischer Breite angewachsen ist heute ein ideologisch unterfüttertes Ausweichen
vor dem anderen Geschlecht, seiner Zumutung durch Anderssein. Männer
flüchten sich zu Männern, Frauen zu Frauen. Homoerotik vermeidet jeweils
die Zwei-Einheit aus Gegensatz, sie wünscht Zwei-Einheit aus Gleichem (allerdings
nur quasi, weil ein Partner doch die „andere“ Rolle übernimmt). Könnte
über alle Morallehren hinweg, die doch wenig greifen, die alte Genesis-Vision
heute erneuert werden, daß sich in dem Einlassen auf das fremde Geschlecht eine
göttliche Spannung, die Lebendigkeit des Andersseins und die Not(wendigkeit)
asymmetrischer Gemeinschaft ausdrückt? Schöpferisches, erlaubtes, leibhaftes
Anderssein auf dem Boden gemeinsamer göttlicher Grundausstattung – mit dem
Antlitz von Frau oder Mann: Das ist der Vorschlag des Christentums an alle
Einebnungen, Dekonstruktionen, Neutralisierungen.

Im Blick auf die programmatische Bedeutung des Geschlechts sieht Maximus
Confessor (um 580-662) ein einigendes Ziel dieser glücklichen Zweiheit, worin
ihr jetzt noch mögliches Unglück: die postlapsarische Verstörung, der fruchtlose
Kampf gegenseitiger Unterjochung, gegenseitigen Nicht-Verstehens aufgehoben
ist. Geschlecht kann ja auch von seinem Wortsinn, dem „Geschlachtetsein“ oder
Hälftigsein, her gelesen werden. Die Brutalität des Nur-Geschlechts, der „Fluß-
Gott des Bluts (...) ach, von welchem Unkenntlichen triefend“33, muß daher nach
Maximus endgültig vermenschlicht werden: „Zuerst einigte Gott in sich uns mit
uns selbst, indem er die Scheidung in Mann und Weib aufhob und uns aus Män176
nern und Weibern, an denen diese Unterschiedenheit des Geschlechtes das Hervorstechendste
ist, einfach und schlechthin zu Menschen machte, im wahren
Sinne des Wortes, da wir ganz nach ihm geformt wurden, sein unentstelltes Ebenbild
heil und unversehrt an uns tragend, an dem kein Zug von Vergänglichkeit
und Verderbnis mehr sein kann; dann einigte er mit uns um unsertwillen die
ganze Schöpfung, indem er durch das, was die Mitte einnimmt, die Extreme des
Alls zusammenfaßte, wie die Glieder eines Ganzen, das Er selbst ist, um sich
herum Paradieseswelt und Menschenwelt miteinander untrennbar verwebend: so
verband er Paradies und Erde, Erde und Himmel, Sichtbarkeit und Geisterwelt
miteinander, da er Leib, Sinnlichkeit, Seele und Geist in sich vereinigte, ganz
wie wir sie haben.“34

Das meint nicht neue Leibferne, es meint den nachdenklichen
Horizont verwirklichter Leiblichkeit, die ohne einen göttlichen Horizont
schwerlich zu denken ist.

Anmerkungen

1) Philip J. Sampson, Die Repräsentationen des Körpers, in: Kunstforum International,
Bd. 132. Die Zukunft des Körpers I, Ruppichteroth 1996, 94-111, hier: 101.
2) Regula Giuliani, Der übergangene Leib, in: Phänomenologische Forschungen NF 2,
1997, 110.
3) Vgl. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Einführung in die Philosophie der Renaissance,
WBG, Darmstadt ²1995.
4) Judith Butler, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, 1990. Dt.:
Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt 1991.
5) Jane Flax, Thinking Fragments. Psychoanalysis, Feminism and Postmodernism in the
Contemporary West, Berkeley 1990, 32ff.
6) Vgl. Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts,
Frankfurt 1997.
7) Vgl. Ann Pauwels, Gender Inclusive Language: Gender-Aspekte der Globalisierung
der englischen Sprache, Vortrag im Gender-Kompetenz-Zentrum der HU Berlin vom 16.
April 2004. Vgl.

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8) Bei dem Kongreß für die Familie in Valencia (Juli 2006), wozu der Heilige Vater
erwartet wurde, sagte Kardinal Trujillo, man müsse wohl jetzt „the Holy Progenitor“
begrüßen.
9) Silvia Stoller/Veronica Vasterling/Linda Fisher (Hg.), Feministische Phänomenologie
und Hermeneutik, Würzburg 2005, 91.
10) Vgl. H.-B. Gerl-Falkovitz, Zwischen Somatismus und Leibferne. Zur Kritik der Gender-
Forschung, in: IKZ Communio 3 (2001), 225-237, wo auch Edith Steins Phänomenologie
der Leiblichkeit herangezogen wird.
11) Ferdinand Ulrich, Der Nächste und Fernste – oder: Er in Dir und Mir. Zur Philosophie
der Intersubjektivität, in: Theologie und Philosophie 3 (1973), 317-350; hier: 318.
12) Ein Kryptogramm ist eine Folge von Buchstaben, die in einen Text eingelassen sind,
aber durch eine Hervorhebung (z. B. durch Rahmen, eine Figur) in einem zweiten Zusammenhang
zu lesen sind.
13) Im Kunsthaus Glarus/Schweiz 1996.
177
14) Carole Gürtler, Pickel, Narben, Spitzendeckchen, in: Basler Zeitung, 14.10.1996, 34.
15) Kathrin Hönig, Frau als Mann als Frau, in: NZZ Nr. 132 vom 11.6.1997, 32.
16) Christina von Braun, Der Stroh-Mann. Zur Konstruktion moderner Männlichkeit.
Rezension in der NZZ 129, 7./8.6.1997, 53, von: George L. Mosse, Das Bild des Mannes.
Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit. Frankfurt (Fischer) 1997.
17) Seyla Benhabib, Feminismus und Postmoderne. Ein prekäres Bündnis, in: Seyla
Benhabib/Judith Butler/Drucilla Cornell/Nancy Frazer, Der Streit um Differenz. Feminismus
und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt 1993, 15.
18) Donna Haraway, Woman, Simian and Cyborgs. The Reinvention of Nature, London
1991.
19) Lieke van der Scheer, „Menschlicher Körper?“ im Werk von Donna Haraway, Referat
bei der Robert- Bosch-Stiftung in Stuttgart, 4.-6. Mai 1995, 4 ff.
20) Tatsächlich hatte die PDS 2001 in den Deutschen Bundestag den Antrag eingebracht,
Geschlechtsbezeichnungen als diskriminierend aus dem Personalausweis zu tilgen.
21) Eine beispielhafte mittelalterliche Vorgabe liefert etwa die „Leibfreundlichkeit“ einer
Hildegard von Bingen.
22) Lyndal Roper, Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit,
Frankfurt 1995.
23) Grundlegend dazu die kompetente Darstellung des Personbegriffs bei: Robert Spaemann,
Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘, Stuttgart
1996.
24) Germaine Greer, Der weibliche Eunuch, Hamburg 1980.
25) Ferdinand Fellmann, „Das Paar“. Eine erotische Rechtfertigung des Menschen, Berlin
2005.
26) Eine phänomenologische Analyse dazu liefert: Michel Henry, Fleischwerdung, übers.
v. Rolf Kühn, Freiburg 2000.
27) Rilke thematisiert immer wieder eine Liebe, die über das Du des Mädchens hinweg in
„Weltraum“, ins „Offene“ geht; vgl. die zweite Duineser Elegie.
28) Vgl. H.-B. Gerl-Falkovitz, Eros – Glück – Tod und andere Versuche im christlichen
Denken, Gräfelfing 2001.
29) Simone Weil, Cahiers. Aufzeichnungen, München 1993, II, 83.
30) Ebd.
31) Vgl. dazu die phänomenologischen Arbeiten von Jacques Derrida, Jean-Luc Marion,
Bernhard Waldenfels, Michel Henry, in einem weiteren Sinn auch von Martin Buber und
Ferdinand Ulrich.
32) Simone Weil, Cahiers II, 75.
33) Rainer Maria Rilke, Die dritte Duineser Elegie, in: Rilke, Werke, Frankfurt: Insel
1980, II, 449.
34) Maximus Confessor, All-Eins zu Christus, hg. u. übers. v. E. v. Ivanka, Einsiedeln
1961, 52f.
Prof. Dr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz lehrt Religionsphilosophie und vergleichende
Religionswissenschaft an der Technischen Universität Dresden.
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