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Es ist einfacher, sich als "Heiler" niederzulassen


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Rolf

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Es ist einfacher, sich als "Heiler" niederzulassen denn als Friseur


In der Bundesrepublik sind ca. 20000 Heilpraktiker steuerpflichtig (Stand 2003, 1992: nur 7959, Quelle: Statistisches Bundesamt). Heilpraktiker dürfen als nichtärztliche Gesundheitsdienstleister nach Erlangen der Zulassung durch die untere Verwaltungsbehörde und das örtliche Gesundheitsamt eigenverantwortlich und ohne jede Kontrolle praktizieren. So dürfen Heilpraktiker in fast allen medizinischen Bereichen mit nahezu jeder Methode und insbesondere ohne jegliche Ausbildung psychotherapeutisch tätig werden (s. Anhang). Heilpraktiker unterliegen keiner Berufsordnung und müssen keine verbindliche Ausbildung absolvieren. Die Zulassung ist ein reiner Verwaltungsakt und beinhaltet (in den Ländern verschieden) meist ca. 60 Fragen mit vorgegebenen Antworten und eine kurze mündliche Befragung. Dieses Verfahren kann beliebig oft wiederholt werden.

Nach einem aktuellen Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem festgestellt wurde, dass das Recht auf freie Berufsausübung eines Einzelnen dem Anschein nach höher zu bewerten ist, als der sichere Schutz der Allgemeinheit vor Verfahren, die Heilung versprechen, ohne diesen Anspruch nachweisbar auch nur im mindesten halten zu können, ist die Lage prekärer denn je. Bot bislang die Zulassungserfordernis wenigstens noch eine niedrige Hürde, um allzu ungeeignete Kandidaten oder Personen ohne jegliche Kenntnisse wenigstens z.B. der Infektionskrankheiten auszusondern, ist nun jeder berechtigt, sich als "Heiler" niederzulassen, wenn er nur die Patienten darüber aufklärt, dass es sich nicht um eine Heibehandlung handele und er keine konkreten Diagnosen stellt.

Diese Tatbestände sind mit dem modernen Verbraucherschutzgedanken unvereinbar.

Der Verbraucher und Bürger, der ja im Regelfall Laie ist, hat nicht die Möglichkeit, jeden Heilpraktiker daraufhin zu überprüfen, ob er sich mehr angeeignet hat, als für die Zulassung gefordert, für einen verantwortungsbewussten und kompetenten Umgang mit körperlich oder psychisch kranken Menschen aber notwendig ist (s. Anhang). Er vertraut darauf, dass der Gesetzgeber ihn vor Unfähigkeit und Scharlatanerie schützt. So wird durch die amtliche Zulassung eine Seriosität suggeriert, die sich bei Kenntnis der näheren Umstände als haltlos erweist. Kein Patient würde sich freiwillig von einem Studenten nach dem ersten Semester behandeln lassen und er hätte Recht damit. Nur dem Umstand, dass die Bevölkerung im Regelfall nicht über die Zulassungsbedingungen (s. Anhang) informiert ist, ist der ungebrochene Zulauf zu Heilpraktikern zu verdanken (vielleicht auch neben einer gewissen Ärzteverdrossenheit in bestimmten Schichten). Bei selbsternannten "Heilern", das wird die Zukunft nach dem oben erwähnten Urteil zeigen, besteht sehr deutlich die Gefahr, dass Patienten eine rationale und wirksame Therapie versäumen.

Insbesondere Kinder und Jugendliche sind jedoch dringend darauf angewiesen, den Schutz des Gesetzgebers zu erhalten. Dieser Sorgfalts- und Fürsorgepflicht steht das jüngste BVerfG-Urteil entgegen; der Schutz der Verbraucher und Patienten muss höher stehen als die Interessen des Einzelnen. Alles in allem ist dieses Urteil erstaunlich: bekommen wir demnächst auch Piloten, die keine entsprechende Erlaubnis haben, die aber fliegen dürfen, wenn sie nur ihre Passagiere auf den fehlenden Flugschein hingewiesen haben?

Gesundheitsdienstleistung ist keine Dienstleistung wie alle anderen. Der Patient ist in verletzlicher und schutzbedürftiger Position. Mit dem o.g. Urteil ist es ausschließlich das Risiko des Patienten, wem er sich anvertraut. Mit der Freigabe des "Heilerberufs" ist Patientenversorgung eine gewöhnliche Dienstleistung geworden, bei der, und darauf muss man hinweisen, die Dienstleistung wohl bereits in der aufgewendeten Zeit besteht. Dieses Urteil wird sicher weitere Entscheidungen nach sich ziehen, in denen geklärt werden muss, in wie weit eine Dienstleistung erfüllt sein kann, wenn die Vorstellungen der beiden Vertragspartner bei Vertragsschluß dergestalt voneinander abweichen. Fraglich ist, ob in diesem Kontext überhaupt wirksame Verträge geschlossen werden können.

Die Entwicklung ist bedenklich.





Anhang:

"Geistheiler" dürfen Patienten "behandeln", wenn sie darauf verweisen, dass ihre "Behandlung" den Gang zum Arzt nicht ersetzt und sie keine Diagnosen stellen dürfen. So weit die Theorie. In der Praxis wird das anders aussehen: "Geistheiler" werden sich schriftlich versichern lassen, dass sie den Patienten hierüber aufgeklärt haben. Nicht festgehalten wird jedoch das gesprochene Wort. "Geistheiler" werden sehr wohl die Hoffnungen der Patienten auf Heilung schüren. Damit hat der Patient wenig Hoffnung, sein Geld wiederzusehen, wenn er es einmal gezahlt hat. Allen Patienten kann nur dringend abgeraten werden, sich im Krankheitsfall zum Spielball von selbsternannten "Heilern" zu machen, die keinerlei Mindestanforderungen erfüllen müssen. Nicht mal ein Erste-Hilfe-Kurs ist erforderlich, jeder, auch derjenige, der keinerlei Wissen um Krankheiten oder kranke Menschen hat und keinen Schulabschluß, kann jetzt als "Heiler" auftreten.

Heilpraktiker dürfen fast alles tun. Nur einige Tätigkeiten sind Ihnen vom Gesetzgeber untersagt. Ein Heilpraktiker darf:

-keine Mund-, Zahn- oder Kieferkrankheiten behandeln

-keine Geburtshilfe ausüben

-keine BTM-Medikamente oder verschreibungspflichtigen Medikamente verordnen

-keine Totenscheine ausstellen bzw. keine Leichenschau vornehmen

-keine Impfungen vornehmen

-keine Untersuchungen bei strafbaren Handlungen nach §§ 81a und 81c StGB vornehmen (z.B. Blutabnahme bei Alkoholdelikten im Straßenverkehr)

-keine medizinischen Leistungen im Rahmen der Rehabilitation durchführen.


Ein Heilpraktiker darf ansonsten fast alles. Er darf auch, was z.B. eine ausgebildete Krankenschwester trotz evtl. jahrelanger Berufstätigkeit nicht darf - Spritzen in die Vene geben! Er darf auch die Wirbelsäule (Chiropraktik) an Stellen manipulieren, wo jeder Fehlgriff eine Lähmung bedeuten kann (was auch vorkommt). Ein Heilpraktiker dürfte sogar operieren oder eine Klinik leiten und würde nicht gegen das Gesetz verstoßen.

Die Voraussetzungen für die Zulassung sind im Heilpraktikergesetz (HeilPrG) vom 17.02.1939 geregelt, eher unbeachtliche Einflüsse ergaben sich aus OLG-Entscheidungen in 1974 und 2002. (Regelungen zu den Prüfungen sind in den Ländern z.T. unterschiedlich und in Durchführungsverordnungen, DVO-HprG, zum Heilpraktikergesetz geregelt1, so dass es z. T. zum sog. "Prüfungstourismus kommte.) Die Zulassungsbedingungen und der Umstand, dass die Ausbildung nicht geregelt, bzw. eine Ausbildung in keiner Weise vorgeschrieben ist, blieben davon jedoch unberührt. So sind im Jahre 2003 wie im Jahre 1939 neben einem


-Mindestalter von 25 Jahren nur ein

-Hauptschulabschluß,

-gesundheitliche Eignung und

-sittliche Zuverlässigkeit (i.d.R. nachgewiesen durch ein polizeiliches Führungszeugnis), sowie ein
fester Wohnsitz zu belegen.


Die Überprüfung durch das Gesundheitsamt sieht einen kurzen schriftlichen Test mit "multiple-choice-Fragen" (heute üblicherweise 60 Fragen, bis 1995 mußten z.B. von 44 nur 31 Fragen korrekt beantwortet werden) vor, von denen 45 richtig beantwortet werden müssen. Die Fragen dürfen keine fachspezifischen, d.h. medizinischen Ausdrücke enthalten2.

Diese Überprüfung darf somit als reiner Verwaltungsakt, so oft der Prüfling will, wiederholt werden. Oftmals finden gleiche oder sehr ähnliche Fragen Eingang in aufeinanderfolgende Prüfungen. Eine etwa 30 minütige mündliche Befragung durch einen Amtsarzt, die ebenfalls keine Fachwörter enthalten darf und nach Belieben wiederholt werden kann, soll nur sicherstellen, dass von dem Anwärter keine direkte Gefahr für die Volksgesundheit ausgeht, das heißt, der Arzt prüft nicht, sondern ist nur im Rahmen der Gefahrenabwehr tätig1.

Dieser leichte Zugang weckt bei exzellenten Verdienstaussichten die Begehrlichkeit vieler Personen, die keinerlei formale Ausbildung erhalten haben. Es mag ernsthaft bemühte Heilpraktiker geben, die redlich versucht haben, sich im Selbststudium einige Kenntnisse von Anatomie, Biochemie, Physiologie und Pathologie des menschlichen Organismus anzueignen und auch mal ein Pharmazie-Buch von innen gesehen haben.

Dies ist jedoch in keiner Weise vorgeschrieben und auch nicht Gegenstand der Erlaubnis. Auffallend ist jedoch, dass in den meisten Heilpraktikerpraxen Methoden angewandt werden, die eben keine Kenntnis dieser Fachbereiche voraussetzen, sondern eher dem vorwissenschaftlichen und magischen Denken zuzuschreiben sind3. So werden Verfahren angeboten, die außer dem festen Glauben an ihre Wirksamkeit (so mag der eine oder andere Placeboeffekt entstehen) keinerlei Prüfung durchlaufen haben, bzw. deren vermeintliches Wirkprinzip so abstrus ist, dass es schon vor langer Zeit in der Mottenkiste der Wissenschaftsgeschichte gelandet ist. Gemein ist vielen dieser Verfahren auch, dass sie sich hinter wissenschaftlich klingenden Namen verbergen, womit der Patient, der ja meist Laie ist, beeindruckt werden soll.

Das aktuelle Urteil des BVerfG setzt noch einen drauf: Die Freiheit des Berufes, also ein individuelles Grundrecht, wird über die in Gesundheitsfragen wichtige Regelungsbefugnis des Staates gesetzt. Damit wird dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Auch haftungsrechtlich sieht es da wohl ganz trübe aus - mit dem schlichten Hinweis darauf, dass es sich nicht um eine Heilbehandlung handele, ist der Heiler außen vor. Kranke, Verzweifelte und Leichtgläubige werden so schutzlos der Geschäftstüchtigkeit Einzelner ausgesetzt. Da müssen wohl erst Menschen sterben, bis sich da wieder etwas ändert.

An die Betreiber von sogenannten Heilpraktikerschulen werden ebenfalls keinerlei Anforderungen gestellt. Diese Umstände bedingen, dass sich Heilpraktiker in einem quasi rechtsfreien Raum bewegen. Hebammen und Krankenschwestern z.B. als ebenfalls nichtärztliche Dienstleister sind an seriöse Bildungseinrichtungen gebunden und müssen eine mehrjährige Ausbildung durchlaufen, die bestimmte Inhalte vermittelt und Prüfungen über diesen Lehrstoff fordert. Darüber hinaus ist das Betätigungsfeld der Hebammen begrenzt, Krankenschwestern arbeiten i.d.R. weisungsgebunden. Heilpraktiker haben mithin bei geringeren Anforderungen größere Handlungs- und Behandlungsfreiheit.

Verglichen mit dem Handwerk z.B. des Friseurs ist eine extreme Ungleichbehandlung gegeben. Muß doch der Friseur, bevor er einen Salon eigenständig eröffnen kann, in der Handwerksrolle eingetragen sein. Dies erfordert einen Meistertitel, der erst nach meist mehrjähriger Gesellenzeit und umfangreicher Meisterprüfung vergeben wird. Geselle wird im Handwerk jedoch nur, wenn man eine zwei- oder dreijährige Lehrzeit absolviert und die Gesellenprüfung bestanden hat. In letzter Konsequenz heißt das wohl, dass eine schlechte Frisur für die Gesundheit gefährlicher ist als die Möglichkeit einer nicht erkannten Hirnhautentzündung.

Zahlreiche Fälle von Fehlbehandlungen durch Heilpraktiker sind vor den Gerichten entschieden worden. Doch es ist in Deutschland leider immer noch so, dass Heilpraktiker nicht so hart bestraft und zur Verantwortung gezogen werden, wie dies bei Ärzten in vergleichbaren Fällen getan wird. Grund dafür ist die oben genannte fehlende Berufsausbildung und vor allem der fehlende Qualifikationsnachweis der Heilpraktikerzunft. Die Gerichte scheinen nach dem Grundsatz zu handeln, dass Unwissenheit schützt ... und bestrafen nur denjenigen Behandler wirklich hart, der hinreichend ausgebildet ist, die Konsequenzen seines Handelns abschätzen zu können. Patienten schauen im Hinblick auf Schadensersatz deshalb beim Heilpraktiker nicht selten in die Röhre!


Deshalb ist zu fordern:

1. Novellierung des HeilPrG von 1939

2. Schutz der Allgemeinheit vor selbsternannten "Heilern"
3. Erstellung eines Heilpraktikerausbildungsgesetz
4. Keine Behandlung von Kindern und Jugendlichen durch Heilpraktiker


1Ungeachtet des Wortlautes von § 2 Abs. 1 1. DVO-HprG kommt der Behörde bei der Entscheidung über die Erteilung der Heilpraktikererlaubnis kein Ermessen zu. Vielmehr ist jeder Antragsteller zur berufsmäßigen Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung zuzulassen, wenn bei ihm keiner der Versagungsgründe in § 2 Abs. 1 1. DVO-HprG vorliegt. Bei der in 2 Abs. 1 Buchst. i 1. DVO-HprG vorgesehenen Überprüfung handelt es sich um keine Prüfung im Sinne eines berufsqualifizierenden Abschlusses einer Ausbildung, da für die Ausübung des Heilpraktikerberufes keine bestimmte Ausbildung vorgesehen ist; die Überprüfung ist beliebig wiederholbar. Die Verwaltungsbehörde wird bei der Anwendung von § 2 Abs. 1 Buchst. i 1. DVO-HprG ausschließlich im Rahmen der Gefahrenabwehr tätig.

2Bayer. Verwaltungsgerichtshof Az.: 7 B 90/2378

3Aus dem Programm der Heilpraktiker Tage Essen 2002: u.a.: Therapien mit körpereigenen "Wirkstoffen" Eigenurin und Eigennosoden (Anführungszeichen von der Verf., Nosoden sind Zubereitungen aus z.B. Schleim oder Eiter, die verabreicht werden); Test und Behandlungsmöglichkeiten bei Therapieresistenz mit der neuen Bicon-Bioresonanztherapie; und dergleichen mehr...
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