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"Wir legen Wert auf freundlichen Umgang"


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Rolf

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"Wir legen Wert auf freundlichen Umgang"




Ein Gymnasium in Berlin-Neukölln lehrt türkische und arabische Schüler Latein. Die Schüler erklären Verbformen und den Gallischen Krieg - und erwerben so auch Deutschkenntnisse und humanistische Bildung


Draußen, jenseits der schweren Schulpforte des Ernst-Abbe-Gymnasiums, tobt der Lärm der Sonnenallee. Drinnen herrscht eine erstaunliche Ruhe, obgleich ein paar Hundert Schüler in der kleinen Pause über den Pausenhof in andere Gebäude müssen. Man lacht, man quatscht, niemand schreit. Die Mädchen halten sich, wohl ein universales Verhalten, untergehakt. Reichlich Kopftücher hier, auch über ganz kindlichen Gesichtern. Nur zwei Jungen, etwa siebte Klasse, also in der aufmüpfigen Phase früher Pubertät, rangeln hinter der Tür.

Christoph Hoeft, Fachlehrer für Latein und Gesellschaftskunde, fasst sie leicht an der Schulter. "Könnt ihr mal bitte aufhören?" Um die Bedeutung dieses Moments nachvollziehen zu können, muss man wissen: Nur wenige Hundert Meter entfernt befindet sich die Rütli-Schule, deren Lehrer sich vor zwei Jahren mit einem verzweifelten Brief an die Öffentlichkeit wandten, weil sie der Gewalt nicht mehr Herr wurden. Private Wachdienste vor den Eingangstüren der Schulen im "sozialen Brennpunkt" Nord-Neukölln sind keine Seltenheit mehr. Und Hoeft, ein eher schmaler Mann mit dem blassen Teint der Rothaarigen, wirkt nicht so, als entspringe seine Autorität physischer Überlegenheit.

Die beiden Jungen schauen verdutzt. Dann lassen sie einander kichernd los, "war nur Spaß, Herr Hoeft", und beeilen sich, in ihren Unterricht zu verschwinden. Über 80 Prozent der Schüler im Ernst-Abbe-Gymnasium haben einen "Migrationshintergrund". Das sind, wie in der Klasse 10c, etwa 18 von 20 Jugendlichen. Neben einigen Kindern von Flüchtlingen aus Ex-Jugoslawien und einer kleinen Anzahl von Vietnamesen ist die überwiegende Mehrzahl türkischer und arabischer Herkunft. Fast alle kommen aus Familien, in denen man Satellitenfernsehen schaut, aber selten Bücher liest und Theaterbesuche in eine ganz andere, fremde Welt gehören.Im Lateinunterricht lesen die Sprösslinge der bildungsfernen Eltern die "Türkischen Briefe" des flämischen Gelehrten Augerius Gislenus Busbequius, der 1554 als Gesandter des Heiligen Römischen Reiches zu Suleiman dem Prächtigen nach Istanbul geschickt wurde.

Die erste Begegnung zwischen den Kulturen verlief nicht spannungsfrei; der Sultan zeigte zunächst wenig Interesse am Gesandten aus dem Westen und schickte ihm in der ungarischen Tiefebene gut bewaffnete Truppen entgegen. Bevor die Klasse über mögliche Ausgänge des ersten Zusammentreffens spekuliert, geht es um die genaue Bestimmung des Verbs "deducere". Finde die passende Übersetzung für "ferre", dieses Passepartout der lateinischen Sprache, das von "tragen" bis "überall behaupten" so ziemlich alles heißen kann. Wen Hoeft auch aufruft: Die Antworten kommen ohne langes Zögern. "Diszipliniert" könnte man die Atmosphäre nennen, klänge das nicht zu sehr nach humorfreier Paukanstalt. Es schwingt etwas viel Wertvolleres mit: ein spürbarer Wille voranzukommen.Vor Kurzem behandelten die zehnten Klassen die Gründung der Bundesrepublik und das Grundgesetz.

An der Wand des Klassenzimmers hängen Plakate mit umgedichteten Texten der Nationalhymne. "Frieden, Toleranz und Freiheit, liegen ganz in unsrer Hand" steht dort in ungelenker Schrift. "Leben ohne Vorurteile, lebe Multikulti-Land". Unter "multikulti" verstehen die Schüler, dass "man friedlisch neb'neinander lebt". Der Kiez-Slang ist trotz korrekter Verbformen noch spürbar. Und Heimat? "Berlin", oder besser "Neukölln", antworten die meisten. Dort, wo sie geboren wurden und "wo unsere Freunde sind". Freunde in anderen Stadtteilen haben die wenigsten. Wie auch. Vor allem die Mädchen verlassen ihr Viertel so gut wie nie. "Sie sind dankbar", sagt Schulleiterin Birgit Nicolas, "wenn sie im Rahmen der Schulprojekte einmal woanders hingehen." Derzeit arbeiten die siebten Klassen zusammen mit Jahrgangsgenossen der Rheingau-Oberschule im bürgerlichen Friedenau an einer gemeinsamen Aufführung von Teilen der Rossini-Oper "Il turco in Italia". Sie soll im Sommer auf der Probebühne der Staatsoper Berlin stattfinden.

Der Begriff "Heimat" reizt den Geschichtskurs der Jahrgangstufe 13 bei Jan Ebert wenig. Echauffieren mögen sie sich lieber über die Debatte, die Roland Koch im hessischen Wahlkampf angestoßen hat. "Warum sollen kriminelle Ausländer abgeschoben werden?", fragt Mustafa, dessen schmale Wangen ein schwarzer Dreitagebart ziert. "Die Probleme mit diesen Leuten sind doch hier entstanden, dann müssen sie auch hier gelöst werden." Zustimmendes Gemurmel. "Ich finde, die Politiker lassen uns im Stich. Sie reden von Integration, aber sagen uns nicht, was sie damit meinen", kritisiert Hatice. "Ich empfinde mich als integriert", hält Murat dagegen. "Ich beherrsche die deutsche Sprache, mache Abitur, werde studieren und dem Staat nicht zur Last fallen." "Wieso soll Integration davon abhängig sein, ob ich dem Staat zur Last falle?", erwidert Mustafa. "Und was ist mit den Deutschen, die Stütze kassieren?" "Die sind", beharrt Murat, "in meinen Augen genauso wenig integriert wie Ausländer, die sich nicht bemühen, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu sein." Niemand schmunzelt über den Ausdruck "nützliches Mitglied der Gesellschaft".

Es herrscht ein ziviler Umgangston. Man lässt einander ausreden. Man macht sich nicht lustig. Der Slang der Straße, der unter den 15-Jährigen noch zu hören war, ist gänzlich verschwunden."Wir legen Wert auf einen freundlichen und netten Umgang", sagt Schulleiterin Birgit Nicolas. Freundlich und nett. Wann wären diese Bezeichnungen zum letzten Mal im Zusammenhang mit einer Schule in Neukölln oder sonst einem von Migranten bewohnten Viertel gefallen? Und wie bekommt man einen anständigen Umgangston hin, während Sicherheitsdienste an anderen Schulen den Kindern schon mal die Messer abnehmen?Natürlich - ins "Ernst Abbe" wechseln die begabteren Kinder. Aber das bedeutet nicht, dass damit alle Probleme wie von Zauberhand verschwänden: nicht die mangelnden Deutschkenntnisse, die eine Arbeit mit anspruchsvolleren Texten so ungemein erschweren. Nicht die politischen Konflikte zwischen Türken und Kurden oder auch Bosniern und Kroaten. Nicht die klaffenden Wissenslücken beim Thema Drittes Reich und Holocaust, die, oft zugedeckt von Mythen und Verschwörungstheorien, mit viel Geduld, Erklärungsbereitschaft und Standvermögen gefüllt werden müssen.

Warum ist diese Schule nicht umgekippt, als Mitte der Neunzigerjahre die deutschsprachigen Schüler zu einer verschwindend kleinen Minderheit wurden und die Lehrer mit Herausforderungen konfrontiert waren, auf die sie niemand vorbereitet hat?So richtig können sich das selbst Veteraninnen wie Barbara Stalinski nicht erklären, die seit 1979 am "Ernst Abbe" unterrichtet. Vielleicht lag es an der stillschweigenden Übereinkunft, dass Benimmregeln zu einem geregelten Unterricht gehören. Dass hier Pädagogen arbeiten, die sich auf ihre Schüler einlassen, deren Traditionen kennenlernen wollen und sie doch ebenso behutsam wie gezielt mit den "hier geltenden Regeln" vertraut machen. Gleich, ob es sich um die schlichte Hausordnung handelt, zu deren Einhaltung sich jeder Schüler verpflichtet.

Oder die wesentlich komplexeren Codes einer modernen, säkularen Gesellschaft, zu deren wesentlichen Merkmalen Kritik und offene Debatte gehören. Das "Ernst Abbe" ist nicht gekippt, weil ein Prozess gelungen ist, den man mit "Bewahrung des Alten, um das Neue zu bewältigen", umschreiben kann. Latein gehört dazu. Es ist Deutschunterricht, weil es präzise Übersetzungen erfordert, eine genaue Analyse der Grammatik oder den Gebrauch von Konstruktionen, und sei es nur des Genitivs, die im Sprachalltag draußen nie vorkommen. "Die Kinder haben es längst als große Chance erkannt, ihr Deutsch zu verbessern", sagt Stalinski. Deshalb wählt die überwiegende Mehrheit im Ernst-Abbe-Gymnasium Latein als zweite Fremdsprache. Es ist Geschichts- und Sozialkundeunterricht mit eingebauter Pufferzone: Das Römische Reich ist längst untergegangen, und es wirkt nach. Man kann es mit Abstand betrachten und sich gerade deshalb auf heikle, aktuelle Diskussionen einlassen.

Über die Schwächen und Vorzüge der Demokratie (Ciceros "Über den Staat"); Lügen in Zeiten des Krieges (Caesars "Gallischer Krieg"); die Rolle der Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft (Juvenals misogyne Satiren).Das Alte zu bewahren, um das Neue damit zu bewältigen - das mit dem Erlernen des Lateinischen verknüpfte Bildungsideal gehört dazu. "Herzensbildung" hieß das einmal. "Respekt ist bei uns von großer Bedeutung", nennt es Schulleiterin Nicolas. Nicht die Form des Respekts, die draußen im Kiez als "Ehrbezeugung für den Ranghöheren" übersetzt wird. Sondern das "zivile Miteinander", das täglich mit dem "Bestehen auf klaren Grenzen" erkämpft werden muss. Mit einem herzlichen "Nehmt erst mal den Kaugummi raus", bevor die freiwillig erschienenen Schülerinnen am "Tag der offenen Tür" auf Informationsgespräche mit interessierten Eltern losgelassen werden.

Einem "Wort direkt in die Pupille, wenn ich mir mehr von jemandem erwarte", oder einem Anruf bei den Eltern durch die Direktorin höchstpersönlich, wenn ein Schüler sich allzu häufig krankmeldet. Und einer Mischung aus Sensibilität, Selbstbewusstsein und Engagement, die sich auf kulturelle Eigenheiten einstellt, die eigenen Werte nicht verleugnet und klaffende Wissenslücken nicht als Ausdruck einer "fremden Tradition" missversteht. "Jeder hier", sagt Nicolas, sei inzwischen mit den islamischen Feiertagen vertraut. Man könne "großen Spaß" daran haben, verschiedene Positionen zur Rolle der Frau im Islam kennenzulernen, ohne die Vorzüge eines frei bestimmten Lebens zu verleugnen, meint Barbara Stalinski.Ruhig ist es in dem seltsam anachronistisch anmutenden Ziegelbau aus dem 19. Jahrhundert.

Ein paar Schüler drücken sich auch lange nach dem Unterricht auf dem Pausenhof und in den Eingängen herum. Man lässt sie gerne gewähren, schließlich sei das "Ernst Abbe" eine "Insel der Seligen in diesem schwierigen Kiez", so Birgit Nicolas. Vielleicht, weil es eine kleine Schule ist, in der sich Lehrer und Schüler noch kennen. Aber ganz bestimmt, und da legt sich ein weiches Strahlen auf das Gesicht der Direktorin, "weil die Schüler spüren, dass wir sie mögen".
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