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Qualifikation und Charisma des Seelsorgers


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Rolf

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Qualifikation und Charisma des Seelsorgers


Karl Heinz Bormuth [ 1 ]


Anlaß zum Thema

Klaus Winkler, praktischer Theologe aus Bethel, stellt in seinem Buch über Seelsorge (erschienen 1997) im Blick auf die heutige Situation fest: Die gegenwärtige Gesamtlage im Bereich der Bemühungen um Seelsorge scheint bestimmt zu sein von einer "Poimenik", das heißt einer Lehre von der Seelsorge, die sich zwischen der Fortsetzung der Seelsorgebewegung einerseits und den Bemühungen um eine Restitution und Kontinuität andererseits bewegt. Mit anderen Worten: Was die Seelsorgebewegung der vergangenen Jahrzehnte, die sich sehr intensiv um die Hereinnahme moderner psychologischer Erkenntnisse in Theorie und Praxis bemühte, an neuer, hilfreicher Erkenntnis und Erfahrung gebracht hat, will man nicht aufgeben. Aber man will sie sichten, und sie sollen nicht mehr allein tonangebend sein.

Daneben möchte man wieder eine echte Verbindung zu den Erkenntnissen und der Praxis der sogenannten "kerygmatischen Seelsorge" herstellen, wie sie in dem von Eduard Thurneysen seinerzeit klassisch formulierten und viel zitierten Satz zum Ausdruck kommt: "Seelsorge ist die Ausrichtung des Wortes Gottes an den einzelnen." Auch auf ältere Seelsorgekonzeptionen, etwa solche aus dem 19. Jahrhundert, greift man gelegentlich zurück.

Angesichts dessen müssen wir fragen: Was erscheint im Bereich der Poimenik als dringend wünschenswert, und was wird vermißt? Wo ist eine Lücke zu bemerken oder ein Mangel auszugleichen? Was tut also in der gegenwärtigen Lage besonders not, wenn es um die rechte Seelsorge gehen soll, die das einzulösen vermag, was ihrem geschichtlichen Auftrag entspricht? Soweit wir als Christen unsere geistlichen Wurzeln im Pietismus und in der neuzeitlichen Erweckungsbewegung haben, möchten wir hinzufügen: Wie sollte eine Seelsorge aussehen, die dem biblisch-reformatorischen, vom Pietismus geprägten Auftrag entspricht?


Geschichtlicher Überblick


Ein solcher Überblick kann hier nur in groben Zügen erfolgen.

Der reformatorische Neuansatz
Die Reformatoren, allen voran Luther, gingen von der wiederentdeckten paulinischen Rechtfertigungslehre aus. Das brachte das Ende der sakramentalen, allein vom Priester ausgehenden und von ihm und der Kirche vollzogenen Praxis der Beichte und Buße. Im einzelnen bedeutete das: Vor allen anderen kirchlichen Handlungen hatte die Predigt den ersten Platz. Denn Glaube und Gewißheit der Vergebung und des Heils kommen allein durch das Wort Gottes, wie es in der Schrift steht und nun allem Volk gepredigt werden sollte. Durch die Bibelübersetzung wurde das Wort jedermann leicht zugänglich. Auch lehrte Luther, daß das Wort im Grunde sich selbst auslegt und jeden unmittelbar ansprechen und Zuspruch geben konnte.

So erfuhren die angefochtenen Gewissen Tröstung durch die Predigt und den brüderlichen Zuspruch, den jeder Christ zu vermitteln imstande war. Der Weg zum allgemeinen Priestertum aller Gläubigen war gebahnt.

Weiterführung im Pietismus

Vieles von dem, was im Ansatz Luthers und anderer Reformatoren vorhanden war, ging bald wieder verloren oder wurde in eine festgefügte Kirchlichkeit eingebunden, wodurch das sogenannte Laienelement stark zurücktrat.

Der Pietismus betonte dagegen ganz neu die persönliche Erfahrung des Heils im Glauben, erweckte das Laienelement in der Kirche und betonte die Bedeutung des allgemeinen Priestertums aller Glaubenden. Hierin verstand er sich als eine legitime Fortsetzung der Reformation. Philipp Jacob Spener, der Begründer des Pietismus, forderte, daß der seelsorgerliche Auftrag aneinander stärker wahrgenommen werden solle und jeder Christ die Schrift verstehen und auslegen könne. Denn mit der Wiedergeburt war ihm ja der Heilige Geist verliehen worden. Seelsorge fand vielfach in der "ecclesiola in ecclesia", dem Kirchlein in der Kirche, das heißt den kleinen Kreisen im Gespräch über die Bibel statt.

Die allgemeine Lage bis zum Beginn der Seelsorgebewegung

Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts und noch teilweise darüber hinaus zeigte sich in der evangelischen Kirche ungefähr folgende Situation: Im allgemeinen galt der Pfarrer weithin als der eigentliche Seelsorger. Das 19. Jahrhundert brachte im Blick auf die Durchführung der Seelsorge zwar manche Neuansätze, das Grundmodell einer Amts- und Pastorenkirche blieb jedoch unverändert. Pietismus und Erweckungsbewegung betonten die Linie des Laienelementes weiter. Im Bereich der neu entstandenen christlichen Verbände und Werke, einschließlich der Jugendverbände, sowie in der Inneren Mission gab es spezielle Seelsorger - darunter auch Laien - für bestimmte Personenkreise.

Den Pfarrämtern wurden DiakonInnen und GemeindehelferInnen zugeteilt, die in der Seelsorge tätig wurden. Sie hatten meist keine universitäre Ausbildung, sondern eine seminaristische. Mit dem stärkeren Aufkommen von christlichen Tagungsstätten, Freizeit- und besonderen Seelsorgeheimen wurden ebenso keine speziell ausgebildeten Seelsorger eingesetzt. Meistens waren es Personen, die ein bestimmtes seelsorgerliches Charisma besaßen. Nach dem 2. Weltkrieg wurden bei evangelistischen Veranstaltungen und Konferenzen auch Seelsorgehelfer tätig, die eine kurzfristige, aufgabenbezogene Schulung, aber meist keine eigentliche Ausbildung erhalten hatten.

Die Seelsorgebewegung

Bis dahin bewegte sich alle Seelsorge in ihrer theologischen Ausrichtung grundsätzlich im Rahmen des kerygmatischen Seelsorgeansatzes, auch wenn sie gelegentlich von Elementen der modernen charismatischen Bewegung geprägt war.

Durch die moderne Seelsorgebewegung werden nun zum ersten Mal auf breiter Front Erkenntnisse verschiedener Schulen der Tiefenpsychologie und verwandter Ansätze übernommen. Damit setzte man sich zum Ziel, den alten Ansatz der kerygmatischen Seelsorge zu überwinden. An die Stelle der Bezeugung geistlicher Wahrheiten, des Zuspruchs aus dem Wort Gottes und der seelsorgerlichen Ermahnung treten nun neue Konzepte seelsorgerlichen Handelns.

Im Gespräch mit dem Ratsuchenden geht es primär um ein Verstehen, eine Spiegelung seiner Empfindungen und Gefühle durch den Seelsorger, ohne daß dieser durch Ratschläge, Ermahnungen oder biblischen Zuspruch eingreift. Das Neue dieser Bewegung wird gekennzeichnet durch eine klientenzentrierte Seelsorge, bei der der Ratsuchende und seine Problematik im Zentrum stehen, nicht die biblische Wahrheit, die zugesprochen werden soll. Gruppendynamische Prozesse ergänzen diese Zielrichtung.

Im Bereich der vom Pietismus geprägten Christen und der Evangelikalen löste dies starke Gegenreaktionen aus. Teilweise wurden jegliche psychologischen Erwägungen aus der Seelsorgearbeit verbannt und als gefährlich angesehen.

Inzwischen hat es vielfache Annäherungen gegeben. Vertreter der kerygmatischen Seelsorge übernahmen Ansätze und Erkenntnisse aus der Seelsorgebewegung und integrierten sie in ihre Programme und Entwürfe.

Wer betätigt sich heute als Seelsorger?


Wir sprechen gerne von einer multikulturellen Gesellschaft. Auch die kirchliche Landschaft und die Theologie bieten uns das Bild eines gewissen Pluralismus. Entsprechend der sogenannten "Patchwork-Kultur", in der wir leben, zeigt auch der Bereich der Seelsorge ein vielfältiges Nebeneinander.

Zunächst sind es nach wie vor Pfarrer und Pastoren, die hier tätig sind. Viele von ihnen haben neben ihrer theologischen Ausbildung psychologisch-therapeutische Kurse besucht und entsprechende Zusatzqualifikationen erworben. Manche arbeiten auch als Autodidakten.

Daneben haben wir Spezialseelsorger mit humanistischer Grundausbildung und einer theologischen Zuatzausbildung. In einer Reihe von christlichen Werken und Institutionen gibt es "freie Anbieter" mit unterschiedlicher Vor- und Ausbildung, die Bandbreite reicht von ausschließlich charismatisch bis rein therapeutisch. In manchen Heimen und Kliniken arbeiten christliche Therapeuten und Psychiater, die einen bestimmten Seelsorgeauftrag an ihren Patienten und Klienten wahrnehmen.

In christlichen Werken, auch in der Telefonseelsorge, finden sich speziell ausgebildete Laien, aber auch ehrenamtliche Mitarbeiter ohne jegliche Ausbildung.

Wie sind die Auswirkungen dieser Situation?

Sehr zu begrüßen ist, daß Menschen mit unterschiedlichstem kirchlichen Hintergrund, aber auch solche, die Christentum und Gemeinde fast gar nicht kennen, in ihren Nöten, Fragen und Problemen seelsorgerliche Ansprechpartner finden. Angesichts der großen Zahl von psychisch Kranken und seelisch Labilen können wertvolle Erkenntnisse der Humanwissenschaften die Seelsorgearbeit unterstützen. Dabei kann immer wieder zwischen Theologie und Therapie ein fruchtbarer Austausch stattfinden, in dem beide Seiten voneinander lernen.

Außerdem werden christliche Theologie, Verkündigung und Gemeindepraxis aus wirklichkeitsfernen Vorstellungen herausgeholt hinein in den praktischen Umgang mit dem Menschen von heute. Auch theologische Laien bekommen Zugang zu haupt- und ehrenamtlicher Seelsorgetätigkeit.

Doch es ergeben sich auch Gefahren. Eine Überbetonung von Therapie und Beratung kann auf Kosten des biblischen Zuspruchs und der Bezeugung geistlicher Wahrheit gehen. Und eine unangemessene Hervorhebung der Ausbildung bewirkt, daß kaum noch nach einem seelsorgerlichen Charisma gefragt ist. Dadurch halten sich viele Laien für nicht berechtigt oder kompetent, Mitmenschen seelsorgerlichen Beistand zu geben, weil sie keine entsprechende Ausbildung haben.

Die Fülle von Seelsorgeangeboten kann manchen Ratsuchenden verwirren. Menschen geben sich einem gewissen seelsorgerlichen "Dilettantismus" hin und betätigen sich an falscher Stelle. Andere, die ein seelsorgerliches Charisma haben, sind leicht entmutigt, weil sie keine Fachqualifikation besitzen. Oder sie weichen auf Gebiete aus, die im Bereich therapeutisch orientierter Seelsorge unterbesetzt sind wie Okkultismus, Krankenheilung u. ä., was dann die Gefahr einer einseitigen Orientierung mit sich bringen kann.

Herausforderungen

Angesichts der positiven Ergebnisse der Seelsorgebewegung wie auch der aufgezeigten Gefahren verbietet sich jede einseitige Reaktion oder Stellungnahme. Unsicherheiten, Mängel und Lücken innerhalb der Bewegung sind ernst zu nehmen. Das bedeutet, daß auch die Frage nach dem seelsorgerlichen Charisma neu gestellt und geklärt werden muß: Wer kann es erwarten, wer soll es erbeten, wie sieht es aus, wie verhält sich Charisma zu Qualifikation und Ausbildung?

Das Charisma der Seelsorge

Die verschiedenen Gabenkataloge im Neuen Testament zeigen, daß Gnadengaben vielschichtig und vielgestaltig sind. Sie unterliegen keiner gesetzlich festgelegten Ordnung und sind unabhängig von einer menschlichen Planung. Wenn Gott sie gibt, wie es ihm gefällt, dann sollen sie der Gemeinde nützlich sein. Gaben treten meist nicht singulär auf, sondern sind oft bei einer Person gebündelt im Sinne gegenseitiger Unterstützung und Ergänzung. Grundlegend wird für den Seelsorger die Gabe des Ermahnens sein (Röm. 12, 8). Nach 1. Kor. 12 könnte man das Seelsorgerliche in verschiedenen, einander ergänzenden und aufeinander bezogenen Gaben sehen: Prophetie, Unterscheidung der Geister, aber auch Glaube und Weisheitsrede gehören dazu. Über allem steht jedoch, was in Röm. 12, 7 zum Ausdruck kommt: einander annehmen, wie Christus uns angenommen hat. Sollten solche Gaben auf Dauer bei einem Menschen anzutreffen sein, kann man sicher von einem seelsorgerlichen Charisma sprechen. Denn die grundlegende Offenheit für den Ratsuchenden (Röm 15, 7), die Unterscheidung der inneren Beweggründe und Motive (Geisterunterscheidung) bis hin zur möglichen Aufdeckung böser Geister sowie der hoffende Glaube für den anderen (1. Kor. 12, 9) sind die wesentlichen Eigenschaften, die zur rechten Zeit das rechte Wort des tröstenden und ermahnenden Zuspruchs sowie das lösende Wort finden lassen.

Bei alledem ist zu bedenken, daß seelsorgerliches Charisma gemeindebezogen sein sollte. Denn die Gaben werden nicht nur zum Nutzen der Gemeinde, sondern auch in der Gemeinde, unter ihrer Predigt, ihrem Gebet und ihrer Seelsorge gegeben. Das schließt die persönliche Bitte und die individuelle Führung des einzelnen nicht aus. Die gemeindliche Einbindung des seelsorgerlich tätigen Menschen ist unabdingbar.

Das Verhältnis von Qualifikation und Charisma

Nehmen wir die Schrift ernst und greifen wir das schriftgemäße Erbe der Reformation, des Pietismus und der Erweckungsbewegung auf, dann müssen wir erkennen:

Grundsätzlich kann jeder Christ einem Ratsuchenden zum Seelsorger werden. Ebenso können jedes Gespräch und jede Begegnung mit einem Menschen eine seelsorgerliche Note bekommen.
Seelsorgerliche Vollmacht bleibt immer ein Geschenk Gottes, das er zu seiner Verherrlichung Menschen gibt, sei es in einer besonderen Einzelsituation, sei es als eine dauernde Gabe.
Wenn sich charismatisches Geschehen unter dem glaubenden Handeln des Seelsorgers und durch das gnädige Eingreifen Gottes ereignet, entbindet es im Grunde nicht davon, entsprechende Schulung und Ausbildung in Anspruch zu nehmen. Diese garantieren noch nicht die seelsorgerliche Vollmacht und verleihen als solche auch kein Charisma. Aber mangelnde oder fehlende Schulung können das seelsorgerliche Handeln beeinträchtigen oder behindern.
In jedem Fall sollte es zu einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Charisma und Qualifikation kommen. Beide müssen in einer Person wachsen.

Es ist wichtig, daß in den Gemeinden seelsorgerliches Charisma neu zu erkennen und zu fördern ist. Das gilt auch im Blick auf Verkündigung und Lehre.
Gegenüber aller Neigung zu Gespräch und Beratung in der Seelsorge muß auch die ethische Ausrichtung bedacht werden. Wir sollten neu Mut machen für den Glauben an den Zuspruch aus dem Wort Gottes.
Wir müssen uns darüber klar werden, was das Ziel aller Seelsorge sein soll: der sogenannte heile, gesunde, "normale" Mensch oder in erster Linie der gerettete, gerechtfertigte und in der Gnade Gottes lebende Sünder.
Dabei geht es nicht um die Aufrichtung falscher Alternativen zwischen dem einen oder dem anderen Ziel. Doch der Glaube darf nicht zu einem nur besseren Mittel zur Lebensbewältigung werden.

Qualifikation und Charisma sollen und müssen sich also nicht widersprechen oder einander ausschließen, sondern dürfen sich jeweils ergänzen. Das schließt auch ein, daß die Stimmen und Erfahrungen bewährter Seelsorger aus der Vergangenheit, ihre Praxis und ihre Theorien für die Gegenwart fruchtbar gemacht und ausgewertet werden.




[ 1 ] Der Autor, Karl Heinz Bormuth Jg. 1929, Studienrat, theol. Mitarbeiter im Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverband, zuletzt Direktor des Marburger Bibelseminars

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