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Ein Gefängnisersatz mit Rückfallquote null


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Rolf

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Ein Gefängnisersatz mit Rückfallquote null




Ein Erziehungscamp will das Seehaus in Leonberg nicht sein. Dennoch sind die Regeln der Jugendeinrichtung streng. Um 5.45 Uhr wird gejoggt, "Scheiße" zu sagen ist verboten. Das Konzept funktioniert: Von den Intensivtätern, die hier ihre Haftzeit verbrachten, wurde bisher keiner rückfällig. Ein Besuch.


Es gibt Tage, da verliert man. Als Kidus vor einem Jahr in das Seehaus nach Leonberg kam, war das so ein Tag für ihn. „Ich hab' es gehasst“, sagt Kidus. „Jeden Morgen die gleichen Gesichter. Diese ganzen Regeln! Früh aufstehen, pünktlich sein. Auf einmal musste ich mir etwas sagen lassen, und ich fand es erbärmlich.“

Dreimal hintereinander war Kidus verhaftet worden, wegen räuberischer Erpressung, Diebstahl, Drogenhehlerei, schwerer Körperverletzung. Drei Jahre hatte er mit zwei kleinen Unterbrechungen in den Justizvollzugsanstalten Ravensburg, Stammheim und Adelsheim verbracht. Wurde er entlassen, dauerte es nicht lange, bis er wieder vor dem Richter und schließlich in der Zelle landete. Rückblickend, sagt Kidus, habe er nun, nach einem Jahr im Seehaus, zum ersten Mal das Gefühl, dass er es schaffen könnte, ein ganz normales Leben zu führen.

Das „Projekt Chance“ in Leonberg ist eines von zwei Projekten des freien Jugendstrafvollzugs in Deutschland. Tobias Merckle, Urenkel des Gründers des Pharmaunternehmens Ratiopharm und Sozialpädagoge, hat 13 Jahre an einem Konzept gefeilt.

2002 bewilligte die Landesstiftung Baden-Württemberg ein Startkapital von 3,5 Millionen Euro, Ratiopharm übernahm eine Bürgschaft. Seit Beginn dieses Jahres bekommt Merckles Verein Prisma 203 Euro pro Häftling und Tag vom Justizministerium. Das neue Jugendstrafgesetz von Baden-Württemberg erlaubt Jugendstrafvollzug in freien Formen, von privaten Trägern, parallel zum offenen und geschlossenen staatlichen Vollzug.

"Wir bieten ihnen den Glauben an"

Strenge Regeln gelten im Seehaus, einem alten Gutshof, einst Witwensitz von Sibylla von Anhalt. Um 5.45 Uhr treten die Jugendlichen zum Frühsport an, mit einer Marathonläuferin joggen sie durch den angrenzenden Wald. Bis zur Bettruhe um 22 Uhr bestimmen Arbeit und Disziplin den Alltag. Schimpfwörter sind verboten, nicht einmal „Scheiße“ dürfen die Jungs sagen. An drei Tagen die Woche wird auf dem Bau gearbeitet, in kleinen Teams helfen die Jugendlichen, den alten Hof unter Anleitung zu renovieren, und können so ihr erstes Lehrjahr für Bauberufe absolvieren. An zwei Tagen die Woche werden die Jugendlichen unterrichtet und können ihren Hauptschulabschluss nachholen. Jeden Tag wird gemeinsam in der Bibel gelesen. „Wir bieten ihnen den Glauben an“, sagt Merckle, „die Jugendlichen entscheiden selbst, ob sie ihn annehmen.“

Haushalt und gemeinnützige Arbeit sind feste Bestandteile des Konzepts. Die Jugendlichen müssen beginnen, den von ihnen angerichteten Schaden wiedergutzumachen. Sie helfen alten Leuten im Haushalt, entfernen Graffiti von Hauswänden. Merckle hat es geschafft, zwei Familien zu finden, die mit ihren eigenen Kindern und jeweils sieben Jugendlichen zusammenleben. So werden die Jugendlichen in einen echten Familienalltag eingebunden.

Für Kidus etwas völlig Neues. Er verlor seine Eltern, als er drei Jahre alt war. Sie wurden im Bürgerkrieg in Äthiopien erschossen. Seine Mutter war Lehrerin, sein Vater kämpfte für die politisch unterdrückte Minderheit der Oromo. Mit acht Jahren kam Kidus nach Deutschland, wuchs in einem Kinderheim in Darmstadt auf.
Kidus saß in der Zelle und fragte sich: "Was mach ich jetzt bloß?"

Mit elf begann er zu rauchen, mit zwölf begann er zu kiffen, dann kamen mehr Drogen, härtere Drogen, die ersten Raubüberfälle. Mit 17 Jahren wurde er das erste Mal verhaftet, seitdem hat er nur einige wenige Wochen in Freiheit verbracht. Im Gefängnis schlief er oft bis mittags. Manchmal verließ er zwei Monate lang seine Zelle nicht. Manchmal raffte er sich zum Arbeiten auf, dann schliff er 1600 Abwasserersatzteile für Daimler am Tag, hockte sich anschließend wieder vor den Fernseher und fragte sich: „Was mache ich jetzt bloß?“

Bis Merckle in die Jugendvollzugsanstalt Adelsheim kam und sein Projekt vorstellte: eine Alternative zum Gefängnis. Wer wollte, konnte sich dafür bewerben, seine Haft in der Jugendhilfeeinrichtung Seehaus in Leonberg bei Stuttgart verbringen. Mörder und Triebtäter waren ausgeschlossen, sonst bleibt als Voraussetzung nur der Wille zur Veränderung. Kidus bewarb sich, auch wenn er Angst hatte vor dem straffen Tagesprogramm. „Ich dachte mir, da kann ich nicht sagen, ich hau' jetzt ab.“ Zwei Monate später kam er nach Leonberg. Ein Dreivierteljahr brauchte Kidus zum Eingewöhnen. Er war aggressiv, doch er wusste, fängt er einmal an zu prügeln, muss er sofort zurück ins Gefängnis. „Wenn Sie mich früher kennengelernt hätten, Sie würden mich heute nicht wiedererkennen“, sagt Kidus. „Mit den anderen Jugendlichen hier hätte ich nie geredet, das waren für mich typische Opfer.“ Heute misst Kidus seine Kräfte beim Joggen, beim Fußballspielen in der alten Reiterhalle. Mit den Kindern seiner Gastfamilie tobt er am Nachmittag juchzend über den Boden.

Merckles Konzept beruht auf zwei Polen: Disziplin und Geborgenheit. In dem durchstrukturierten Tagesablauf werden die Jugendlichen konsequent gefordert. Sie müssen Leistung erbringen. Gleichzeitig werden ihre Interessen herausgekitzelt und gefördert. „Einsicht kommt nur von innerer Veränderung“, sagt Merckle. „Aber wenn man sie packt, haben viele dieser Jugendlichen Führungspotenzial.“ Er will den Jugendlichen Sozialverhalten beibringen, das sie später im Leben „draußen“ brauchen. Wer den Tagesablauf in Leonberg übersteht, für den ist es ein Klacks, acht Stunden Arbeit durchzuhalten. Gerade haben die ersten beiden Ehemaligen ihre Lehre bei einem Autokonzern und in einer Zimmerei abgeschlossen und sind übernommen worden. „Weil sie besser waren als die normalen Lehrlinge“, sagt Merckle.

Andreas sagt über den Knast: "Man verliert seine ganzen Gefühle"

Im geschlossenen Strafvollzug sei der Wille zur Veränderung und zum Engagement kaum zu erreichen. „Je größer, je geschlossener die Anstalt, desto mehr Macht hat die Subkultur“, sagt Merckle, der für „Prison Fellowship International“, eine amerikanische Nichtregierungsorganisation weltweit sowohl geschlossene Gefängnisse als auch Modellprojekte des freien Vollzugs besichtigte. „Oft wachsen die Jugendlichen im Knast erst richtig in eine kriminelle Struktur hinein und werden so zu Wiederholungstätern.“ Auch Kidus berichtet, er habe im Gefängnis alle Drogen bekommen, die er gebraucht habe. Er erzählt von Schlägereien und Machtkämpfen.

Laut Statistik werden neun von zehn Jugendlichen nach der Entlassung aus dem geschlossenen Vollzug rückfällig. Im Gefängnis sei er nur taub gewesen, erzählt Andreas, Sohn russischer Eltern, wegen versuchten Totschlags zu drei Jahren Haft verurteilt. „Man verliert seine ganzen Gefühle. Dir ist alles egal, du weinst nicht, du hast keinen Liebeskummer, und dir ist es auch nicht wichtig, wie lange du bleibst.“ Abschreckend sei die Haft nicht gewesen. Umso mehr der Gedanke an sein Opfer.

Gemeinsam mit seinem Cousin und seinem Kumpel hatte sich Andreas Sturmkappen aufgesetzt und war mit Totschlägern und Baseballschlägern auf drei andere Jugendliche losgegangen. Eines der Opfer wäre an den Verletzungen, Rippen-, Arm-, Handbrüchen und schweren Kopfverletzungen, fast gestorben. Andreas' Eltern konnten es nicht fassen, als eine Woche später Beamte in die Wohnung in einem Nürtinger Plattenbau stürmten und ihren Sohn festnahmen. „Die dachten immer, ich wäre ein lieber Junge“, sagt Andreas. Als er nach Leonberg kam, nahm er sich vor, seinen Eltern zu zeigen, dass er sein Leben auf die Reihe bekommen kann. „Hier ist es viel härter als im Gefängnis“, sagt er. „Man hat keine Zeit, also kommen einem keine dummen Sachen in den Kopf.“

"Sobald der Drill weg ist, sacken die Jungs zusammen"

Tatsächlich gibt es viel weniger Freiheit im Seehaus als im normalen Strafvollzug. Die Jungs haben zweimal am Tag fünfzehn Minuten Zeit für sich. Mit Drill habe das Leben dort dennoch nichts zu tun, sagt Merckle. „Straftäter mit militärischem Drill wie in den Bootcamps in den USA erziehen zu wollen bringt gar nichts. Sobald der Drill weg ist, sacken die Jungs wieder in sich zusammen.“

Merckle hält es für wichtiger, jugendlichen Straftätern, möglichst vom ersten Kaugummi-Klau an, zu zeigen, dass es Opfer gibt und es einer Wiedergutmachung bedarf. Die Jugendlichen müssten lernen, einen geregelten Tagesablauf durchzuhalten, denn das sei oft das, woran sie beim Leben „draußen“ scheitern. Ein Erziehungscamp sei das Seehaus deshalb noch lange nicht. „Ich weiß gar nicht, was das sein soll. Dieser Begriff ist frei erfunden.“ Das Seehaus sei nichts weiter als eine Jugendhilfeeinrichtung, in der man lernen kann, ein normales Leben zu führen. Das reiche, um Tage zu erleben, an denen man gewinnt.



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