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Kann denn Begehren Sünde sein?


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Rolf

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Zehntes Gebot




Kann denn Begehren Sünde sein?


"Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib", lautet das zehnte Gebot. Ist das Begehren eine Sünde? Ein Sexualwissenschaftler, ein Theologe und ein Mann, der seine Frau für eine Andere verlassen hat, versuchen eine Antwort.

An einem goldenen Herbstmorgen vor drei Jahren steht André Werner* in der Kirche vor dem Altar. Wie von Ferne rauschen an ihm die Worte der Pfarrerin vorbei, die fragt, ob er denn sicher sei, die ihm anvertraute Ehefrau zu lieben und zu ehren, an guten wie an schlechten Tagen, und ob er mit ihr sein ganzes Leben verbringen möchte. Aber André Werner hat nur einen Wunsch - ganz, ganz weit weg zu sein. Stattdessen sieht er seine Mutter in der ersten Reihe der Kirchenbänke, die ihn mit großen Augen anstrahlt, seine Schwiegereltern, mit denen er sich gleich so gut verstanden hat, und er sieht die Freundin seines Trauzeugen. Die aber weicht seinem Blick aus. Denkt sie auch an die Nacht, die sie zusammen am vergangenen Wochenende in einem Hotel verbracht haben? Und dann hört er sich sagen: "Ja, mit Gottes Hilfe."

Er wollte die Heirat

"Ich war im entscheidenden Moment zu feige, um noch einen Rückzieher zu machen", sagt der 32-jährige Umwelttechniker aus Berlin. Dabei, so fügt er hinzu, hätte er es besser wissen müssen. "Oder meinetwegen auch schlechter." Er wollte die Heirat. Doch er hatte sich in eine andere Frau verliebt. Und so hielt seine Ehe genau drei Monate und drei Tage. Und die Freundschaft zu seinem Trauzeugen noch drei Monate und vier Tage. Dann gaben dessen Freundin und André Werner bekannt, ein Paar zu sein. "Es war die große Liebe", sagt er entschuldigend. Und, achselzuckend: "Ich war machtlos."

War er wirklich machtlos? "Eine andere Frau zu begehren, lässt sich nicht verbieten", sagt Professor Klaus Beier. Der muss es eigentlich wissen, denn er leitet das Institut für Sexualwissenschaft an der Charité. "Das Begehren gehört zum Menschsein, ob wir wollen oder nicht", meint auch Pater Ulrich Engel. Und der muss es eigentlich auch wissen, denn er ist dominikanischer Theologe und Ordensmann, der in einer klösterlichen Wohngemeinschaft in Prenzlauer Berg lebt. Fragen wir doch auch noch, um das Bild abzurunden, bei einer anderen Spezialistin nach, bei Juliane Raschke. "Männer können nicht anders", bestätigt die 18-Jährige aus Groß Kreutz, die jüngst November-Playmate im Playboy gewesen ist. Und sie muss es eigentlich auch wissen denn: "Mir schauen doch die Männer hundertmal am Tag hinterher."

Gut, könnte man denken. Bei so viel Einigkeit kann das Thema schnell abgehakt werden. Freispruch für André Werner! Begründung: Das Begehren lässt sich nicht verbieten. Aber: Wie ist das dann mit dem zehnten Gebot gemeint, in dem steht: "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib?" Um die Frage noch etwas komplizierter zu machen, werfen wir einen kurzen Blick in die Weltliteratur und stellen fest: Hier wimmelt es nur so von Liebenden, die mit dem Begehren so ihre liebe Müh und Not haben. Nehmen wir nur Romeo und Julia, Bonnie und Clyde oder Tristan und Isolde. Kaum eine Seite, in der das Begehren fehlt. Kaum ein Klassiker, in dem Bauern, Prinzen und Könige von der Begierde lassen können. Kurzum: Das Begehren siegt über den Verstand. Sollen wir das zehnte Gebot nun einfach aus dem Dekalog streichen? Ein Schild drüberkleben: "Wegen Unerfüllbarkeit abgeschafft!" und uns fortan genüsslich unseren Begierden hingeben? Immer diese Fragen! Um eine Antwort zu erhalten, fahren wir zu dem Fachmann Pater Ulrich Engel nach Prenzlauer Berg und stehen nun vor einem unscheinbaren, gelb gestrichenen Mietshaus.

Eines wie viele hier in der Gegend rund um die Kastanienallee. Nur, dass auf dem Klingelschild steht: "Institut M.-Dominique Chenu". Komischer Name. Aber was soll's, hinauf in den ersten Stock in eine schöne Altbauwohnung mit abgezogenen Dielen und endlos langen Bücherreihen. Hier, so erfahren wir, ist ein nach dem französischen Dominikaner Marie-Dominique Chenu benanntes Institut untergebracht. Ein Forschungsinstitut, in dem sich Theologen mit den Herausforderungen der Welt beschäftigen. Voilà, hier muss das Begehren, zumindest als Thema, doch eigentlich zu Hause sein. Aber als Pater Ulrich, der geschäftsführende Direktor, die Frage nach dem zehnten Gebot hört, hat er keine schnelle Antwort bei der Hand, sondern versinkt erst einmal im Ledersessel des gemütlichen Lesezimmers. "Puh", atmet er hörbar aus.

Begehren ist nicht schlecht

Für einen kurzen Moment schließt er die Augen, dann taucht er aus dem Sessel wieder auf. "Das Begehren an sich ist nicht schlecht", sagt der 46-jährige Theologe. "Negativ wird es erst dann, wenn es darauf ausgerichtet ist, anderen einen Schaden zuzufügen." Auch eine Frau zu begehren, sei zunächst einmal nicht schlecht, führt er weiter aus. "Erst wenn man in die soziale Ebene eines anderen einbricht, wird es negativ." Okay, gut gesagt. Aber kann uns das zufrieden stellen? Denn im Brief des Apostels Paulus an die Römer heißt es doch, dass schon das Begehren an sich Sünde sei. Unabhängig von irgendwelchen sozialen Ebenen. Wieder macht Pater Ulrich "Puhhh", diesmal noch etwas lang gezogener als beim ersten Mal. Dann: "Da ist der Apostel wohl etwas weit übers Ziel hinausgeschossen." lso, richtig zufrieden sind wir damit noch nicht. Vielleicht bringt uns Juliane Raschke auf andere Gedanken.

Die 18 Jahre alte Blondine steht in der Damenabteilung einer großen Modekette am Kudamm und hält gerade einen schwarzen Pullover prüfend in die Höhe, als von hinten eine Frauenstimme ertönt. "Torsten?", ruft eine Rothaarige nach ihrem Freund, der zwei Regalreihen weiter hinter einem Bügel-BH versteckt ist. Aber: Torsten hört nichts. Torsten schaut verträumt zur Umkleide hinüber, in der Juliane in diesem Moment verschwindet. "Schatz?", versucht es die Rothaarige noch einmal. Immer noch nichts. "Torsten!" Endlich, aufgeschreckt, dreht er den Kopf. "Komm doch schon", murmelt er, und setzt sich in Bewegung. Juliane hat die kurze Szene durchaus wahrgenommen. Gestört hat sie das nicht. "Die Bestätigung ist doch schön."

Die sexuelle Neigung bleibt uns treu

So würde das Professor Beier wahrscheinlich nicht sagen, eher, dass Juliane mit ihren langen Beinen und den blonden Haaren ziemlich genau der männlichen Präferenzstruktur entspricht. Präferenzstruktur, das ist so eine Art Lieblingsausdruck des Professors. Auch die Leute vom Playboy haben das wohl instinktiv erkannt, sonst hätten sie die angehende Erzieherin aus Brandenburg nicht zum Playmate gekürt. Und auch Torsten, der Mann mit den gierigen Blicken, hat gespürt, wie das so ist mit der Präferenzstruktur. Das Faszinierende, erklärt Professor Beier: Einmal in der Pubertät ausgebildet, begleite sie uns das ganze Leben lang. Da könnten wir machen, was wir wollen, die sexuelle Neigung bleibt uns treu. Unproblematisch sei das, solange wir unsere Neigungen einigermaßen im Griff haben. Aber was, wenn nicht? Bei André Werner ist "nur" eine Ehe kaputtgegangen. Klaus Beier dagegen kümmert sich auch um die schweren Fälle. Um Menschen, in der Regel Männer, mit schweren sexuellen Störungen. Und alle, die sich dazu bekennen, sitzen im Wartezimmer des Instituts für Sexualwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, das sich in einem Nebengebäude der Charité befindet.

Es herrscht eine Atmosphäre zwischen Krankenhaus und Behörde. Auf dem Boden gelbes Linoleum, in der Ecke eine Topfpflanze. Im Hof fallen die letzten Blätter von den Bäumen. "Begehren lässt sich nicht verbieten", wiederholt Professor Beier. Egal, ob eine sexuelle Störung vorliegt oder alles normal ist: Sexuelle Neigung funktioniere bei allen Menschen gleich, nur die Objekte der Begierde seien unterschiedlich. "Da kann man nichts machen", sagt er. Gibt es gar keinen Ausweg? Kopfschütteln. Seinen Fantasien sei der Mensch ausgeliefert. "Es kann nur darum gehen, die Fantasien nicht auf der Verhaltensebene umzusetzen." So ähnlich hat sich das vielleicht auch André Werner gewünscht, als er vor dem Altar stand. Nur ist ihm das nicht gelungen. Torsten von der Damenumkleide hat noch einmal die Kurve bekommen.

Professor Beier und Pater Ulrich wissen beide, dass wir unsere Begierden nicht unterdrücken können. Weder die, die sich auf des Nächsten Weib, noch solche, die sich auf des Nächsten Hab und Gut richten. Beide bestätigen, dass es nur darum gehen kann, den richtigen Umgang mit den Begierden zu finden. Dem Blick eben nicht die Tat folgen zu lassen. Denn was das bedeuten kann, zeigt uns wiederum die Bibel, denken wir nur an Adam und Eva oder Kain und Abel. Und deshalb sagt Professor Beier: "Mit seiner Neigung dauerhaft verantwortungsvoll umzugehen, das ist eine Lebensleistung."

Niemand kann für sein Begehren

So ähnlich sich allerdings der Professor und der Ordensmann an diesem Punkt sind, die Gemeinsamkeiten sind bald erschöpft. Je länger Professor Beier über die Zehn Gebote spricht, desto mehr redet er sich in Rage. Man ahnt: Ein großer Freund des Alten Testaments wird er nicht mehr. Wenn man die Gebote wörtlich versteht, wie manche Gläubige das täten, dann würden man wahnsinnig darunter leiden, sagt er. Denn die Gebote stellten seiner Ansicht nach einen "zusätzlichen Belastungsdruck" dar, der einem Gläubigen ständig suggeriere: "Ich habe versagt." Schließlich könne niemand etwas für sein Begehren. Und überhaupt könne doch nur das eine Sünde sein, "was wir selber beeinflussen können". Alles andere sei "voraufklärerisch" und falle hinter jene von Kant gerügte "selbstverschuldete Unmündigkeit" zurück.

"Was würde wohl passieren, wenn wir alle Menschen, die jemals Gewaltfantasien hatten, dafür bestrafen und ins Gefängnis stecken würden?", fragt er rhetorisch und gibt sich gleich selbst die Antwort: "Dann wären doch die Straßen leer!" chon gut, schon gut", sagt, damit konfrontiert, Pater Ulrich, und rutscht auf seinem Ledersessel hin und her. Dann steht er auf, blickt aus dem Fenster auf das Treiben der Szene in Prenzlauer Berg. "Wir dürfen die Gebote nicht als Verbote verstehen, sondern eher als Herausforderungen." Natürlich sei ihm auch bewusst, dass es sich bei dem Dekalog um Texte aus einer patriarchalischen Gesellschaft aus dem alten Vorderasien handelt, die heute nicht mehr wörtlich verstanden werden können. Nötig sei vielmehr eine Übersetzung. Eine Übersetzung in unsere Zeit. "Sie dürfen nicht als Moralknüppel gebraucht werden."

Bleibt die Frage, wie das zehnte Gebot dann übersetzt lauten kann. Vielleicht flapsig so: "Wenn du schon auf das scharfe Mädel deines Kumpels abfährst, dann leg sie trotzdem nicht gleich flach"? Wer erwarten würde, dass Pater Ulrich jetzt wenigstens aus Höflichkeit lächelt, der irrt sich. Seine Miene bleibt ernst. Dazu ist ihm das, was jetzt kommt, zu wichtig. Denn er erzählt, wie er bis vor einigen Jahren in der Ausbildung junger Ordensleute gearbeitet hat. Und wie er versucht hat, mit dem Thema Keuschheit umzugehen, zu der er sich wie alle anderen Dominikaner verpflichtet hat. "Das Gelübde ist eine Antwort auf ein Grundbegehren, das in uns angelegt ist." Und die Antwort bestehe darin, dieses Begehren "in gewisser Weise zu kultivieren". Und wenn ein One-Night-Stand geschehe? "Dann ist das nicht im Sinne des Gelübdes, aber das heißt nicht: Das war das Ende." Es gehe nicht um Ausrutscher, die bestraft werden müssten, sondern ganz allgemein und für uns alle um die Frage, ob die Lebensform, für die wir uns entschieden haben, angemessen ist oder nicht. "Alles andere kann Gott nicht gewollt haben."

Kontrolle des Verhalten

Und so lautet die Antwort, wie mit dem zehnten Gebot umzugehen ist, aus Professor Beiers Sicht: Kontrolle des Verhaltens. Pater Ulrich nimmt sie als Maßstab für sein Leben, ohne blind zu folgen. André Werner dagegen hat fest daran geglaubt, dass ihn das Liebesglück nach seiner gescheiterten Ehe nicht mehr verlassen würde. Doch vor einem Vierteljahr war es dann doch soweit. Seine Freundin hat sich neu verliebt. In einen Arbeitskollegen. Sie habe Schluss gemacht. Von einem Tag auf den anderen. Und was hat sie ihm als Begründung gesagt? "Dass sie ihre große Liebe getroffen hat." Traurig lacht André Werner.


*Name von der Redaktion geändert

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