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Warum man es ungestraft brechen kann


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Rolf

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Drittes Gebot




Warum man es ungestraft brechen kann



"Du sollst den Feiertag heiligen", lautet das Dritte Gebot. Doch 42,8 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland müssen sonntags arbeiten, 13,5 Prozent sogar regelmäßig. Auch Mario Suckers Familie benötigt das Geld, das er verdient. Und er ist nicht der Einzige. Ein Streifzug durch die ruhelose Berliner Welt an einem Sonntag.

Wenn am Sonntag schönes Wetter ist, steht am Lustgarten oft ein Leierkastenmann. Zwischen musizierenden Indios und Ständen mit DDR-Uniformmützen bedient er, geduldig kurbelnd, die Vorbeikommenden mit Gassenhauern: „Solang noch Untern Linden“ oder „Das ist die Berliner Luft“. Frühmorgens ziehen an ihm die Ströme der Katholiken auf dem Weg zur St.-Hedwigs-Kathedrale vorbei und in der Gegenrichtung die Protestanten Richtung Dom. Dazwischen bleiben Touristen stehen und starren auf das intarsiengeschmückte Instrument auf Rädern. „Die älteren Berliner freuen sich über die alten Melodien“, sagt der Mann. „Aber immer mehr Leute schauen genervt weg. Sie zerren ihre Kinder weiter, und ein Vater hat einmal zu seinem Sohn gesagt: ‚Wenn du in der Schule nicht aufpasst, musst du später auch so was machen.’“

Der Drehorgelspieler ist studierter Jurist. Arbeitslos. Seinen Namen möchte er nicht nennen, „wegen der Arbeitsagentur“. Zwar muss er das, was die Menschen ihm auf die „Platte“ legen, nicht einmal versteuern. Aber er möchte nicht, dass man sein Spiel auf das Wort Arbeit reduziert. Die Drehorgel, sagt er, sei sein Weg zu den Menschen. „So bin ich wenigstens sonntags nicht allein.“

Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest, heißt es im 2. Buch Mose, als Gott am Berg Sinai die Zehn Gebote offenbart. Als könnte irgendjemand vergessen, dass Sonntag ist. Aber wie und wo feiert eine Stadt wie Berlin ihren Sonntag? Eine Stadt, die nie schläft, nicht mal den Atem anhält?

Am S-Bahnhof Lichtenrade herrscht Stille. Bis plötzlich, aus dem Nichts, Glocken ertönen. Zweimal, manchmal dreimal am Sonntag lädt die katholische Salvator-Gemeinde in Lichtenrade zum Gottesdienst. Während in der Innenstadt die Kirchen oft leer bleiben, zumal die protestantischen, sind die Bänke hier übervoll. Die zuletzt Gekommenen empfangen das Wort des Herrn im Stehen. Zuvor hat der Pfarrer seine Gemeinde am Kirchenportal jovial mit einem „Moin“ begrüßt, manche haben „Grüß Gott“ geantwortet. Unter die Zugezogenen aus Süddeutschland mischen sich bunte Großfamilien unterschiedlicher Nationalität. Der Pfarrer selbst hat bis vor einigen Jahren in Hellersdorf gearbeitet.

Seine Predigt schlägt den Bogen vom Klimawandel über die ostdeutsche Revolution von 1989 zum Gottvertrauen. Drei Kinder werden getauft, an anderen Sonntagen sind es noch mehr – die Salvator-Gemeinde liegt zwar am Stadtrand von Berlin, aber mitten im Leben.

Zu den Zugezogenen gehören auch Susanne und Peter W. Anfang der Neunzigerjahre kamen sie aus Nordrhein-Westfalen, ihre drei Kinder sind hier geboren und getauft. Nach der Messe verschwinden Johannes (14), Cornelia (12) und Benedikt (10) in einem Nebenraum, wo sie unter Gekicher ihre Ministranten-Talare weghängen. Benedikt, der Jüngste, hält seiner Mutter empört seinen Einsatzplan unter die Nase: „Gleich zweimal freitags!“ Freitagabends zu ministrieren bedeute einen zusätzlichen Kirchenbesuch, erläutert Susanne W. und lächelt. „Unsere Kinder gehen nicht wirklich gern zur Kirche.“ Trotzdem sei die Familie praktisch jeden Sonntag da, „ausgenommen, wenn Johannes ein wichtiges Fußballspiel hat oder Ähnliches“. Die Kinder seufzen.

Sonntag ist Konkurrenz-Tag, nicht nur zwischen Kirche und Freizeit. Auch zwischen Freunden und Familie: Tochter Cornelia verbringt das Wochenende gern mit Freundinnen. „Manche Sonntage gehen auch komplett für Hausaufgaben drauf“, sagt Susanne W., die selbst als Lehrerin arbeitet. Vater Peter W. bietet schon mal Akkordeonunterricht oder Hausmusik an – wenn er Zeit hat. Denn der größte Konkurrent des Sonntags ist die Arbeit. Oft ist nachmittags das Esszimmer tabu: „Dann darf man meine Mutter nicht ansprechen“, sagt Johannes finster, „weil sie da nämlich Arbeiten korrigiert.“
Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Dinge beschicken...

Peter W. kann nicht einmal jeden Sonntag zu Hause sein, obwohl er der eigentliche Sonntagskämpfer der Familie ist. Beruflich, sagt er, lebe er in einer Welt ohne Sonntage. Er ist Anwalt für internationales Recht. „Da gibt es nur eine internationale Alltagszeit.“ Sein Arbeitstag geht von 8 bis 23 Uhr, oft auch sonnabends. Er weiß, dass seine Familie den „Blackberry“ hasst, der ihn spätabends noch zu Telefonkonferenzen ruft. „Ausnahmen mache ich nur sonntagvormittags“, sagt er. „dann sage ich Geschäftspartnern, dass ich in der Kirche bin.“ Seine Frau schaut ihn erstaunt an: „Das wusste ich ja gar nicht!“ Sie lachen. Sonntagabends spielt die Familie oft Gesellschaftsspiele. Man kann die Wirkung solcher Abende förmlich spüren, als die Kinder davon erzählen. Zu spielen bedeutet vielleicht, einen Moment lang eins zu sein mit der ganzen Familie. Es bedeutet, auch wenn einer mal nicht verlieren kann, trotzdem zu wissen: man ist aufgehoben.

Deren zweitliebste Sonntagsbeschäftigung dagegen treibt dem Vater die Sorgenfalten auf die Stirn: Shopping. Er sieht den Sonntag in Gefahr – und ist damit nicht allein. Schon seit 20 Jahren kämpfen die christlichen Kirchen in Deutschland gegen die Öffnung von Geschäften an Sonn- und Feiertagen. Sie verweisen auf das Verfassungsgebot, die „Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ zu achten. Die Argumente klingen seltsam ähnlich wie die der Gewerkschaften, auch wenn das Motto der Kirchenkampagne lautet: „Gott sei Dank, es ist Sonntag.“

Offenbar lässt sich dieser Stoßseufzer auch anders übersetzen. Susanne W. sagt, ihr habe schon so mancher verkaufsoffene Sonntag aus der Bredouille geholfen. „Mit den Kindern Anschaffungen zu machen, ist unter der Woche vor 20 Uhr nicht möglich. Sie kommen erst gegen 16 Uhr nach Hause, danach stehen Schularbeiten an, Sport, Musikstunden, Gemeindegruppen.“ Also zieht die Familie sonnabends in die Geschäfte – oder auch mal sonntags, sagt sie, „noch besser fände ich allerdings längere Öffnungszeiten unter der Woche.“ – „Wenn der Sonntag verloren geht, verlieren wir mehr als einen Tag mit geschlossenen Geschäften“, hält ihr Mann dagegen.

Er verweist auf den Sonntag als kulturelle Errungenschaft. „Deswegen möchte ich auch, dass unsere Kinder uns regelmäßig zur Kirche begleiten.“ Sein ältester Sohn schaut auf. Die Eltern erzählen, dass sie als Kinder die Kirche auch nicht immer spannend fanden. Dass sie aber auch hinmussten. „Ich denke, um zu entscheiden, ob man das will, braucht man eine gewisse Reife“, sagt Johannes’ Mutter. Er nickt. Plötzlich erscheinen Sonntag und Kirche wie interessante Verabredungen unter Erwachsenen, bei denen Kinder unbedingt dabei sein wollen, auch wenn sie den Sinn nicht ganz begreifen.
Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du kein Werk tun, noch dein Sohn, noch deine Tochter, noch dein Knecht, noch deine Magd, noch dein Vieh, noch dein Fremdling, der in deinen Toren ist.

"Ein Fest kann man nicht alleine feiern“, hat Peter W. noch gesagt. Ginge es allein darum, am Sonntag in Gemeinschaft zu sein, wären Orte wie die Gropius-Passagen in Britz die neuen Kirchen. „Mama“ ist das meistgerufene Wort zwischen Modeboutiquen und Feinkostläden, gefolgt von „Papa“ und „komm jetzt“. Draußen scheint die Sonne – in Neukölln geht man einkaufen. Plaudernde Grüppchen und händehaltende Familien verursachen Gedränge. An den Fahrstühlen bilden sich Kinderwagenstaus.

Im Untergeschoss sitzt eine Clique gebrechlicher Seniorinnen an Plastiktischen. Ihr Thema: das Fernsehprogramm.
Zwischen den Regalen eines Lebensmittelmarktes hat ein elegant gekleidetes Elternpaar mit der 16-jährigen Tochter ein ernstes Gespräch. „Du interessierst dich doch für gar nichts hier, für keinen einziges Geschäft“, motzt das Mädchen. Die Eltern murmeln etwas. „Ich geh’ eben lieber mit meinen Freunden shoppen“, ist die patzige Antwort. Im Supermarkt sind außer der streitenden Familie nur sehr wenige Kunden unterwegs und kaum Verkäufer. Die Fleischabteilung liegt im Dunkeln wie ein stiller Ort der Erinnerung: Heute ist Sonntag.

Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage.

Was aber, wenn die Arbeit von sechs Tagen nicht ausreicht? „Wenn die Gropiuspassagen auch sonntags geöffnet haben, verdiene ich weniger“, sagt der Blumenhändler an der Ecke, der hier freitags, sonnabends und sonntags jeweils um 7 Uhr seinen winzigen Blumenstand aufbaut. Mario Sucker weiß nicht genau, ob die Leute ihre Blumen an verkaufsoffenen Sonntagen lieber in der Passage holen – oder ob sie keine brauchen, weil sie ohnehin keine Zeit mehr haben, ihre Verwandten zu besuchen. Sein Stand steht seit vier Jahren im strategisch berechneten Dreieck zu drei Alten-Einrichtungen der Arbeiterwohlfahrt. Die Geschäfte gingen stetig aufwärts, sagt er, was nicht heißt, das es zum Leben für die Familie reicht – er hat drei Kinder, die elf, zwölf und dreizehn Jahre alt sind. „Ohne Sonntagsarbeit geht es nicht“, sagt er, „und wenn im Sommer die Blumen verderben, muss das Arbeitsamt etwas dazuschießen.“

Mario Sucker ist eigentlich Boxer. Der Sport erfüllt sein Leben, erfährt man. Während seine Finger überraschend geschickt weiter Bast um Blumenstängel winden und Blüten und Blätter zu kleinen Gebinden biegen, schildert der 40-Jährige sein Leben, dessen Konstanten das Boxen sind und der Blumenstand, den er vom Vater erbte, seine Familie und der Bezirk Neukölln, in dem er seit seiner Geburt lebt. Der Sonntag war immer gleich: Während er morgens den Stand aufbaute, bereitete seine Frau zu Hause das Frühstück vor. Er löste sie zum Frühstück ab, fuhr danach zurück, damit sie Mittagessen kochen konnte.

Heute, sagt Mario Sucker, bleibt er am Wochenende den ganzen Tag am Stand, bis alles verkauft ist. Den zweiten Stand, den er früher unter der Woche gemeinsam mit seiner Frau betrieb, hat er momentan stillgelegt. Momentan sei seine Frau „nicht da“, sagt er. Pause. Er zuckt die Schultern. Von Montag bis Freitag schmeißt er den Haushalt, hilft bei den Aufgaben. Am Wochenende seien die Kinder meist auf sich gestellt. „Sie sind ja schon groß“, sagt der Boxer in einer Mischung aus Vertrauen und Verzweiflung. Es klingt durch: Die Arbeitszeiten, das wenige Geld mögen ihren Teil zu der Situation beigetragen haben. Und mal ausspannen? „Ausruhen ist später“, sagt er, es klingt wie: Nur nicht nachlassen. Oder auch: Nur nicht zu viel darüber nachdenken.

Darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn.

"Feierabendheim“ hießen in der DDR die Altenheime. Ein Wort, das auf jeden Fall schöner klingt und vielleicht zutreffender ist. Das Ida-Wolff-Pflegewohnheim der Arbeiterwohlfahrt in Britz steht zwar nicht in dieser Tradition, folgt aber ähnlichen Ideen: Unter der Woche wird gespielt und erzählt, gibt es Lesezirkel und gemeinsame Ausflüge, also vieles, das im früheren Leben der Bewohner fürs Wochenende reserviert war. Jetzt sind die Blumen des Boxers oft die einzigen Boten des Sonntags. Besucher stellen sie auf Tische und an Betten.

Maximal alle 14 Tage gebe es einen Gottesdienst in der Cafeteria im 7. Stock, sagen die Heimbewohnerinnen. „Viele Mitbewohner müssen dorthin begleitet werden, aber das Hilfspersonal hat ja auch Sonntag – und deshalb frei.“ So ist am Tag des Herrn Mensch-Ärgere-Dich-Nicht einer der Höhepunkte, andere lösen Rätsel. Manche legen einfach den Kopf auf den Tisch.

An Orten wie dem Ida-Wolff-Heim schnurren die unzähligen Sonntage langer Leben auf einzelne Erinnerungsbilder zusammen. Edith Mühlfellner und Hildegard Schielke sind 84 und 88 Jahre alt. Edith Mühlfellners Sprache hat etwas Weiches, Fränkisches. Der Akzent ist ein Mitbringsel aus Nürnberg, wo es für sie jahrzehntelang gar keine Sonntage gegeben habe, sagt die die alte Dame lächelnd, „denn mein Mann arbeitete für einen Fußballverein, wir verbrachten unsere Wochenenden auf dem Sportplatz“. Aufgewachsen ist sie auf einem Gut in Ostpreußen. „In der Frühe wurden dort die Tiere versorgt, dann gingen alle in die Messe“, erzählt sie. „Und danach besuchte man sich gegenseitig.

Andere Zerstreuung gab es nicht. Gearbeitet wurde nur das Nötigste. Selbst die Klöße gab es unter der Woche, „damit niemand zu lange in der Küche stand“.
Edith Mühlfellners Kindheitserinnerungen klingen heute wie Geschichten aus einer idealen Welt. Einer Welt, wo Gebote noch zählten. Zu den schönen Gewohnheiten des Sonntags, erinnert sie sich, habe der Rundgang übers Gehöft gehört. Man zeigte dem Besuch, was man hatte, machte Bestandsaufnahme dessen, was war – und was sein sollte. Zwischen Beetreihen, unter weitem Himmel, lassen sich manche Dinge einfach besser sagen. Oder begreifen. Edith Mühlfellners ideale Welt zerbrach 1945, als sie in russische Gefangenschaft kam. Fünf Jahre galten keine Gebote, bestand ihr Leben aus endlosem Wechsel von 24 Stunden Küchendienst, 24 Stunden Ausruhen. Diese Zeit reduziert sie heute auf das eine, harte Wort „schlimm“. Dennoch scheint es, als habe der ostpreußisch strenge Sonntag in ihr weiter gewirkt. So, dass sie ihren Glauben behielt, und das Gefühl, nicht verlassen zu sein.

Ihre Mitbewohnerin Hildegard Schielke erinnert sich an die Sonntage ihrer Kindheit anders. „In Kreuzberg sang sonntagmorgens die Heilsarmee ihre christlichen Lieder in den Hinterhöfen“, sagt sie, „danach kamen die Leierkastenmänner. Sonntags waren ja alle zu Hause. Wir warfen dann ein paar Groschen hinunter und sangen manchmal ein bisschen mit.“ Heute sind die Berliner Hinterhöfe verschlossen, die Melodien des Sonntags verstummt. „Die Lärmschutzordnung untersagt laute Musik vor bewohnten Gebäuden“, sagt der Leierkastenmann und schaut den Menschen nach, die im Lustgarten wandeln oder das Gerippe des Palastes der Republik anstarren. Auch der Palast ist, wenn man so will, das Mahnmal eines Sonntags. Des Feiertages der Werktätigen der DDR. So wie die Streben, kann man sich vorstellen, wirkt der Sonntag im Alltag: unsichtbar, aber ungemein stabilisierend.

Das Dritte Gebot: Von außen besehen ist es eines der unscheinbarsten. Leicht zu kopieren, ungestraft zu brechen. Es ist weniger ein Verbot als ein Angebot: Wer es annimmt, bekommt etwas, dessen Gegenwert nicht in Wort oder Zahl zu bemessen ist.


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