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Die gesellschaftlichen Risiken der neuen Irrationalismen


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Esoterik: Die gesellschaftlichen Risiken der neuen Irrationalismen


von Philipp Flammer

(Text abgedruckt im TANGRAM Nr. 6, S. 7-12, dem Bulletin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR, Bern)

Das "okkulte Axiom"
Das Paradigma der spirituellen Evolution
Meister-Schüler-Beziehungen
Der Initiationsweg
Esoterisches Denken als Denken in Analogien, Mythen und Legenden
Literatur
Zusammenfassung / Résumé



Ist Esoterik als Ganzes rassistisch und antisemitisch? Oder sind die dahingehenden Äusserungen esoterischer Kreise bedauerliche Auswüchse oder Randphänomene der Esoterik? Der vorliegende Beitrag meint weder das eine noch das andere, sondern will aufzeigen, wie die esoterische Weltdeutungsmaschinerie funktioniert, die solchen Äusserungen sehr förderlich ist.


Wir leben in einer sich schnell ändernden, durchrationalisierten, versachlichten und von Informationen überfluteten Gesellschaft, in der viele Menschen zunehmend Mühe bekunden, sich zurechtzufinden, sich eine sinnvolle Existenz aufzubauen und zu sichern oder sich der geforderten "Flexibilität" schlicht verweigern. Und: Wir leben in einer Zeit, in der eine politisch-gestaltende Öffentlichkeit Ermüdungserscheinungen zeigt während narzisstische Selbstinszenierungen Hochkonjunktur erleben und esoterische Weltdeutungen zu boomenden Wirtschaftsfaktoren geworden sind. Will man diese beiden aktuellen gesellschaftlichen Grundtendenzen in einem Zusammenhang sehen (Wölflingseder, 1997), so drängt sich die Vermutung auf, dass die Esoterik über Eigenschaften verfügt, die sich in der aktuellen gesellschaftlichen Situation als besonders vorteilhaft erweisen und wesentlich zu ihrer Renaissance beitragen.

Gugenberger (1992: 20) weist daraufhin, dass die heutige Esoterik mit 'geheimem' Wissen - wie die Etymologie suggeriert - nichts zu tun habe und in eine Unzahl von jeweils die Wahrheit für sich beanspruchende Richtungen aufgesplittert sei. Die heutige Esoterik habe sich zur seichten Ideologie eines "Neuen Zeitalters" gewandelt, die so ziemlich aus allem schöpfe, was in der Welt an "spirituellem Weistum" greifbar sei - von Asien über europäisch-nahöstliche Traditionen bis zu den Indianern. Überall werde gesichtet, "erkannt" und dem jeweils eigenen esoterischen System eingepasst. Wie der Hinduismus im Osten zeichnet sich die abendländische Esoterik also durch ein enormes "Amalgamierungsvermögen" aus, einen ideologiekonstruierenden, alles einschliessenden Geist, der fremde Einflüsse beinahe nach Belieben aufnimmt und synkretistisch integriert. Der Eindruck des "anything goes", den die Esoterik insgesamt so leicht zu vermitteln vermag, täuscht jedoch darüber hinweg, dass esoterische Weltkonstruktionen keineswegs beliebig sind, sondern von einigen gemeinsamen Annahmen ausgehen und sich an bestimmte Denkmuster halten, die eher prä- als postmodern sind und für eine aufgeklärt offene, vernunft- und konsensorientierte Gesellschaft zu Risikopotentialen werden können.


Das "okkulte Axiom"

In seiner Analyse, wie im New Age subjektive Wirklichkeiten sozial konstruiert werden, stellt Stenger (1993: 108 - 119) fest, dass New Age-"Protagonisten" und -"Verwerter", also Esoterikerinnen und Esoteriker, von einem "okkulten Axiom", von einem Sinnzusammenhang ausgehen, der auf der Gewissheit einer "grösseren Realität" gründet. Ohne dass sie weitere Erklärungen in der Regel für nötig halten, stellen sie ganz auf die Behauptung ab, dass die sichtbare Welt nicht die einzige und ganze Wirklichkeit sei, sondern von einer grösseren, unseren Sinnesorganen unzugänglichen Welt umschlossen werde, zu der die Adepten einen Zugang suchen und der sie inne werden möchten. Dabei wird auch impliziert, dass die grössere okkulte die kleinere reale Welt schicksalsbestimmend dominiere, eine Vorstellung, die jedes zufällige Ereignis in der sichtbaren Welt zu Vorsehung und Bestimmung werden lässt. Erst die Kontextualiserung einer solchen Überwelt lässt jene Erfahrungen, von denen in esoterischen Workshops die Rede ist (und die ansonsten sehr profan sein können), plausibel als 'okkult' erscheinen.

Die axiomatische Festlegung auf eine okkulte Überwelt ist die Konstruktionsgrundlage einiger ideologischer Merkmale, die für praktisch alle esoterische Richtungen in mehr oder weniger starker Ausprägung typisch sind. Esoteriker tendieren dazu, sich in dieser sichtbaren "materialistischen" Welt, in ihrer sozialen Umwelt wie auch in ihrem physischen Körper grundsätzlich fremd und unwohl zu fühlen. Sie sehen sich herausgefallen aus einem göttlichen Lichtparadies, vorübergehend verbannt aufgrund einer kosmischen Verschwörung, "geworfen" in eine finstere, verdorbene Welt, aus der sie sich nun befreien müssen. Ähnlich den alten Gnostikern entwickeln manche Esoteriker gar eine aristokratische Verachtung gegenüber der Masse der sogenannten "Hyliker", den spirituell Zurückgebliebenen, die blind gegenüber der Negativität der Welt seien, die sich dem Materiellen verschrieben hätten und für die es keine Hoffnung auf Erlösung gebe (Eco, 1995: 62ff; Strohm, 1997: 35f, 79ff). Phantasien naher End- oder Wendeereignisse, die der "negativen" Welt den Umsturz, die Zerstörung oder die kathartische Katastrophe bringen, unterstreichen diese Verachtung (Stamm, 1998).

Welch fatale soziale Dynamik zudem die Annahme einer schicksalsbestimmenden Überwelt entwickeln kann, rekonstruiert Semiotikprofessor Umberto Eco in seinem Roman "Das Foucaultsche Pendel" (1989) eindrücklich. Die Annahme verleitet nämlich dazu, in allen politischen und sozialen Ereignissen Hinweise auf einen göttlichen Heilsplan zu sehen, die - von Eingeweihten richtig interpretiert - Aufschluss über den weiteren Verlauf der Heilsentwicklung geben könnten. Ein solches Denken tendiert nicht nur zu dualistischer Schwarz-Weiss-Malerei, sondern verliert sich gerne auch in eigentlichen Verschwörungstheorien. Das Drama um die Sonnentempler nur wenige Jahre nach dem Erscheinen des "Foucaultschen Pendel" belegt, dass der dramatische Schluss in Ecos Roman keineswegs als überzeichnet gelten darf.


Das Paradigma der spirituellen Evolution

In sozialer Hinsicht fühlen sich Esoteriker also einer höheren Ordnung zugehörig und überhöhen die individuelle Selbstfindung zum revolutionären Paradigma. Die spirituelle Reinigung der Seele (des "wahren Selbst", des "feinstofflichen Gottesfunken") von allem "Grobstofflichen" letztlich bis hin zur Erleuchtung und vollen Entfaltung eines Über- oder Gottmenschen, wird zum absoluten Mass ihres Strebens und lässt sie den Sinn für die sozialen und historischen Zusammenhänge der sichtbaren Welt verlieren. Noch einigermassen moderat, aber doch eindrücklich kommt diese realitätsentfremdete und asoziale Perspektive in den beiden Esoterik-Bestsellern zum Ausdruck, die in den letzten Jahren beinahe ohne Unterbruch die Topränge der Sachbuch(!)-Literatur in der Schweiz besetzt hielten: beim US-Amerikaner James Redfield, dem es in den "Prophezeiungen von Celestine" gelingt, eine esoterische Einweihung oder Läuterung vor einem vermeintlich realen peruanischen Hintergrund vorzustellen, ohne offensichtlich auch nur die geringste Ahnung von den tatsächlichen Verhältnissen in Peru zu besitzen; und beim Zürcher Betriebswirtschafter René Egli, der die Lösung für alle (Welt-) Probleme letztlich im simplen "LOL2A-Prinzip" zu erkennen glaubt und sich in die Behauptung versteigt, dass es eine objektive Realität gar nicht gebe. Die Welt sei immer nur das, was der Mensch von ihr denke. Ein "Herzdenken" ist somit angesagt, das die Welt, wie sie ist, systematisch ignoriert und den einzelnen Menschen zum alleinigen Schmied seines eigenen Glücks verdammt.

Die normative Ableitung einer spirituellen Evolution der Seele aus dem okkulten Axiom kann in einzelnen esoterischen Richtungen sehr weit gehen bis hin zur Vorstellung, dass die sterbliche Körperhülle nur Ballast für die "unsterbliche Seele" sei, die es zu überwinden oder abzulegen gilt - auch mit jenen destruktiven Konsequenzen, wie sie in jüngerer Zeit mehrfach bekannt geworden sind. Denn: "Tod ist Leben, Sterben Pforte, Alles ist nur Übergang." (Todesanzeige. Tages Anzeiger, 8.1.1999). Reinkarnation ist einer der zentralen Schlüsselbegriffe auch der abendländischen Esoterik. Er steht für die Vorstellung, dass das unsterbliche, jedoch "karmisch" belastete "wahre Selbst" im endlosen Kreislauf von Leben und Tod in einer Vielzahl "grobstofflicher" Körper eingefleischt (inkarniert) werde. Die Reinkarnationslehre definiert somit die aktuelle menschliche Lebenssituation als Verdienst oder Strafe für das Tun in vorangegangenen Leben (was jedes Insistieren auf soziale Gerechtigkeit sinnlos macht) und verspricht die Chance, durch spirituelles Wohlverhalten im künftigen Leben eine Evolutionsstufe weiterzukommen.

Die gesellschaftlichen Implikationen dieser Lehrvorstellung wären sicher eine eigene kritische Ausführung wert. Allgemein gilt hier jedoch festzuhalten, dass aus esoterischer Sicht somit das Körperliche minderwertig und "Positives Denken" alles ist. Diese Feststellung steht scheinbar im Widerspruch zur Tatsache, dass gerade unter Esoterikern eine (spirituell motivierte) Wohlfühl-Industrie Hochkonjunktur hat, angefangen bei Entspannungstechniken über Massagen bis hin zu Aroma- oder Bachblütentherapien. Tatsächlich aber kann die esoterische Vorstellung, das "Feinstoffliche" von allem "Grobstofflichem" läutern zu müssen, als einer der Motoren hinter dieser Industrie gesehen werden. Und wenn Esoteriker den wissenschaftlichen Heil- und Therapieverfahren vorwerfen, die spirituellen Aspekte einer Krankheit zu vernachlässigen, kann umgekehrt beobachtet werden, dass unter "ganzheitlichen" Esoterikern ein systematisches Ignorieren der wissenschaftlich erforschbaren, "grobstofflichen" Ursachen einer Krankheit üblich ist.

Das Paradigma der spirituellen Evolution unterstützt aber nicht nur die elitäre Grundhaltung der Esoteriker, wie sie mit dem okkulten Axiom angelegt wird, in Richtung einer narzisstischen Selbstbezogenheit. Es ist auch Vorstellungen einer spirituellen Elite von besonders reifen oder "erleuchteten" Supermenschen sehr förderlich, die sich auserwählt fühlen, die Geschicke der noch weniger erleuchteten Menschheit zu ihrem Heil zu führen. In dieser Ausprägung erhält Esoterik eine gesellschaftspolitische Ambition, die deutlich totalitäre Züge trägt und nahtlos in rechtsextremes und ariosophisches Denken übergehen kann.


Meister-Schüler-Beziehungen

Wenn nun also Esoterik in einem ersten Satz eine schicksalsbestimmende okkulte Überwelt antizipiert ("okkultes Axiom"), zu der es auf "normalem", sinnlichem Weg keinen unmittelbaren Zugang für den einzelnen Menschen gibt, und in einem zweiten Satz davon normativ ableitet: "Du sollst dein 'wahres Selbst' entdecken und bis zur spirituellen Vollkommenheit entfalten" (spirituelle Evolution), so folgt daraus ein kognitives Problem: Jede esoterische Erkenntnis bleibt an die Voraussetzung gebunden, dass das "okkulte Axiom" im voraus verbal vermittelt und der okkulte Kontext erst geschaffen werden muss, damit bestimmte Erfahrungen als entsprechend spirituell erfahren werden.

Die Esoterik begegnet diesem Problem gewöhnlich mit einem dritten Satz, der "Eingeweihte" legitimiert, als temporäre Vermittler und Kontrolleure zwischen der grösseren und der kleineren Realität agieren zu können, und schliesslich mit einem vierten Satz, der die Adepten auffordert, den Weg der persönlichen Initiation zu gehen und sich einer esoterische Gemeinschaft anzuschliessen. So sehr heute die Esoterik zu einem diffusen Massenphänomen auszuufern scheint, bei dem eine aufwendige Propagandamaschinerie aus Esoterikmessen, Buchhandel, Fernsehen und Internet als Vermittler zwischen den Welten funktioniert und damit in der Öffentlichkeit eine okkulte Plausibilitätsstruktur salonfähig macht, bleibt im Kern der Esoterik das klassische Meister-Schüler-Verhältnis prägend, der Anspruch auf ein "geistig-seelisches Führertum" (Gugenberger, 1992: 21).

Im wesentlichen ist dann von "geistigen Gesetzen" die Rede, die wie ein allumfassender Geist oder eine Energie alles Leben und alle Materie verbinden und durchfliessen (Holismus) und deren Heilswirkung nur wenige "Auserwählte" kennen und spirituell "Berufenen" zugänglich machen könnten (Gnosis). Die Erkenntnisfreiheit der esoterisch Suchenden reduziert sich dabei weitgehend auf die Wahlfreiheit der Meister, denen sie sich spirituell anvertrauen: angefangen von den Kartenlegerinnen, Horoskop- und Orakeldeutern über Geistheiler und Reikimeisterinnen, die irgendwelche kosmische Energien anzuzapfen vorgeben, oder Medien, die mit Verstorbenen Kontakt aufnehmen oder mit jenseitigen Geistwesen wie etwa Jesus, Erzengel Michael, dem Hindugott Ram oder anderen Ausserirdischen in Verbindung stehen wollen, bis hin zu Yogis, Gurus, reinkarnierten Gottheiten oder Avataren, anthroposophischen Medizinern, Reinkarnations- und transpersonalen Therapeutinnen.


Der Initiationsweg

Aus dem Paradigma der spirituellen Evolution folgt insofern ein zweites Problem, als in der Esoterik die persönliche spirituelle Erfahrung hoch bewertet wird und als Beleg für die Realität einer okkulten Überwelt herhalten muss, die nicht hinreichend beschrieben werden kann. Diese Betonung einer Erfahrung von etwas, das im Grunde gar nicht beschrieben werden kann, "macht den entsprechenden sozialen Zusammenhang offen für die Selbstzurechnung der Subjekte. Unabhängig vom Motivationshintergrund und 'tatsächlicher' Erfahrung kann sich jeder (...) unter Verweis auf das Unaussprechliche der Erfahrung als 'Teilhaber des Wunderbaren' darstellen", denn "es gibt keine Beweismöglichkeiten im okkulten Kontext hinsichtlich eines 'tatsächlichen' Zugangs zur grösseren Realität, es gibt nur soziale Plausibilitäten" (Stenger, 1993: 117). Die Konsequenzen, die sich aus diesem Problem ergeben, sind mehrere.

Im okkulten Kontext kann sich potentiell jede Person mit dem nötigen Selbstbewusstsein eigenmächtig zu einer erfahrenen Meisterin erklären, die esoterisch Suchenden den Zugang zur grösseren Realität vermitteln könne. Das "okkulte Axiom" lässt keine allgemeinverbindlichen Regeln der Qualifizierung und der Qualitätssicherung zu. Die unübersichtliche Vielzahl an "Eingeweihten", die sehr marktorientiert um neue Adepten werben und ihre eigenen Schulen gründen, hat hier ihren Grund.

Mit dem Problem, dass die okkulte Überwelt nicht hinreichend beschrieben werden kann und den Suchenden individuelle Interpretationen ermöglicht, sind Zweifel an der Legitimation der Meister (latent) allgegenwärtig und drohen deren Autorität als Vermittler und Kontrolleure im Zugang zu dieser grösseren Realität chronisch zu untergraben. Die Versuchung für sie, solche Zweifel mit allen Mitteln zu unterbinden und den Zusammenhalt ihrer Schülerinnen und Schüler mit besonderen, "sektiererischen" Methoden zu forcieren, muss deshalb als sehr hoch eingeschätzt werden. Wohl in guter Erinnerung an den Lehrsatz von Altgrossmeister Eliphas Lévi, "Man muss WOLLEN, um das Reich zu besitzen.

Und um zu regieren, muss man - SCHWEIGEN", sind denn auch manche esoterische Richtungen und Schulen autoritär und logenartig organisiert, kennen langwierige und stark ritualisierte Schulungs- oder Einweihungsprozesse, "Initiationen", "Brücken" oder "Pfade", auf denen die Meister und ihre Kader die Schüler über bestimmte "Stufen" oder "Grade" zur spirituellen Vervollkommnung führen wollen und sie dabei hermetisch "versiegeln" bzw. unter Androhung entsprechender Sanktionen zu Geheimhaltung und Gruppenloyalität verpflichten ("Arkandisziplin"). Vereinnahmende Gruppenprozesse sind aber auch in offen organisierten Kurssystemen, Seminarien und Workshops keine Seltenheit.

Der okkulte Kontext bietet mit seinen Verweisen auf subjektive Erfahrungen keine Möglichkeiten für die Korrektur von Selbsttäuschungen und Irrtümern und missachtet fahrlässig, dass unsere sozial konstruierten Erwartungen die Wahrnehmung beeinflussen, dass unsere Sinne uns also leicht täuschen können. Viele der in esoterischen Kreisen kursierenden Behauptungen und Methoden sind empirisch hinreichend widerlegt (u.a. Lambeck, 1998; Wolf, 1993). Doch im Angesicht des "okkulten Axioms" verblassen solche Einwände in der Regel zu materialistischen Erbsenzählereien oder erscheint Kritik allgemein gar als blasphemisch.

Aber nicht nur die Irrtumsmöglichkeiten werden übergangen, auch jede Möglichkeit der Wahrnehmungsmanipulation wird gewöhnlich bestritten oder ignoriert. Eine sogenannt mystischen Erfahrung zum Beispiel ist physiologisch gesehen nichts anderes als ein veränderter Bewusstseinszustand, den man etwa als Versenkung oder ekstatische Entgrenzung bezeichnen könnte, ein Zustand, der als existentielle Erfahrung auch im ausserreligiösen Bereich auftreten kann und dort auch mit ganz anderen Begriffen als religiösen beschrieben wird. Erst wo solche veränderte Bewusstseinszustände in einem sozialen, zum Beispiel okkulten Kontext inhaltlich bzw. spirituell gedeutet und definiert werden, erhalten sie ideologisches Gewicht als "Gotteserfahrung", als Verbundenheit mit dem "kosmischen Bewusstsein" oder der "Mutter Natur", als "Seelenreise", "Rückführung", Kontakterfahrung mit Ausserirdischen, als Offenbarung oder auch als politisches Sendungsbewusstsein.

Zudem lassen sich veränderte Bewusstseinszustände methodisch herbeiführen, etwa durch Grenzerfahrungen in Extremsportarten, durch Reizentzug (Isolationskammer, Samadhi-Tank) oder -überflutung (laute, rhythmische Musik), aber auch durch Gruppeneuphorie, Meditation und Yoga, Hypnose oder psychedelische Drogen. Die ideologische Definitionsmacht im Rahmen eines okkulten Gruppenkontextes sowie die Möglichkeiten, veränderte Bewusstseinszustände methodisch herbeiführen zu können, verbunden mit der Tatsache, dass mystische Erfahrungen in der Regel als sehr existentiell erlebt werden, geben für "eingeweihte" Meister also höchst potente Initiationsinstrumente ab, mit denen sie ihre Schülerschaften zu absolut ergebenen, esoterischen Fundamentalisten formen können. Ein wichtiges Instrument, Wahrnehmungsunsicherheiten bei den Adepten zu verwischen, ist zudem das Konzept des "inneren Führers", dem man sich anvertrauen soll, die Betonung einer "untrüglichen" Intuition. Aber auch dieses Konzept funktioniert vor allem innerhalb des okkulten Kontextes, in dem bestimmte Wahrnehmungsschemata und Deutungsmuster bereits vorgetreten sind und der Intuition kaum wesentlich andere Alternativen offenlassen.

Esoterisches Denken als Denken in Analogien, Mythen und Legenden

Die Grundannahme der Esoterik und die daraus abgeleiteten Handlungsanleitungen, wie sie in den obigen vier Sätzen vom Münchner Soziologen Gerald Eberlein (1995) herausdestilliert worden sind, zeigen, dass der Esoterik - so individuell verspielt oder bizarr abgehoben die einzelnen Richtungen beim ersten Hinsehen erscheinen mögen - ein handfestes, gegen kritische Einwände weitgehend immunisiertes Ideologiemuster unterliegt, das sektiererischer Gruppenbildung sehr förderlich ist und von Eberlein allgemein mit Ideologiemustern etwa des Marxismus oder des Faschismus verglichen wird.

Wie wir gesehen haben, sind schon im esoterischen Ideologiemuster wichtige Grundlagen vorhanden, die einer Pulversierung des Weltanschauungsmarktes Vorschub leisten und dazu beitragen, dass im gesellschaftlichen Kontext konsensorientierte Bemühungen zu einem endlosen Hürdenlauf zu verkommen drohen. Andere Faktoren, welche auch die inhaltliche Variationsbreite der esoterischen Weltkonstruktionen nachhaltig bestimmen, ergeben sich aus der Beobachtung, dass in der Esoterik ein Denken in Mythen und Analogien (Ähnlichkeiten) unter explizitem Verzicht auf Ursache-Wirkung-Analysen (Kausalanalysen) dominiert. Getreu dem esoterischen Leitsatz "Wie oben so unten, wie innen so aussen" behaupten etwa Thorwald Detlefsen und Rüdiger Dahlke, dass der Mensch als Mikrokosmos ein analoges Abbild des Universums sei und die Summe aller Seinsprinzipien latent in seinem Bewusstsein enthalte (Lambeck, 1998: 5).

Esoterisches Denken sei prinzipiell analoges Denken und niemals kausal, meint Dahlke. Gemäss Detlefsen gestattet das Analogiedenken dem Menschen, das gesamte Universum ohne Grenzen begreifen zu lernen. Denn der Satz "Wie oben, so unten" erlaube es, "unsere Betrachtungen und Erforschungen der Gesetze auf den uns zugänglichen Bereich zu beschränken, um dann die gemachten Erfahrungen auf die anderen, uns unzugänglichen Ebenen analog zu übertragen" (zitiert nach Lambeck, 1998: 4f). Mit anderen Worten: Da, wo die menschliche Erkenntnisfähigkeit an ihre Grenze stösst, erweitern sich die Esoteriker ihr Bewusstsein mit einem erkenntnistheoretisch skrupellosen Trick, indem sie Symmetrie und Ähnlichkeit der Kosmen zu den entscheidenden "Gesetzen" erklären und reale Ursache-Wirkung-Zusammenhänge als irrelevant oder gar als Illusionen spirituell Zurückgebliebener disqualifizieren.

Populär kommt dieses Denken in der Astrologie zum Ausdruck, wo der Lauf der Sterne als ein "synchrones Analoggeschehen" (Dahlke) zur psychischen oder charakterlichen Entwicklung eines Menschen gedeutet wird, eine These, die trotz intensiven Bemühungen empirisch bis heute nicht hinreichend belegt werden konnte. Analogiedenken steht aber auch hinter der Bachblüten-Therapie und der Homöopathie, die "Ähnliches mit Ähnlichem" zu heilen versuchen. Kurz: Analogieschlüsse sind in der Esoterik omnipräsent und werden wie die Physiognomik, die das Äussere eines Menschen als genaues Spiegelbild seines inneren Seins interpretiert, bevorzugt auch zu diagnostischen Zwecken eingesetzt: Tarotkartenlegen, Handlinienlesen, Irisdiagnostik, Aura Soma, Numerologie oder Feng Shui. Die ökonomischen Vorteile von Analogien liegen auf der Hand:

Im Einflussbereich des okkulten Kontextes können sie nicht widerlegt werden und müssen dort lediglich in der Lage sein, eine gewisse Plausibilität zu erzeugen - was umso leichter fallen dürfte, je weniger Chancen Menschen haben, Wirkungen und Erscheinungen auf ihre tatsächlichen Ursachen hin zu hinterfragen. Der Variation bekannter und der Erfindung neuer Analogien sind damit kaum Grenzen gesetzt. Die soziale Problematik analogen Denkens dürfte dagegen den meisten Esoterikern kaum bewusst sein: Einmal abgesehen von krassen Fehldiagnosen wirken Analogien in den Köpfen der Menschen als vorverurteilende Wahrnehmungsfilter, die eine unvoreingenommene Betrachtung einer aktuellen Situation verunmöglichen und eine sachliche Beurteilung ideologisch verzerren. Analogiedenken fördert soziale Stigmatisierungen.

Eine zweite Vorliebe der Esoteriker gilt Mythen und Legenden, deren historische Richtigkeit in der Regel stillschweigend angenommen, gelegentlich auch explizit behauptet, aber praktisch nie hinreichend belegt wird. Von grundlegender Bedeutung für die abendländische Esoterik sind altägyptische und orientalische Mythen, der Mythos von Atlantis oder die theosophische Wurzelrassenlehre, welche die "arische Rasse" als Nachfolgerin einer sogenannten "atlantischen Rasse" erklärt, dann die Legenden um den 1314 blutig zerschlagenen Templerorden und daran anschliessend der Mythos um den geheimnisvollen Christian Rosenkreutz. Inzwischen wurden jedoch die Mythen sämtlicher Kulturen von der Esoterik in irgendeiner Form ideologisch und kommerziell vereinnahmt, und heute gewinnen selbst die Ariosophie und heidnisches Germanentum wieder eine wachsende Anhängerschaft (von Schnurbein, 1993). Eine besondere Beachtung verdienen zudem Weltverschwörungsmythen, die in der esoterischen Szene eine weite Verbreitung finden (Gugenberger 1998).

Im wesentlichen sind Mythen vom ursprünglichen Entstehungskontext verselbständigte kognitive Deutungsmuster, die mündlich oder schriftlich überliefert werden und dabei innerhalb einer optimalen Bandbreite Veränderungen erhalten und Varianten entwickeln. Ihr kulturelles Überleben und Auftreten ist selektiv, sofern es ihnen gelingt, "Gleichgewichtszustände im paradoxen Kräftespiel der menschlichen Affektivität zu finden und zu stabilisieren", wie sich der Zürcher Psychologieprofessor Norbert Bischof ausdrückt:

"Wenn ein Mythos seine Nische in dieser Ökologie gefunden hat, dann hat er gute Aussicht zu überdauern, Aussicht darauf, dass ihm Tempel und Altäre errichtet, Jungfrauen geweiht, menschliche Herzen geopfert werden, dass er in Hymnen unsterblich gemacht, in Felsen gemeisselt wird, dass Märtyrer von ihm Zeugnis ablegen, Fundamentalisten über seinen Wortlaut wachen und missionierende Konquistadoren die Welt in Trümmer legen, um ihn in Millionen unterjochter Gehirne triumphieren zu lassen." (Norbert Bischof, 1996: 80)

So gesehen reflektiert der aktuelle Esoterikboom also nicht nur tiefgreifende und alarmierende Veränderungen im sozialen Ökosystem unserer Gesellschaft, die eine erfolgreiche Selektion esoterischer Weltdeutungen erlaubt. Esoterik erweist sich auch als optimales Vehikel für die ideologische Wiederbelebung jeglicher Art von Mythen und "vergessenen" Ideologien, die im Laufe der Menschheitsgeschichte und ganz besonders seit der Aufklärung auf dem kulturellen Müllhaufen gelandet sind und für heutige "Aufgeklärte" als längst überholt und allenfalls von kulturhistorischem Interesse gehalten werden. Insofern dürfen die in jüngerer Zeit publik gewordenen rassistischen und antisemitischen Äusserungen (Niggli, Frischknecht, 1998, 702ff) bis hin zur Renaissance eines "esoterischen Hitlerismus" (Freund, 1995, 110 ff) nicht als Auswüchse oder Randphänomene der Esoterik verharmlost werden. Vielmehr gehören solche Tendenzen mit zum Kern der esoterischen Weltdeutungsmaschinerie.


Literatur:

Bischof, Norbert, 1996. Das Kraftfeld der Mythen. Signale aus der Zeit, in der wir die Welt erschaffen haben. Piper Verlag : München.

Eberlein, Gerald L., 1995. Parasoziologie. In: dslb. (Hg.), Kleines Lexikon der Parawissenschaften, S. 133 - 135. C.H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung : München.

Eco, Umberto, 1995. Die Grenzen der Interpretation. dtv wissenschaft : München.

Freund, René, 1996. Braune Magie? Okkultismus, New Age und Nationalsozialismus. Picus Verlag : Wien.

Gugenberger, Eduard, 1992. In den esoterischen Nebeln des neuen Zeitalters. In: dslb., Schweidlenka, Roman (Hg.), Missbrauchte Sehnsüchte? S. 19 - 29. Verlag für Gesellschaftskritik : Wien.

Gugenberger, Edudard, Franko Petri, Roman Schweidlenka, 1998. Weltverschwörungstheorien. Die neue Gefahr von rechts. Deuticke Verlagsgesellschaft : Wien, München.

Lambeck, Martin, 1998. Esoterik und Physik. In: EZW-Texte Nr. 141. Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen : Berlin.

Niggli, Peter, Frischknecht, Jürg, 1998. Rechte Seilschaften. Wie die "Unheimlichen Patrioten" den Zusammenbruch des Kommunismus meisterten. Rotpunkt Verlag : Zürich.

Stamm, Hugo, 1998. Im Bann der Apokalypse. Endzeitvorstellungen in Kirchen, Sekten und Kulturen. Pendo Verlag : Zürich.

Stenger, Horst, 1993. Die soziale Konstruktion okkulter Wirklichkeit. Eine Soziologie des 'New Age'. Verlag Leske + Budrich : Opladen.

Strohm, Harald, 1997. Die Gnosis und der Nationalsozialismus. Suhrkamp Verlag : Frankfurt a.M.

von Schnurbein, Stefanie, 1993. Göttertrost in Wendezeiten. Neugermanisches Heidentum zwischen New Age und Rechtsradikalismus. Claudius Verlag : München.

Wolf, Rainer, 1993. Sinnestäuschung und "New-Age"-Esoterik: Aktuelle Parawissenschaften kritisch betrachtet. In: Oepen, Irmgard, Sarma, Amardeo (Hg.), 1998. Parawissenschaften unter der Lupe, S. 137 - 149. Schriftenreihe der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP). Lit Verlag : Münster.

Wölflingseder, Maria, 1997. Die Spirituellen, die aus der Kälte kamen. In: Awadalla, El, Heimliches Wissen - Unheimliche Macht. Sekten, Kulte, Esoterik und der rechte Rand, S. 181-202. Folio Verlag : Wien, Bozen.




Philipp Flammer ist Soziologe und seit 1991 Mitarbeiter beim Verein infoSekta, einer Informations- und Beratungsstelle für Sekten- und Kultfragen in Zürich.


Zusammenfassung

Die vielen esoterischen Weltdeutungen und Lebenskonzepte sind keineswegs beliebig, sondern gehen von einigen gemeinsamen Annahmen aus und halten sich an bestimmte Denkmuster, die für eine aufgeklärt offene, vernunft- und konsensorientierte Gesellschaft Risikopotentiale darstellen. Esoterik verliert dabei den Anschein einer unverbindlichen Weltanschauung und zeigt ein ideologisches, gegen kritische Einwände weitgehend immunisiertes Grundmuster, das speziell sektiererischer Gruppenbildung sehr förderlich ist und sich in vier Thesen zusammenfassen lässt: 1. Axiomatische Festlegung: Es gibt eine grössere, unseren Sinnesorganen unzugängliche Überwelt, die schicksalsbestimmend für die sichtbare Welt ist; 2. Normative Ableitung: Du sollst dein "wahres Selbst", das ein unsterblicher Teil der okkulten Überwelt ist, entdecken und bis zur spirituellen Vollkommenheit entfalten; 3. Legitimierung und Bewertung des normativen Handelns: Nur ein kleiner Kreis von Auserwählten kennt die "geistigen Gesetze" der spirituellen Evolution und kann Berufene in diese einweihen; 4. Aufruf zur Tat: Gehe den Weg der persönlichen Initiation und trete einer esoterischen Gemeinschaft bei.

Für die inhaltliche Variationsbreite der Esoterik ist zudem von Bedeutung, dass esoterisches Denken ein Denken in Analogien, Mythen und Legenden unter explizitem Verzicht auf Kausalanalysen bedeutet. Damit erweist sich Esoterik als ein optimales Vehikel für die Wiederbelebung "vergessener", überholter oder verworfener Ideologien gleich welcher (auch rassistischer oder antisemitischer) Art.


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