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Die Liste der 84


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Rolf

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Die Liste der 84






In Bangladesch starben drei Männer in drei Monaten, weil ihr Name auf einer Liste von Islamkritikern stand.



von Laura Backes



Am Dienstag vergangener Woche verlässt der Bankangestellte Ananta Bijoy Das sein Haus im Nordosten Bangladeschs, um zur Arbeit zu gehen. Auf dem Weg dorthin lauern ihm vier maskierte Männer auf. Mit Macheten und Beilen hacken sie auf ihn ein, dann lassen sie ihn auf der Straße verbluten.

Im Februar reist der in Amerika lebende Schriftsteller Avijit Roy nach Dhaka, um sein islamkritisches Buch Biswasher Virus (Das Virus des Glaubens) bei der größten Buchmesse des Landes vorzustellen. Auf dem Heimweg nach der Lesung stechen Unbekannte mit Macheten und Fleischermessern auf ihn ein, er stirbt an Ort und Stelle an seinen Kopfverletzungen.

Washiqur Rahman, Mitarbeiter in einem Reisebüro, ändert daraufhin sein Profilfoto auf Facebook zu "Ich bin Avijit" und schreibt: "Zerstört den Islam, zerstört den Islam, zerstört den Islam!" Sechs Wochen später wird er von Koranschülern getötet, die jugendlichen Täter zerhacken sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit.

Die drei Toten hatten eines gemeinsam: Sie schrieben für das einflussreiche Blog Mukto Mona (Freier Geist). Vordergründig handelten ihre Artikel oft von wissenschaftlichen Themen, aber zwischen den Zeilen kritisierten sie den Islam: Sie analysierten die im Koran beschriebenen Wunder anhand von naturwissenschaftlichen Maßstäben und kamen zu dem Schluss, dass sie nicht wahr sein konnten. Auf dem Blog werden auch immer wieder islamkritische Karikaturen veröffentlicht, eine vergleicht zum Beispiel die Burka mit einem Hotdog. Weil die Texte auf Bengali erscheinen, erreicht die Kritik die gesamte Bevölkerung und nicht nur die englischsprachige Elite.

Zu den Attentaten bekannte sich eine radikalislamische Organisation mit dem Namen Ansarullah Bangla. Woher sie kommt und was sie will, wissen selbst Experten nicht: Die Gruppe trat bisher vor allem im Internet in Erscheinung, und auch das erst seit Ende vergangenen Jahres. Sie führt einen Cyberkrieg gegen die Blogger. Ihre Unterstützer hetzen auf Facebook und Twitter gegen die angeblichen Feinde des Islams; sie posten als erste Fotos von den Tatorten und jubeln über jeden Toten. Immer wieder beziehen sie sich auf eine Liste von Bloggern, die "abgearbeitet" werden müsse. Die Internetprofile werden alle paar Wochen gelöscht, doch einige Tage später tauchen neue Profile mit ähnlichen Namen auf. Niemand weiß, wie groß die Organisation ist und was sie wirklich tut. Hetzt sie einfach, bis irgendjemand einen Mord begeht? Oder tötet sie tatsächlich selbst?

Zum Propagandakrieg gehört auch, dass vor zwei Wochen eine zweite Gruppe die Verantwortung für den Mord am Schriftsteller Avijit Roy übernommen hat. Ein angeblicher Al-Kaida-Ableger, der sich letztes Jahr gegründet hat und nun behauptet, Ansarullah Bangla habe in seinem Auftrag gehandelt. Möglich, dass er den Mord für sich reklamiert hat, um sich zu beweisen.

Hans Harder ist Professor am Südasien-Institut an der Universität Heidelberg und verfolgt die Entwicklung in Bangladesch seit Jahren. Er glaubt, dass das Aufkommen unbekannter islamistischer Organisationen mit dem Verbot der islamistischen Partei vor zwei Jahren zusammenhängt. "Seitdem fühlen sich die Anhänger an die Wand gedrückt", sagt Harder. Das Prinzip sei immer das gleiche: Wer verboten ist, müsse auf sich aufmerksam machen, um nicht in Vergessenheit zu geraten. Und zum Beispiel neue Feinde ausmachen. "Die islamistischen Organisationen inszenieren ihren Cyberkrieg gegen die Blogger jetzt als Kulturkampf."

Auf den ersten Blick scheinen die Rollen klar verteilt: auf der einen Seite die säkularen Blogger, die die Meinungsfreiheit für sich beanspruchen. Auf der anderen Seite die radikalen Islamisten, die sich als Hüter ihrer Religion verstehen. Es scheint klar zu sein, wer die Opfer sind und wer die Täter. Doch die Situation ist bei genauerem Hinsehen nicht ganz so eindeutig.

Um den Konflikt zwischen Bloggern und Islamisten zu verstehen, muss man in die Geschichte des Landes zurückgehen. Bangladesch gehörte zu Pakistan, bis es sich 1971 von der Islamischen Republik abspaltete. Neun Monate dauerte der Unabhängigkeitskrieg, in dem bengalische Islamisten gemeinsam mit der pakistanischen Armee gegen die gemäßigten Muslime kämpften, um die Teilung zu verhindern. Bis zu drei Millionen Menschen starben.

Die propakistanischen Islamisten wurden für die damals begangenen Massaker und Vergewaltigungen nie zur Rechenschaft gezogen. Einige stiegen stattdessen zu Funktionären der islamistischen Partei Jamaat-e-Islami auf. Bis die säkulare Regierungschefin Sheikh Hasina vor einigen Jahren beschloss, das Versäumte nachzuholen und Kriegsverbrechertribunale einzusetzen. Als vor zwei Jahren die ersten Urteile gefällt wurden, waren es die Blogger von Mukto Mona, die am lautesten dagegen protestierten. Die lebenslangen Haftstrafen seien zu milde, sagten sie, die Kriegsverbrecher hätten die Todesstrafe verdient, nur so könne Gerechtigkeit für die vielen Opfer hergestellt werden. Über die Sozialen Netzwerke mobilisierten sie Zehntausende, die im Februar 2013 den Shahbag-Platz in Zentrum von Dhaka besetzten.

Daraufhin gingen Hunderttausende Gegendemonstranten der Jamaat-e-Islami-Partei im ganzen Land auf die Straße und forderten ihrerseits die Todesstrafe für die Internetaktivisten. Der Regierung überreichten sie eine Namensliste von 84 Bloggern, denen sie Blasphemie vorwarfen. Vier von ihnen wurden daraufhin verhaftet. Die Regierung verurteilte allerdings auch sieben Kriegsverbrecher nachträglich zum Tode. Seitdem ist das Land in zwei Lager gespalten.

Das Land wird abwechselnd von zwei Parteien regiert, die sich vor allem durch ihre Erzfeindschaft auszeichnen, beide stellen die Trennung von Staat und Kirche nicht infrage. Lange brauchte die konservative Bangladesh Nationalist Party (BNP) die islamistische Jamaat-e-Islami, um zu regieren. Seit 2007 ist die BNP in der Opposition und Sheikh Hasina von der sozialdemokratischen Awami-Liga Ministerpräsidentin. Doch auch sie fährt keine klare Linie gegen die Islamisten, weil sie auf jede Stimme angewiesen ist und es sich deshalb mit der muslimischen Bevölkerung nicht verscherzen will.

Asif Mohiuddin gehört zu den Bloggern, die die Angriffe der Islamisten überlebt haben. Unbekannte überraschten ihn vor zwei Jahren nachts vor seiner Wohnung, sie stachen ihm 53 Mal in den Rücken, nur knapp verfehlten sie sein Herz. Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hingen an jeder Ecke Plakate mit seinem Konterfei und der Aufschrift: "Erzfeind des Islams". Aus Furcht davor, erkannt zu werden, bewegte sich Mohiuddin nur noch mit Mundschutz durch Dhaka. Weil sein Name auf der Liste der 84 stand, wurde er wegen Blasphemie verhaftet und nur gegen Kaution wieder freigelassen. Nichtregierungsorganisationen halfen ihm, nach Deutschland zu flüchten. Wo er jetzt lebt, will er nicht öffentlich machen. In seiner Heimat wurde er in Abwesenheit zu sieben Jahren Haft verurteilt.

Er ist ein kleiner, 31-jähriger Mann mit Kastenbrille und Turnschuhen, der wie ein Student wirkt. Auch Mohiuddin schrieb für Mukto Mona, er kannte die Blogger, die in den vergangenen Monaten umgekommen sind. "Avijit war mein bester Freund, mein Bruder", sagt er leise und zeigt keine Gefühlsregung. Mehr will er dazu nicht sagen. Nur so viel: Vier seiner Freunde haben ihn gebeten, ihnen zur Flucht nach Europa zu verhelfen.

Das Klima in Bangladesch ist angespannt, doch die Menschen lassen sich von der Mordserie anscheinend nicht einschüchtern. Nach jedem Attentat gehen Hunderte Demonstranten auf die Straße und fordern die Islamisten auf, das Töten zu beenden. Niemand weiß, ob es tatsächlich einen Plan gibt, die 84 Blogger auf der Liste nach und nach zu töten, oder ob der Verweis darauf Teil einer Inszenierung ist.

Viele Blogger haben den Kampf längst aufgegeben. Sie schreiben nicht mehr und halten sich nur noch zu Hause auf. Die Islamisten hingegen nutzen die Sozialen Medien mehr denn je. Sie haben den Propagandakrieg offenbar gewonnen. Nur Stunden nach dem letzten Mord twitterte Ansarullah Bangla auf Englisch: "Alhamdulillah, alle Brüder der Operation sind sicher." Auf dem Hintergrundbild des Profils prangte eine Nachricht in Blutrot, die Schrift erinnerte an ein altes Computerspiel: "Nächstes Ziel wird geladen. Bleiben Sie dran ..."
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