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Psychische Nachwirkungen der Shoa überdauern Generationen


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Nicht zu Ende erinnert





Psychische Nachwirkungen der Shoa überdauern Generationen






Von Michaela Koller



JERUSALEM, 29. April 2014 (Vaticanista/Die Tagespost).- Professor Alean Al-Krenawis Stimme vibriert auf einmal. Als der Kollegleiter seine Brille kurz herunter zieht, ist es, als friere die Szene ein. Das Gespräch mit zehn Journalisten aus Deutschland drehte sich gerade noch lebhaft um die gesellschaftliche Realität in Israel, insbesondere der Minderheiten. Da dringt plötzlich und unerbittlich ein Thema an ihn heran: Die Erinnerung an den Holocaust, den millionenfachen Mord an den europäischen Juden. Dabei ist es gar nicht überraschend, dass deutsche Medienschaffende bald daran rühren, gleich am ersten Tag ihrer Recherchereise durch Israel: Schließlich wirft es einen langen dunklen Schatten auf die deutsche Geschichte, die zugleich die Geschichte der Überlebenden, ihrer Nachfahren und die Geschichte der sechs Millionen Ermordeten ist, derer am Montag Israel wie alljährlich offiziell gedacht hat.

Unerwartet emotional reagiert Al-Krenawi, Präsident des Pädagogenausbildungskollegs Achva in Kiriat Malachi in der Negev-Wüste. Der muslimische Beduine, der in einem Zelt zur Welt kam, dessen Lernwille ihn im fernen Kanada auf den Stuhl eines Universitäts-Dekan brachte und der nun erster nicht-jüdischer Präsident einer akademischen Einrichtung in Israel ist. Eine sehr gute Freundin ist die Tochter Shoaüberlebender, erklärte er ganz leise. Er war bei ihr, als sie beide Eltern am selben Tag verlor: Die Mutter erlag einem Krebsleiden, der Vater folgte ihr durch eigene Hand. Er konnte es nicht ertragen, dass der Tod wieder ein enges Band zerriss. Aus diesem Gefängnis der Angst vor Verlassensein konnte ihn die Tochter nicht befreien, sie kämpfte vergeblich. Der Gelehrte Al-Krenawi mag besonders einfühlsam sein; das Mitleiden mit den Langzeitwirkungen von Erniedrigung, Entmenschlichung, Todesqual und Ausgeliefertsein ist bei ihm ganz frisch. 69 Jahre nach der Befreiung aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern.

Während des Gesprächs zerreißt der Schall israelischer Kampfjets die bedächtige Ruhe und holt die Anwesenden zurück in die israelische Realität einer fragilen Sicherheit. Die Gegend ist Ziel von Raketenbeschüssen aus dem Gaza-Streifen, die radikalislamische Bewegungen abfeuern, um die israelische Bevölkerung zu zermürben. Wer die Geschichte kennt, versteht, warum das Kalkül dieser Kräfte nicht aufgehen kann. „Es darf keine zweite Shoa geben“, lautet die Maxime in Israel. Ziel der israelische Luftwaffe sind Abschussrampen, von denen am vorausgegangenen Wochenende schon eine bombardiert wurde. Die Menschen etwa in Sderot, Beersheva und der Negev sind in diesen Tagen in Alarmbereitschaft, um ganz plötzlich in ihre Schutzräume zu flüchten. Das Raketenabwehrsystem Iron Drome (Eisenkuppel) wehrt die Mehrzahl der Beschüsse zu hohen Kosten ab, um ein unbezahlbares Gut zu schützen: das Leben der Zivilbevölkerung.

„Am Jom haScho’a gedenkt Israel nicht allein der Opfer. Richtig heißt er ‘Tag des Gedenkens an Shoa und Heldentum’, erklärt die Antje Clara Naujoks der Journalistengruppe später beim Besuch der zentralen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem. Die zionistische Vision vom “neuen Hebräer” erschien zunächst unvereinbar mit dem Erinnerungsbild von Millionen Juden, die wie Schafe zur Schlachtbank geführt wurden. Der Hebräer, der mit der Harke das Land bestellt, nimmt sein Schicksal selbst in die Hand, gerade dann, wenn er sich von der Welt verlassen weiß. So war es auch am 19. April 1943 beim Aufstand im Warschauer Ghetto. Der Tag wäre als Jahrestag ideal gewesen.

Die Knesset bestimmte 1951 den 27. Nisan zum Jom haScho’a, an dem das Land um 10 Uhr morgens zum Heulen der Sirenen schweigend und stillstehend innehält. Für jede Million der Ermordeten entzündet ein Überlebender eine Fackel bei der zentralen Zeremonie in Yad Vashems auf dem großen Platz vor dem Denkmal des Warschauer Ghettoaufstandes. Das Feuer reichen Kinder und Enkelkinder den Überlebenden, um zu symbolisieren, dass der Plan der völligen Auslöschung fehlschlug. Noch Mitte der achtziger Jahre war ungefähr jeder vierte Israeli ein Zeuge des Grauens. Rund 190.000 Menschen leben derzeit in Israel, die als Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene dem nationalsozialistischen Massenmord entkamen. „Mittlerweile ist die zweite und dritte Generation ein ganz zentrales Thema in der Berichterstattung rund um den Holocaust-Gedenktag“, sagt Naujoks.

Kritiker verweisen gerne auf die Instrumentalisierung der Geschichte und warnen davor, deren Schrecken als Grundstein einer israelischen Identität ein zu betonieren. Dabei sind Nachwirkungen eine persönliche sowie gesellschaftliche Realität. Aus Entschädigungsanträgen geht laut Naujoks hervor, dass Angehörige der Überlebendengeneration heftige Symptome zeigen, die sich nun mit der Altersschwäche verstärken: Schlafprobleme, Alpträume, Angstzustände, emotionale Starrheit, obsessive Verhaltensweisen, niedrige Frustrationstoleranz, Konzentrations- und Bindungsprobleme, Flashbacks bis zu Wahnvorstellungen sowie eine Reihe psychosomatischer Beschwerden. Der Zustand verschlechterte sich noch in Zeiten des Kriegs, besonders als 1991 Scud-Raketen in Israel landeten. Längst zeigen sich auch bei Kindern und Enkeln seelische Auffälligkeiten.

Als ehemalige Forschungsmitarbeiterin der zentralen Holocaust-Gedenkstätte kann Naujoks auch Gutachter mit ihrem historischen Wissen und ihren Kenntnissen sozialer Befindlichkeiten beraten. Letzteres erwarb die Politikwissenschaftlerin zunächst nicht aus Büchern. Es begann mit einem Schlüsselerlebnis, einer Konfrontation. Eine Auschwitz-Überlebende, die wie zahlreiche andere nicht viele Worte für das unsagbar Erlittene fand, war eines Tages ihr Gast. Naujoks lebt als Deutsche seit rund drei Jahrzehnten in Israel und bot anfangs, als sie in Jerusalem eine zu große Wohnung bezogen hatte, darin Gästezimmer an. Nach Pilgern und Touristen stand eines Tages diese Frau mit ihrer Tochter in der Tür.

„Ich sah sie und wusste gleich Bescheid und sie wusste, dass ich es wusste“, beginnt die große blonde Naujoks mit kräftiger Stimme zu erzählen. Möglicherweise erfasste die israelische Mutter instinktiv: Die Beschäftigung mit dem Holocaust zieht sich bei Naujoks als roter Faden durch ihr Leben. Als sie im Alter von zwölf Jahren Anne Franks Tagebuch gelesen hatte, stellte sie fest: „Da gibt es zwei Narrative“. Ein deutsches und ein jüdisches. Ihre Abiturklausuren musste sie unter Polizeischutz ablegen, weil sie bereits zum Beginn der achtziger Jahre wagte, als Schülerin mit Gleichgesinnten dem Schicksal der Juden ihrer friesischen Heimatstadt Jever nachzugehen und Überlebende im Rahmen einer Ausstellung über die Geschichte einzuladen. Nun stand ein Opfer als Gast auf ihrer Türschwelle. Und diese Frau entschloss sich nun nach Jahrzehnten, mit dem Ärmel, den sie über ihrer eingebrannten Nummer aus Auschwitz hochkrempelte, quasi den schweren Vorhang zu ihrem Innersten aufzuziehen.

„Die Tochter hatte nie die Geschichte gehört. Es war eine sehr schwere Verletzung für sie“, erinnert sich Naujoks. „Die Details waren heftig“, deutet sie weiter an. Es war wie eine Rückschau auf alles Schmerzvolle der Kindheit. Erst konnte Naujoks die Mutter nicht mehr stoppen, dann war die Tochter nicht mehr zu halten. „Sie warf Geschirr und ich hatte einige schlaflose Nächte“, erzählt Naujoks weiter. Ihre deutsche Herkunft, zusammen mit ihrer Offenheit wirkte wohl wie eine Nadel, die die Blase über der Wunde zum Platzen brachte. Die Jüngere der beiden Gäste stand unter Schock. Aus der Familientherapie ist bekannt, dass mehr noch als das Ausgesprochene das Ungesagte seine Wirkung in den Beziehungen zwischen den Generationen entfaltet. Alles, was die Tochter in Verhaltensweisen und Umgang mit ihrer Mutter, über die Jahre als schwierig, schmerzlich oder einengend empfunden haben mag, erhielt nun plötzlich einen Bezug: Auschwitz.

Noch lange war der Politikwissenschaftlerin und Übersetzerin die schicksalhafte Begegnung vor rund 20 Jahren nachgegangen. „Erst dachte ich, dass ich in ein Land gekommen bin, in dem alles, was mit Deutschland zu tun hat, vielen Menschen wehtut und möglicherweise wird man mir mit Feindseligkeit begegnen. Aber das Gegenteil trat ein: Die Menschen begegneten mir mit offenen Armen.“ Naujoks Beschäftigung mit der Geschichte und Anteilnahme an der mentalen Wirklichkeit Israels hilft ihr, sich in der israelischen Gesellschaft zurecht zu finden, sich dort schließlich heimischer zu fühlen als in Deutschland. Auch Al-Krenawi mag dieselbe Bereitschaft hinzuhören und hinzusehen geholfen haben, wirklich Teil einer Erinnerungsgemeinschaft zu werden, in der jede Generation für sich ihre eigene Rolle einnimmt.

Zusammen mit der Kollegin Almuth Lessing übersetzte Naujoks ein Standardwerk über die psychischen Nachwirkungen der Shoa in den nachfolgenden Generationen, das bereits 1997 unter dem Titel „Siegel der Erinnerung“ wissenschaftlich fundiert die seelischen Schäden bei Kindern von Überlebenden darstellt. Die Autorin Dina Wardi gilt als eine der renommiertesten israelischen Psychotherapeutinnen auf diesem Gebiet. „Manche typischen Symptome haben Überlebende an ihre Kinder weitergegeben. Den Drang, jede Tür und jedes Fenster zu verriegeln und das mehrfach nach zu kontrollieren, immer genug Bargeld dabei zu haben, um für alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, zu erschrecken, wenn unerwarteter Besuch anklopft“, zählt Naujoks auf. „Bei einigen Freunden verstand ich Jahre später bei dieser Übersetzungsarbeit, dass es hier Phänomene gibt, die tatsächlich mit dem Holocaust zu tun haben und sich auf die zweite und dritte Generation übertragen haben“, bestätigt Naujoks.

Wardi diagnostizierte bei Angehörigen der zweiten Generation Alpträume, Ängste, Misstrauen, Abhängigkeit von den Eltern, ein eingefrorenes Gefühlsleben und eine unklare Identität. Kinder von Überlebenden weisen ähnliche Anzeichen von psychischer Belastungen wie ihre Eltern auf, nur schwächer ausgeprägt. Die Auffälligkeiten können auf erlerntes Verhalten zurückzuführen sein. Sie ergeben sich aber auch aus Bindungsstörungen durch Überbehütung oder emotionaler Kälte. Oftmals zeigte sich auch das Rollenverhältnis verdreht: Kinder fungierten als Retter oder Beschützer ihrer Eltern oder als Ersatz für ermordete Verwandte. Wardi hebt besonders die verheerende Wirkung früher Verlusterfahrungen hervor: „Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass das Trauma der Trennung von der Familie sehr tief geht und vielleicht das am schwersten zu heilende ist“, schrieb sie. Oft zerbrachen durch das Auseinanderreißen der Familie überlebende Kinder innerlich. Der Gruppe deutscher Journalisten sollte nicht nur durch das Zeugnis Alean Al-Krenawis davon hören.

Vielmehr konnten sie bei der Begegnung mit dem Holocaust-Überlebenen Menachem Mayer selbst sehen, wie die Trauer um die ermordeten Eltern einen Menschen bis ins hohe Alter begleiten. Zusammen mit seinem Bruder Fred hatte er sich überwunden, an dem Film „Menachem und Fred“ mitzuwirken, der an jedem Holocaustgedenktag im israelischen Fernsehen ausgestrahlt wird: Eine Dokumentation über ihr Leben als Kinder in Baden, die Deportation, das Auseinanderreißen der Familie, die Ermordung der Eltern sowie dem Leben danach bis in die Enkelgeneration. Gastfreundlich empfing er die Deutschen in seinem Jerusalemer Altenheim, hielt sich aber bei der Vorführung der Dokumentation bei Schreibtischarbeit im Hintergrund. Erst als er berichtet, wie er erst kürzlich Silberbesteck aus seinem Elternhaus wieder er hielt, hellte sich der traurige Blick aus den dunklen Augen des kleinen Mannes auf.

Kinder spüren den Schmerz, die Trauer, aber auch unterdrückte Wut, die Eltern mit sich herumtragen. Und das nimmt ihnen die natürliche Unbeschwertheit. Bereits 1980 hat eine US-amerikanische Studiengruppe die Ähnlichkeit von seelischen Beeinträchtigungen bei Kindern von Opfern einerseits und Tätern andererseits psychoanalytisch untersucht. Beide Seiten leiden unter dem Schweigen, wenn dies auch noch so unterschiedlich begründet ist. In den 90er Jahren leitete die Kasseler Soziologin Gabriele Rosenthal eine deutsch-israelische Forschungskooperation, in der die Auswirkungen von NS-Unrecht in drei Generationen untersucht wurde. Die Traumata durch frühe Gewalt- und Verlusterfahrungen sind spätestens seit den Titeln „Die vergessene Generation. Kriegskinder brechen ihr Schweigen“ sowie „Kriegsenkel“, beide von der Journalistin Sabine Bode, Gegenstand stark frequentierter Veranstaltungen und Internetseiten. Bode beschreibt das Lebensgefühl der Generation der heute 40- bis 55-jährigen als verunsichert und stellt anhand von biographischen Beispielen und gestützt durch neueste Erkenntnisse über den Zusammenhang von Traumata und Bindungsstörungen die nachhaltigen Belastungen von Eltern-Kind-Beziehungen durch die deutsche Geschichte dar.

Im Zusammenhang mit den beispiellosen Verbrechen, für die Auschwitz steht, sind zwei Aspekte darin wesentlich: Die Enkel drängt es heute zunehmend, ihre Eltern über die Großeltern, deren Zeit sowie Verantwortung auszufragen. Und nur darin erkennt Bode den Weg der Heilung. „Häufig haben die Kriegskinder ihre Eltern geschützt, viele tun es bis heute“, schreibt Bode in „Kriegsenkel“. Diese Generation war aber selbst in jenen Jahren zu jung, um schuldig geworden zu sein.

Neben der Erinnerung an die Geschichte ist längst eine Geschichte der Erinnerung erwachsen: Jede Generation ist darauf zurückgeworfen, ihren eigenen Umgang mit dem zu finden, über das viele Vorfahren geschwiegen haben. Die psychischen Folgen waren und sind vielfach offensichtlich und bedrücken Nachgeborene teilweise bis in die dritte Generation. In der nun heranwachsenden vierten Generation nähern sich die Narrative in Deutschland und in Israel an, beide inmitten einer multikulturellen Realität. Der Sohn der Autorin dieses Beitrags hat gerade von einem israelischen Schulfreund ein Buch empfohlen bekommen, das dieser natürlich unbedingt haben muss: Das Tagebuch der Anne Frank.
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