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"Der Westen hat den Islam 200 Jahre dominiert"


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Rolf

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"Der Westen hat den Islam 200 Jahre dominiert"




Überall auf der Welt sind islamische Bewegungen auf dem Vormarsch. Dadurch droht sich der „Kampf der Kulturen" zu verschärfen. Islamexperte Bernard Lewis spricht bei WELT ONLINE über den Euro-Islam, die Kriegsgefahr im Nahen Osten und den Fluch des Öls am Golf.

WELT ONLINE: Herr Lewis, hatte al-Qaida-Chef Osama Bin Laden recht, dass die Demokratien degeneriert und leichter zu überwinden seien als die Sowjets in Afghanistan?
Bernard Lewis: Bin Laden mag beim Niedergang der Sowjets geholfen haben, hat aber den Westen nicht erledigt – obwohl dort viele auf dem Rückzug sind. In Europa hat man geredet, während andere die Waffen schärften für den Kampf im Irak und auch in Afghanistan.

WELT ONLINE: Afghanistans Aussichten sind indes umwölkt – oder sind wir zu ungeduldig?
Lewis: Beides. Unsere Aufmerksamkeitsspanne ist zu kurz. Alles soll rasch gehen. Am Hindukusch gab es Fortschritte. Nun ist der Ausgang ungewiss. Viel hängt davon ab, wie einig und stark der Westen ist, der durchaus Sympathie in islamischen Räumen besitzt. Doch es herrscht auch Misstrauen, denn im Golfkrieg von 1990/91, als Saddam Hussein aus Kuwait gejagt wurde, rief Washington zur Revolte gegen ihn auf. Kurden und Schiiten rebellierten, wurden dann aber im Stich gelassen. Der Westen ließ dem irakischen Tyrannen nicht nur die Waffen, sondern sah noch zu, wie er damit Aufständische tötete.

WELT ONLINE: Nun ist Saddam Hussein Geschichte, doch im Irak herrscht noch immer Krieg. Was waren die vier größten Fehler der Bush-Administration im Irak?
Lewis: Zunächst der Versuch, mittels eines amerikanischen Vertreters wie ein englischer Vizekönig des 19.¿Jahrhunderts zu herrschen. Die Macht wurde nicht rasch genug an Iraker übergeben. Das war möglich, denn zwischen dem ersten und dem zweiten Irak-Krieg waren Teile des Irak nicht mehr unter Kontrolle der Zentralregierung in Bagdad. Im Norden gab es die Schutzzone auf einem Viertel des Landes. Sie funktionierte.

WELT ONLINE: Und die anderen Fehler?
Lewis: Der Plan für die Nachkriegszeit fehlte. Eine gute Demokratie im Irak würde benachbarte Tyrannen unmittelbar bedrohen. Daher begannen der Iran und Syrien, gegen Erfolge der USA zu arbeiten. Dies nicht vorhergesehen zu haben war der zweite Fehler. Der dritte Fehler: Die USA machten die bewaffneten Kräfte des Irak arbeitslos, beließen ihnen aber ihre Waffen. Und der vierte, größte Fehler steht womöglich erst noch bevor: ein schlagartiger Rückzug. Wer dafür einen Zeitplan vorlegt, ist erledigt. Das wäre, als würde man dem Gegner bedeuten: „Entweder Sie stimmen dem zu, was ich will, oder ich haue ab.“

WELT ONLINE: US-Kongressabgeordnete haben den Krieg schon für verloren erklärt.
Lewis: Das ist gefährlich, denn sie sollten nicht vergessen, dass der Gegner sie beobachtet. Das geht leicht in einer offenen Gesellschaft, die durch alle Medien erreichbar und nicht so versiegelt ist wie einige im Nahen Osten. Sie wissen viel mehr über uns als wir über sie. Das ist noch so ein Riesenfehler: nicht genug kulturell und linguistisch erfahrene Landesexperten gehabt zu haben.

WELT ONLINE: Die verbrecherischen Regime in Bagdad und Kabul sind dennoch militärisch niedergerungen worden. Daraus ergaben sich Hoffnungen für eine demokratische Neuordnung im gesamten Nahen und Mittleren Osten, doch heute redet niemand mehr vom demokratischen Frühling.
Lewis: Einige schon. Manche verwechseln Demokratie mit Wahlen. Ein Grundfehler, denn freie Wahlen sind nicht der Beginn, sondern die Kulmination in der Entfaltung einer Demokratie. Wenn man freie Wahlen vor der Demokratie hat, kann es wie in Deutschland geschehen, wo Adolf Hitler dadurch an die Macht kam.

WELT ONLINE: In der türkischen Demokratie geht der Trend allerdings wieder in Richtung Reislamisierung.
Lewis: Ein Grund dafür, warum mehr oder minder demokratische Regime so diskreditiert sind, ist Korruption. Religiöse Bewegungen wie die türkische Regierungspartei, die islamistische Hamas oder die schiitische Hisbollah kümmern sich um das Leben kleiner Leute, das säkulare Politiker nicht interessiert. Die religiöse Moralität gewinnt gegen das gierige Desinteresse. Wir brauchen ein Bewusstsein dafür, was in islamischen Räumen abläuft. Der Islam sei eine Religion des Friedens, heißt es. Er ist dies sicher nicht im christlichen Sinne, denn Christen sollen ihre Feinde, Juden ihre Nachbarn lieben. Muslime sind nicht angehalten, irgendjemand zu mögen. Ihnen fehlt dieser Pazifismus. Aber praktisch unterschied sich das christliche und muslimische Gebaren kaum voneinander. Die vergangenen Jahrhunderte bezeugen, dass Christen ihre Feinde nicht liebten. Was wir brauchen, ist ein informierteres und genaueres Verständnis des Islam, denn der Islam wird zu einem Hauptfaktor in Westeuropa werden.

WELT ONLINE: Sehen Sie einen aufgeklärten Euro-Islam kommen?
Lewis: Das ist der Kernpunkt: islamisiertes Europa oder europäisierter Islam. Wie woanders auch, denn der Islam ist vielfältig, anders in Marokko als in Nigeria. Aber nicht so bunt wie das Christentum. Im Islam ist die Einheit von Religion und Macht typisch: Der Religionsstifter war Staatsoberhaupt. Im Christentum dauerte dies länger. Sie waren 300 Jahre eine verfolgte Minderheit, Muslime seit dem Propheten eine regierende Elite. Das sitzt tief im Gedächtnis. Muslime müssen in Europa keine unterprivilegierte Minorität bleiben. Sie werden mehr fordern, in dem Maße, wie ihre Bevölkerungsanteile durch Migration wachsen. Europäer haben mehr Erfahrung mit dem religiösen Leben. Der Westen erlebte Inquisition, Vertreibung und Religionskriege, die keine Parallele in der Geschichte des Islam haben. Im Islam gab es Zwiste, doch nicht so brutal wie protestantisch-katholische. Aber das ist heute im Westen alles vorbei.

WELT ONLINE: Holen die islamischen Räume diese Erfahrung nun nach?
Lewis: Sicher, denn der Westen hat sie 200 Jahre dominiert. Ende des Ersten Weltkriegs war die Beherrschung komplett: Das letzte große islamische Reich, das der Osmanen, war unter den Imperien aufgeteilt. Andere islamische Reiche im Iran und in Indien gingen unter. Die Türkei erlangte ihre Unabhängigkeit, aber sie schuf ein säkulares, antiislamisches Regime.
WELT ONLINE: Hat Osama Bin Laden also auch hier recht, wenn er dies den historischen Tiefpunkt des Islam nennt?
Lewis: Genau. Dann kam der Kampf gegen den Westen und den Osten Europas im Kalten Krieg. Muslime waren schwach. Ihnen blieb nur, die Mächte auszuspielen. Darin wurden sie Meister. Nun können sie erstmals in 200 Jahren wieder über ihr eigenes Schicksal entscheiden.

WELT ONLINE: In unserer postimperialen Ära gelten also vorimperiale Faktoren wieder?
Lewis: Ja, zum einen deshalb, weil der unterschwellig immer präsente globale Dschihad gegen nicht islamische Räume offen ausgebrochen ist, und zum anderen, weil der sunnitisch-schiitische Konflikt, der in der Ära der imperialen Beherrschung eine untergeordnete Rolle spielte, sich nun auch Bahn bricht.

WELT ONLINE: Manche reden aber vom amerikanischen Neoimperialismus. Ist das falsch?
Lewis: Sie verstehen entweder Amerika oder Imperialismus nicht. Als die Römer nach England kamen oder die Briten nach Indien, kam beiden keine Exit-Strategie in den Sinn, ganz im Gegensatz zu den Amerikanern im Nahen Osten.

WELT ONLINE: Aber die USA bleiben doch zumindest das informelle Imperium des Weltmarktes?
Lewis: Oder die Weltwirtschaft wird von den Produzenten des Erdöls am Persischen Golf bestimmt. Dennoch: Das Öl war ein Fluch. Hätten sie es nicht gehabt, würden sich islamische Regierungen mehr um Fortschritt bemüht haben. Aber so hatten sie Geld und damit kaum Anreize, irgendetwas zu tun.

WELT ONLINE: Auch Libyen verfügt über Ölquellen, und sein Führer Muammar al-Gaddafi wandte sich in jüngerer Zeit dem Westen zu. Warum tut er das, und welche Auswirkungen hat diese Strategie?

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Lewis: Gaddafi hat realisiert, in welche Gefahr er sich mit seinem Waffenprogramm und seiner internationalen Terrorunterstützung gebracht hatte, und wollte nicht das Schicksal Saddam Husseins teilen. Der Libyer knüpfte Beziehungen zum Westen und wandte sich damit gegen Riads Interpretation des Islam. Der saudi-arabische Wahhabismus ist die größte Gefahr für den Islam der Gegenwart: Gewalttätig und extrem gegenüber abweichenden Muslimen und Nichtmuslimen. Eigentlich ist dem Islam Toleranz eigen. Das verschiebt nun die wahhabitische Art in Richtung Intoleranz, wo Schiiten als Renegaten gelten.

WELT ONLINE: Wenn es je einen weiteren Nahost-Krieg geben sollte, wo würde er ausbrechen? Zwischen Israel und Syrien?
Lewis: Das ist nicht unwahrscheinlich. Die Iraner sind in Syrien und im Libanon stark etabliert. Sie liefern an die Hisbollah entwickelte Waffen und sind m Gazastreifen vertreten. Ein vom Iran orchestrierter Angriff auf Israel kann aus dem Norden durch den Libanon und Syrien und aus dem Süden durch Gaza und vielleicht durch das Westjordanland kommen.

WELT ONLINE: Erschwerend kommt hinzu, dass der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad nach Atomwaffen greift. Kann ihn Diplomatie stoppen?
Lewis: Nein. Wenn er sich apokalyptisch ausdrückt, dann meint er es auch. Wir sollten uns keinen Illusionen hingeben. Das Prinzip der gegenseitig angedrohten Zerstörung aus dem Kalten Krieg funktioniert bei Herrschern in Teheran nicht. Für sie wäre es keine Abschreckung, sondern ein Anreiz. Sie denken, wir seien am Ende der Zeit. Ahmadinedschad gibt vor, vom verborgenen Imam der Schiiten Botschaften zu erhalten. Der Iran hat sich zugunsten seiner Kreise verändert. Man kann vom Putsch durch die ihn tragenden Revolutionären Garden sprechen, nicht mehr von der Macht der Mullahs. Ein radikalrevolutionäres Regime reagiert nicht auf Diplomatie. Da gibt es nur zwei Wege gegen die Atomdrohung: ein Wechsel des Regimes von innen, indem der iranischen Opposition geholfen wird, oder eine Militäraktion.

WELT ONLINE: Welche guten Anzeichen für die Zukunft gibt es in den islamischen Ländern?
Lewis: Menschen mit einer offenen, liberalen und mutigen Ansicht treten auf. Sie haben es schwer, gehen aber voran. Einige lud Václav Havel nach Prag ein. Sie kamen auch aus Israel, Palästina, Saudi-Arabien und Ägypten. Der Spanier José María Aznar, der Israeli Nathan Scharanski und George W. Bush traten dort auf. Der Wunsch nach besseren Beziehungen zum Westen stimmt hoffnungsvoll.



Islamexperte Bernard Lewis (91) wurde am 31. Mai 1916 in London geboren, wo er an der School of Oriental and African Studies als Historiker und Islamwissenschaftler abschloss. An der Princeton University im US-Bundesstaat New Jersey lehrte er bis zu seiner Pensionierung 1986. Er ist Professor emeritus für Nahost-Studien und gilt als einer der besten Kenner des Islam. Der Nestor der angelsächsischen Islamwissenschaften ist seit 1982 Amerikaner. Lewis hat 24 Bücher geschrieben, darunter: „Der Untergang des Morgenlandes“, „Die Araber“ und den Bestseller „What went wrong?“, der sich mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA auseinandersetzt.
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