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Konfliktbewältigung oder Machbarkeitswahn ?


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Rolf

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Konfliktbewältigung oder Machbarkeitswahn ?




Psychotherapie zwischen Profession und Konfession


Dr.Michael Utsch, Berlin


Seelische Erkrankungen werden heute bei uns anders wahrgenommen und eingeschätzt als noch etwa vor dreißig oder vierzig Jahren. Wurden früher damit „Verrückte“ in ge-schlossenen Stationen der Landeskrankenhäuser in Verbindung, sind heute neurotische Störungen gesellschaftsfähig und sogar ein bißchen „chic“ geworden - man denke nur an die Filme von und mit Woody Allen . Laut einer vor zwei Jahren durchgeführten bundes-weiten EMNID-Umfrage halten 93% der Befragten es heute für angemessen, eine Psy-chotherapie aufzunehmen, wenn Probleme anders nicht zu lösen sind (DIE ZEIT Nr. 22, 26.5.1997). Das sind zum Glück noch keine amerikanischen Verhältnisse. Dennoch ist der Bedarf an fachlicher Hilfe bei Lebenskonflikten signifikant größer geworden.

Der Weg der Linderung oder Heilung von Störungen der Arbeits-, Beziehungs- und Ge-nußfähigkeit durch seriöse Psychotherapie ist für Patienten wie für Psychotherapeuten anspruchsvoll und anstrengend. In meinem Beitrag behandle ich vier Aspekte des weiten Spektrums der Psychotherapie:

1. Psychotherapie - nicht nur eine Wissenschaft
2. Die esoterische Vereinnahmung der Psychotherapie
3. Zur Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Weltanschauung
4. Anthropologische Leitbilder fehlen



1. Psychotherapie - nicht nur eine Wissenschaft

Die Psychotherapieforschung ist jungen Datums. Aber weil ohne Wirksamkeitsnachweise keine Kostenübernahme seitens der Krankenkassen mehr erfolgen, hat dieser For-schungsbereich in den letzten beiden Jahrzehnten einen Aufschwung erlebt. Allerdings halten sich die Möglichkeiten einer empirischen Erforschung subjektiven Denkens und Fühlens in engen Grenzen. Kritiker beschreiben die wissenschaftliche Forschung in die-ser Disziplin schon seit Jahren als "Psychologie ohne Seele", die durch hochspezialisier-te Teilforschungsbereiche ihren "Gegenstand" verloren habe. Wissenschaftlich überprüf-bare psychologische Aussagen werden häufig als trivial empfunden und entsprechen oft dem sogenannten „gesunden Menschenverstand“.

Als wissenschaftliches System ist die Psychologie zudem sehr widersprüchlich und un-einheitlich. Unterschiedliche psychologische Denkansätze und Modelle - man denke nur an die Experimentalpsychologie und die Psychoanalyse - haben sich bis heute als nicht integrierbar erwiesen. Der Berliner Psychologieprofessor Gerd Jüttemann spricht von einer "Psychologie ohne Identität", die sich nach Belieben zwischen Wissenschaft und Glaubenslehre einordnen lasse.

Der Wissenschaftsbetrieb einer „Lehre von der Seele“ wird eben auch von Menschen durchgeführt, die als Personen ihren menschlichen Bedürfnissen nach Macht, Anerken-nung und Ruhm ausgesetzt sind. Deutlich sichtbar wird der Einfluß von nichtwissen-schaftlichen, sondern politischen Interessen beim Kampf um das Psychotherapeutenge-setz. Warum werden nur zwei etablierte Therapiemethoden - die Psychoanalyse und die Verhaltenstherapie - als wissenschaftlich anerkannte Verfahren zugelassen, andere mit ähnlichen Wirksamkeitsnachweisen aber ausgegrenzt? Das neue Therapeutengesetz bedeutet eine schwere Schlappe für die Universitäten, weil darüber nicht sachlich objek-tivierbare Faktoren, sondern berufspolitische Fraktionen entschieden haben.

Im übrigen führt es eines ihrer erklärten Ziele ad absurdum: die Abgrenzung zur unseriö-sen Therapieangeboten. Wenn im Schnitt ungefähr 40 Prozent der bisher tätigen Psy-chotherapeut-/innen von den örtlichen Kassenvereinigungen (KV) keine Zulassung erhal-ten haben, wird der graue Markt der Wunderheiler jetzt erst recht boomen. Übrigens ha-ben Sozialgerichte in Kiel, Hamburg und Frankfurt kürzlich entschieden, daß die Ableh-nungsbegründung der KV den Gesetzestext unrechtmäßig auslegt. In München muß, wenn ihre Klage gegen die KV keinen Erfolg hat, die bekannte Psychoanalytikerin Thea Bauriedl ihre Kassenpraxis schließen, weil sie in dem von der KV eigenwillig eng inter-pretierten „Zeitfenster“ keine 250 Kassenstunden in vier Quartalen nachweisen kann. Der Grund: die angesehene Therapeutin hat in dieser Zeit zahlreiche Weiterbildungen gelei-tet, wissenschaftlich publiziert und mit hohem persönlichem Einsatz ein Ausbildungsinsti-tut geleitet. Frau Bauriedl wird sicher anderswo unterkommen. In den Diskussionen im Internet läßt sich jedoch absehen, daß manche Therapeuten, die bei den heftigen Vertei-lungskämpfen um Approbation und Kassenzulassung leer ausgegangen sind, mit einem Abdriften in die Psychoszene liebäugeln.

Aber auch die beiden klassischen Verfahren haben Schelte bekommen. Während dem psychoanalytischen Erklärungsmodell das "Ende einer Deutungsmacht" (Pohlen/Bautz-Holzherr 1995) bescheinigt und psychoanalytischen Ausbildungsinstituten versektete Strukturen nachgewiesen wurden (Cremerius 1995), konnte man der verhaltensthera-peutisch begründeten Psychotherapieforschung mit ihrem prominentesten Vertreter Klaus Grawe (1994) berufspolitische Interessen nachweisen (vgl. Schneider 1996, Tschuschke, Heckrath, Tress 1997).

Psychologische Forschung ist von erkenntnisleitenden Motiven und Menschenbildern abhängig. Die anthropologischen Voraussetzungen der Psychologie sind aber viele Jahr-zehnte in Vergessenheit geraten und nicht bedacht worden. Das durch ungelöste wis-senschaftstheoretische Grundsatzfragen entstandene Vakuum wird gegenwärtig durch eine zeitgeistgemäße esoterische Beliebigkeit gefüllt. Die folgenden Ausführungen sollen dazu anregen, über die Voraussetzungen, Ziele und ethischen Verpflichtungen jeglicher Psychologie und ihrer Anwendungen nachzudenken.


2. Die esoterische Vereinnahmung der Psychotherapie

Obwohl in der akademischen Psychologie verschiedene Fraktionen weiter ihre "Glau-benskämpfe" ausfechten, hat die populärwissenschaftliche Psychologie den Status einer Weltanschauung erreicht. In allen Lebensbereichen - in der Wirtschaft, Politik bis hin zum Sport - wird psychologisiert. Wie Talkshows ohne psychologischen Experten oder Zeit-schriften ohne die einschlägige Ratgeberkolumne undenkbar geworden sind, kommen auch viele persönliche Gespräche nicht mehr ohne psychologisierende Deutungen aus.

Während manche eine stärkere Verankerung psychotherapeutischer Praxis im empiri-schen Faktenwissen der Psychologie fordert, sind heute deutliche Anzeichen einer ge-genläufigen Bewegung festzustellen: Der Psychotherapiemarkt zeigt insgesamt eine deutliche Schwerpunktverschiebung von der Profession zur Konfession. Nicht mehr wis-senschaftlich belegte Wirksamkeit, sondern schnelle Erfolge sind gefragt: "Wer heilt, hat Recht!" Während die universitäre Psychologie noch der Aufklärung verhaftet ist, hat sich auf dem Markt der Psychotherapie eine unüberschaubare Vielfalt alternativer und esote-rischer Behandlungsmethoden ausgebreitet, die nicht mehr wissenschaftlich, sondern weltanschaulich begründet werden.

Es stimmt nachdenklich, daß die meisten Ausbildungsinhalte an den beiden größten deutschen Heilpraktikerschulen esoterisch begründete Behandlungsverfahren ausma-chen, wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse hingegen nur am Rande vermittelt werden - obwohl diese bei der staatlichen Prüfung durch die Gesundheitsämter abge-fragt werden.

Der gegenwärtigen Orientierungskrise begegnen viele Menschen durch eine Hinwen-dung zum Irrationalen: Meditation und Selbsterfahrung - bis hin zu riskanten Lebenshilfe-Angeboten - haben Hochkonjunktur. Dabei sind besonders intensive Gefühlserfahrungen gefragt. Die Mystifizierung seelischen Erlebens und insbesondere das Bedürfnis nach emotionalen Kicks und nach der „Wiederverzauberung“ einer übertechnisierten und be-ziehungsarmen Gesellschaft ist verantwortlich für den beachtlichen Psychoboom, der seit drei Jahrzehnten keine Müdigkeitserscheinungen zeigt.

Das Spektrum psychologischer Behandlungsansätze hat sich enorm ausgeweitet. Eine bunte Mixtur psychologisch begründeter Gesundungs-, Selbstentfaltungs- und Sinnfin-dungsangebote wirbt auf dem sogenannten "Psychomarkt" um Kundschaft. Dabei ist der Trend von psychologischer Heilbehandlung zu spiritueller Heilsvermittlung unübersehbar: Therapie vermischt sich zunehmend mit Religion, psychologische Theorien werden zu Sinn-Lehren hochstilisiert und zur Beantwortung existentieller Lebensfragen herangezo-gen - sie gewinnen derart den Charakter einer Weltanschauung und treten in den Status einer "Ersatzreligion".

Diese "alternative Psychoszene" hat sich mittlerweile neben der etablierten, von den Krankenkassen finanzierten Psychotherapie einen ansehnlichen Marktanteil verschafft. Sie haben sich einer "ganzheitlichen" Sicht des Menschen verschrieben, die einen "tran-spersonalen Bewußtseinsraum" oder das "wahre göttliche" Selbst im Menschen als legitimen psychologischen Bereich betrachtet. Avatar-Übungen, schamanistische Visi-onssuche, Sufi-Rituale, tantrisches Heilen oder Channeling: mehrere hundert verschie-dene "spirituelle" Ansätze kämpfen neben den wissenschaftlich begründeten Therapie-verfahren um Anerkennung und natürlich um Klienten.

Erste Ergebnisse des Forschungsprojekts "Alternative Lebenshilfe" der Universität Jena deuten darauf hin, daß viele Anwender alternative Methoden auf dem Psychomarkt posi-tiv bewerten. In einer Umfrage zur Bedeutung von Lebensbewältigungsmethoden wie Reiki, Bachblüten-Therapie, Rebirthing, Kinesiologie und wurden meist positive Verände-rungen berichtet - am häufigsten bei Allergien, Kopfschmerzen, Rückenprobleme, Angst und Depressionen. Allerdings ist zu bedenken, daß die Zahlen keine Auskunft über die objektive Wirksamkeit der Verfahren geben, sondern nur etwas über das subjektive Erle-ben bei eher leichteren psychosomatischen Störungen aussagen.

Andritzky (1997) hat insbesondere im Gesundheitsverhalten der Deutschen eine zuneh-mende Bedeutung spirituell gefärbter Sinnsysteme und Erklärungsmuster festgestellt. In einer umfassenden Untersuchung des sogenannten alternativen Gesundheitssystems konstatierte er eine Wandlung fundamentaler Vorstellungen von einem bisher naturwis-senschaftlich-rational gefärbten Weltbild hin zu subkulturellen, individualisierten Glau-benssystemen. Die Resultate zeigen, daß der Entscheidung eines Patienten zwischen einem alternativen und einem konventionellen Kursangebot subjektive Auffassungen von Gesundheit zugrunde liegen, die sich im Zuge des New-Age-Paradigmas wesentlich ver-ändert haben. In einer Befragung von mehr als 1000 Teilnehmern alternativer Gesund-heitsseminare fand Andritzky ein hohes Maß an magisch-esoterischen Glaubensüber-zeugungen vor, die nach seiner Einschätzung denen schamanischer Kulturen entspre-chen.

Lange hat die Psychologie dem Treiben auf dem Esoterikmarkt schweigend zugeschaut. Nun scheint die Geduld ein Ende zu haben. Vier Psychologieprofessoren haben kürzlich ihre Kollegen und Kolleginnen zu einer „offensiven Auseinandersetzung mit dem grauen Markt an pseudopsychologischen Methoden“ aufgefordert (H.Lukesch, Regensburg; M. Perrez, Freiburg; K. Schneewind und D. Frey, beide München; vgl. Report Psychologie 5/6 (1999), S. 355-356) - und damit einen Aufschrei der Entrüstung im eigenen Lager hervorgerufen. Sorge bereitet dem Quartett, daß Verfahren wie zum Beispiel Bioenerge-tik, Urschreitherapie, Rebirthing oder astropsychologische Personalauswahl und viele andere zunehmend von akademisch ausgebildeten PsychologInnen angeboten werden. Durch die akademischen Titel würde diesen Methoden eine Seriosität zukommen, für die es keine sachliche Grundlage gebe. Nach Meinung der Professoren schaden diese Ver-fahren sowohl dem Ansehen der Psychologie als auch den Menschen, die sich von ihnen Hilfe erhoffen.

Um dem Treiben der Esoteriker Einhalt gebieten zu können, schlagen die Professoren unter anderem folgendes vor:
• „fremdgehende“ KollegInnen sollten auf ihre berufsethische Verpflichtung hingewiesen und abgemahnt werden,
• die durch Psycho- und Esoterikmethoden Geschädigten sollten in einer Dokumentation erfaßt werden,
• offensive Aufklärung durch Massenmedien sollte stattfinden, wo Standesvertreter ein-deutig Stellung beziehen könnten.

Die vier mutigen Hochschullehrer haben auf ihren Aufruf hin mächtig Prügel bekommen. Besonders Gestalt- und Körperpsychotherapeuten und der gegen den Entwurf des Le-bensbwältigungshilfe-Gesetzes kämpfende Aktionskreis „Lebenskunst“ haben massiv Protest eingelegt. Damit kein falscher Eindruck entsteht: auch in diesen Milieus haben sich in den letzten Jahren selbstkritische Stimmen zu Wort gemeldet. Was Hilarion Pet-zold (1992) in dem von ihm herausgegeben Band „Die neuen Körpertherapien“ im Nach-wort über Risiken und Gefahren und das Mißbrauchspotential von Körperarbeit ge-schrieben hat, ist äußerst lesenswert. Ähnliches gilt für die Transpersonale Psychologie. Als neuere selbstkritische Veröffentlichungen weise ich auf Klaus Horns (1997) „Erleuch-tungsfalle“ und auf „Exodus ins Ego“ von Hans-Willi Weis (1998) hin. Beide Bücher sind von Insidern kenntnisreich und humorvoll verfaßt und betrachten das komplexe Selbst-verwirklichungsmilieu von Therapie und Spiritualität skeptisch.

Trotz des Einspruchs der vier Professoren werden weltanschaulich orientierte Verfahren weiter zunehmen, weil sie über die reparative Funktion der Schulmedizin und traditionel-len Psychotherapie hinaus und einen Sinnkosmos mitliefern, der Schutz, Geborgenheit und Bindungserfahrungen verspricht. Diese Tendenz ist unübersehbar, obwohl die zu-meist esoterisch begründeten Heilverfahren weder differenzierende diagnostische Me-thoden vorweisen noch überprüfbare therapeutische Wirksamkeit besitzen. Das wollen sie auch gar nicht: Sie versprechen bei einem vorbehaltlosen "Sicheinlassen" enorme Resultate, ohne sie erklären zu können.

Bevor hier vorschnelle und undifferenzierte Urteile gefällt werden, muß unterschieden werden, ob beispielsweise ein Yoga-Lehrer sich selber als spiritueller Meister oder seine Tätigkeit als Gymnastik und Entspannungs-Training versteht. Das weite Spektrum des alternativen Gesundheitsmarktes ermöglicht auch innerhalb einer Methode sowohl eine eingeschränkte, eher wissenschaftlich begründete Vorgehensweise als auch eine Varian-te mit einem "ganzheitlichen", weltanschaulich ausgedehnten Anspruch. Dazu einige Bei-spiele:

• Verschiedene NLP-Ausbilder haben sich kritisch-ablehnend zur Version eines "spiritu-ellen NLP" geäußert, das in letzter Zeit größere Verbreitung findet.
• Systemische Familientherapeuten haben sich von den populären Familienaufstellun-gen nach Bert Hellinger distanziert und nachgewiesen, daß dort weniger systemisch-konstruktivistisches Vorgehen als vielmehr riskant-autoritäres Deuten praktiziert wird.
• Wegen des Booms der Yogaanbieter hat es der Berufsverband deutscher Yogalehrer (BDY) als berufsständische Organisation von rund 1500 Yogalehrern und Yogalehre-rinnen als notwendig angesehen, einen Katalog von Kriterien zu formulieren, die ein seriöser Yogaunterricht erfüllen sollte. Deutlich wird hervorgehoben, daß Yoga vor al-lem eine an sich weltanschaulich neutrale Methode ist. Das häufig zu beobachtende Überfrachten mit "patchwork-religiösen" Inhalten sieht die vom BDY herausgegebene "Handreichung Yoga" als unseriös an.

Die Tatsache, daß ein Berufsverband wie der BDY sich intensiv mit diesen Fragen be-schäftigt und auf seiner letzten Jahrestagung einen eigenen Arbeitskreis durchführte, der intern auch ganz andere Positionen deutlich werden ließ, weist auf die schwierige Ab-grenzung von Psychotherapie und Weltanschauung hin. Kompliziert wird die Situation dadurch, daß der BDY neuerdings durch den Bund der Yoga-Vidya-Lehrer (BYV) Kon-kurrenz erhalten hat. Im Gegensatz zur weltanschaulich neutralen Verpflichtung des BDY bildet der BYV eine spirituelle Gemeinschaft und steht streng in der hinduistischen Tradi-tion - Meditation als Weg zur Erleuchtung.

Als ein weiteres Beispiel für die schwierige Trennung zwischen Wissenschaft und Glau-benslehre möchte ich auf die Psychoanalyse verweisen. Natürlich enthält das psycho-analytische Gedankengebäude eine ganze Reihe von unüberprüfbaren Voraussetzun-gen. Zentrale Konzepte wie das Unbewußte oder die Übertragungsbeziehung zwischen Patient und Analytiker sind naturwissenschaftlich nicht faßbar, so daß diese Therapie-form von manchen Kritikern einer esoterischen Geheimlehre gleichgesetzt wird. Dage-gen ist einzuwenden: psychoanalytische Therapieziele, wie sie beispielsweise Mertens (1996) formuliert hat, beabsichtigen die Fortführung eines unterbrochenen Entwicklungs-prozesses und das Erreichen innerer Unabhängigkeit. Grundlage dafür bildet die Hin-wendung zum Realitätsprinzip. Nur das, was sich im Alltag der Beziehungen und Ent-scheidungen bewährt, hat letztlich Bestand. Nicht phantasievolle Wünsche und utopische Beziehungshoffnungen werden geschürt und gepflegt. Eine psychoanalytische Therapie dient dazu, dem Realitätsprinzip eine dauernde Vorherrschaft zu sichern, was im Gegen-satz zum magisch-esoterischen Denken steht.



3. Zur Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Weltanschauung

Esoterisches "Geheimwissen" ist zu einer echten Konkurrenz zur bisher wissenschaftlich orientierten Therapiepraxis geworden. Bei vielen alternativen Therapieverfahren und Be-handlungsansätzen finden aber unsachgemäße Grenzüberschreitungen statt, weil die Erkenntnismöglichkeiten der Psychologie überschätzt oder mißbraucht werden und welt-anschauliche Inhalte als angeblich neueste psychologische Einsichten verbreitet werden.

In der Auseinandersetzung mit alternativen Heilverfahren befindet sich die Psychothera-pie im Spannungsfeld zwischen rational begründeter Wissenschaft und mythisch-irrationaler Weltanschauung. Zum besseren Verständnis dieser "Schnittmenge" ist die empirische Religionspsychologie gefordert, durch ihre Forschungen religiöses Fühlen, Denken und Handeln zu beschreiben und zu interpretieren. Diese Disziplin - in Deutsch-land beschämend unterentwickelt - könnte einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, ge-genwärtige gesellschaftliche Herausforderungen wie den Dialog der Kulturen und Religi-onen, den wachsenden Fundamentalismus oder hysteroide Strömungen angesichts der Jahrtausendwende besser zu bewältigen.

Unser enorm angewachsenes Wissen hat uns manche Annehmlichkeit und verbesserte Lebensqualität beschert, nur eines nicht: das Geheimnis eines zufriedenen, erfüllenden Lebens. Jedes Menschenleben wird mit dem Schicksalhaften menschlicher Existenz konfrontiert - mit Schuld, großem Leiden und unserer Endlichkeit: dem Tod. Die Frage nach dem Sinn unseres Daseins benötigt keine wissenschaftlichen Informationen, son-dern verlangt eine weltanschauliche Orientierung (vgl. Utsch/Lademann-Priemer 1999).

Mittlerweile sind im therapeutischen Milieu die verschiedensten weltanschaulichen Orien-tierungen vertreten: manche praktizieren Zen-Meditation, andere fühlen sich der Lehre von Osho verbunden, wieder andere finden sich in dem Weltbild von Rudolf Steiner wie-der und stehen der Anthroposophie nahe, andere arbeiten ergänzend mit Naturheilver-fahren und der Einbeziehung angeblich medialer Kräfte oder astrologischer Einsichten. Damit kein falsches Bild entsteht: auch die Zahl der psychotherapeutisch tätigen Christen ist nicht gering, und viele Kolleginnen und Kollegen vertreten nach wie vor eine streng naturwissenschaftliche Position. Dennoch: Eine neuere empirische Untersuchung der „Glaubensüberzeugungen bei PsychotherapeutInnen“ (Ludwig & Plaum 1998) belegt ein erstaunlich hohes Maß an Irrationalität auf dem Feld der Psychotherapie. Die meisten (93%) der Befragten glaubten an etwas, das „über die Befunde der empirischen Wissen-schaften hinausgeht. Noch konkreter an eine „transzendente Realität“ glaubten drei Vier-tel (74%) der Befragten; zwei Drittel gestanden ihr ein Bedeutung in Bezug auf den The-rapieprozeß zu.

Alle unterschiedlichen Lebensorientierungen und Werteysteme sind legitim, wenn der Ratsuchende darüber informiert wird, welches Menschenbild der Therapeut seines Ver-trauens vertritt. Denn weil es keine objektive, überprüfbare und allgemeingültige Wirk-lichkeitsdeutung und Weltanschauung gibt, muß letztlich jeder selbst die für sich stimmi-ge Variante herausfinden. Wenn ein Ratsuchender sich an eine Therapeutin oder einen Therapeuten wendet, erfordert es fachlicherseits viel Fingerspitzengefühl, den Patienten psychologisch zu betreuen und die Grenze zur Weltanschauung und zur Religion zu res-pektieren und zu wahren (vgl. Utsch 1999).

Weil jedem psychologischem Denken und jeder Therapieschule ein auf Glaubensan-nahmen beruhendes Menschenbild zugrunde liegt, sollte dieses reflektiert und dokumen-tiert werden. Pointiert unterstreicht die Münchener Psychologieprofessorin Thea Bauriedl ihren Standpunkt "von der Relativität der eigenen Überzeugungen" durch die rhetorische Frage: "Ist es wirklich ein so großer Unterschied, ob man religiöse Inhalte oder an die Psychoanalyse ´glaubt´?" (Bauriedl 1988, 117).

Schon eine Studie aus den siebziger Jahren mit Heilern aus verschiedenen Kulturen, Schamanen und Psychotherapeuten zeigte, daß für einen erfolgreichen Beratungs- und Heilungsprozeß ein gemeinsames Weltbild zwischen Behandler und Ratsuchendem ent-scheidend ist. Da dieser unspezifische psychotherapeutische Wirkfaktor allgemein gilt, sollte jeder Therapeut die menschenbildabhängigen Voraussetzungen seiner Behand-lung reflektieren und dokumentieren. Diese zusätzliche Information für den Klienten könnte seine Therapeutenwahl positiv beeinflussen, da ein ähnliches Weltbild von Psy-chotherapeut und Klient die Behandlung vereinfachen würde.

Welche Antworten kann die Psychologie auf existentielle Fragen geben? Wird die Exis-tenz einer übermenschlichen Wirklichkeit ("Jenseits") abgelehnt, gibt es keinen Sinn, und die Frage danach erübrigt sich. Gibt es diese Wirklichkeit doch, verlangt der menschliche Geist nach einem Erklärungsmodell in Form einer Weltanschauung, die sein Verhältnis zu dieser anderen Realität bestimmt. Nicht die Psychologie, sondern philosophische Entwürfe und Religionen liefern Weltanschauungen, die dem einzelnen Sicherheit in ei-nem imaginären Ganzen bieten.

Die Psychotherapie übernimmt sich, wenn sie existentielle Grundhaltungen wie „Ver-trauen angesichts eines risikoreiches, gefahrvollen Lebens“, „Sicherheit angesichts ei-ner unverfügbaren Zukunft“ oder „Gelassenheit angesichts des sicheren Todes“ als gruppendynamisch herstellbar oder psychotechnisch vermittelbar beschreibt. Sie wird unseriös, wenn religiöse Entwicklungsziele wie Heil, Ganzheit, Glück oder Vollkommen-heit als psychotherapeutisch machbar dargestellt werden.
Alternative Behandlungsansätze vermischen häufig Wissenschaft und Weltanschauung. Wissenschaftlich redlich wäre es, zwischen psychologischer Heilbehandlung mit dem Ziel der seelischen Gesundung und einer weltanschaulich-religiös Heilsvermittlung mit dem Ziel existentieller Selbstvergewisserung eine deutliche Grenze zu ziehen.


4. Leitbilder gelingenden Lebens fehlen


Was fehlt und immer häufiger eingefordert wird, sind Leitbilder gelingenden Lebens. Nicht umsonst haben die Thesen des Philosophen Sloterdijk im letzten Jahr großen Wi-derspruch hervorgerufen. Von „Züchtung“ eines „Menschenparks“ war die Rede, der nach willkürlichen Kriterien einer kleinen Elite erfolgen sollte. Werden Gentechniker die Zukunft der Menschheit bestimmen? Immerhin war die Zahl der aufmerksamen und e-thisch verantwortungsbewußten Entscheidungsträger (noch) groß genug, solchen über-mütigen Unfug bloßzustellen. Doch die Frage bleibt: welche weltanschauliche Tradition, welches Sinngebungsmodell oder welche „Wirklichkeitskonstruktion“ (unsere „Wirklich-keit“ ist immer eine komplizierte Mischung aus sinnlicher Wahrnehmung und subjektiver Deutung) wird sich durchsetzen, nachdem herkömmliche Weltbilder wie das christliche und jüngst auch das wissenschaftliche ihre Autorität verloren haben?

Auch psychologische Theorien können ohne ein zugrundeliegendes Modell oder Bild des Menschen nicht formuliert werden. Diese Menschenbilder wiederum haben philosophi-sche oder theologische Ursprünge. Pragmatisch-anschaulich unterscheidet der amerika-nische Bewußtseinsforscher Charles Hampden-Turner in seinem Handbuch des menschlichen Bewußtseins religiös-geschichtlich, psychoanalytisch-existentiell, psycho-sozial, physiologisch, kybernetisch oder mythologisch begründete Menschenbilder. Men-schenbilder haben eine wichtige Funktion: Sie vermitteln eine weltanschauliche Orientie-rung und stellen sinnvolle Beziehungen zwischen dem einzelnen Menschen und seiner Welt her.

Jedes psychologische Modell transportiert anthropologische Leitbilder, die aber fairer-weise reflektiert und kommuniziert werden sollten. Die obligatorisch gewordenen Ethik-Kommissionen in psychologischen Ausbildungsinstituten und Fachverbänden oder die neuen, gemeinsam überarbeiteten „Ethischen Richtlinien“ des BDP (Berufsverband Deutscher Psychologen) und der wissenschaftlichen DGPs (Deutsche Gesellschaft für Psychologie) tragen dieser Einsicht Rechnung und führen hoffentlich dazu, daß unter-schwellige Manipulationen abnehmen und mißbräuchliches Anwenden psychologischer Heilkunde seltener werden.

Psychotherapie kann Sinn- und Wertefragen nicht beantworten. Die Weisheit eines ge-lingenden Lebens kann nur eine Weltanschauung vermitteln. Leben wird dann als erfül-lend empfunden, wenn die Umsetzung der persönlichen, weltanschaulich abgeleiteten Werte gelingt. Psychotherapeuten als Wertevermittler und Sinngeber zu benutzen, hie-ße, ihre Fähigkeiten zu überschätzen. Es sind Philosophie und Theologie, die unter-schiedliche Modelle von Wert- und Sinnvorstellungen sowie Welt- und Menschenbilder entwickelt haben und anbieten.

Alle Modelle jedoch bleiben Utopie, wenn sie nicht in eine konkrete Lebenswirklichkeit übersetzt werden können. Weltanschauliche Ziele und Ideale können durch eine psycho-logische Realitätsprüfung auf ihre Umsetzbarkeit und persönliche Angemessenheit hin untersucht werden. Bei dieser Überprüfung kann eine Psychotherapie Hilfe leisten. Wird die Psychologie selber spirituell, büßt sie ihre ideologiekritische Funktion ein und verliert ihr eigentliches Profil.

Visionäre Modelle der menschlichen Sinnkonstruktion entstammen der Philosophie und Theologie und haben dort ihren Ursprung. Aber alle Modelle bleiben Utopie, wenn sie nicht in eine konkrete Lebenswirklichkeit übersetzt werden können. Bei diesem Trans-ferprozeß leistet die Psychologie einen entscheidenden Beitrag, weil sie Aussagen über die Realisierbarkeit einer "Vision" auf der Grundlage ihres empirisch gewonnenen Wis-sens über Entwicklungsprozesse der Persönlichkeit treffen kann.

Andererseits ist die Psychologie auf Zielvorstellungen angewiesen, und visionäre Sinn-konstruktionen können als Entwicklungsanreiz dienen. Insofern kann von einer gegensei-tigen Ergänzung von weltanschaulich begründeter Vision und ihre Realisation durch psy-chologische Überprüfung gesprochen werden. Die primäre Aufgabe der Psychologie be-stünde dann darin, visionäre Modelle kritisch auf ihre Alltagstauglichkeit und individuelle Stimmigkeit hin zu überprüfen.

Eigene Visionen kann ein psychologischer Entwurf nur im Rückgriff auf ein Menschenbild und eine Weltanschauung entwickeln, von Selbstverständnis einer empirischen Sozial-wissenschaft kann sie allein dies nicht leisten. Übersieht sie diesen Tatbestand, wird aus einer sozialwissenschaftlichen Theorie eine Weltanschauungslehre.

Als Korrektiv fällt der Psychologie die wichtige Aufgabe zu, den wunschbildanfälligen Bereich der Spiritualität zu „erden“ und kritisch zu prüfen, inwiefern eine weltanschaulich abgeleitete „Lebensbewältigungshypothese“ realisierbar ist. Durch empirische Studien kann sie untersuchen, welche Zusammenhänge zwischen weltanschaulich begründeter Lebensorientierung und psychologisch überprüfbarer Lebenszufriedenheit bestehen. Le-ben wird dann als erfüllend empfunden, wenn die Umsetzung der persönlichen, weltan-schaulich abgeleiteten Werte gelingt. Diese Ziele und Ideale können durch eine psycho-logische Realitätsprüfung auf ihre Umsetzbarkeit hin untersucht werden.

Damit habe ich eine dialogische Beziehung zwischen visionärer Anthroplogie und kriti-scher Empirie beschrieben. Folgende Thesen stelle ich zur Diskussion:

• Psychologisches Wissen liefert Hilfen zur Konfliktbewältigung, seelischen Gesundheit, Umgang mit Streß, Persönlichkeitsentfaltung.
• Die Weisheit eines gelingenden Lebens kann nur eine Weltanschauung vermitteln, weil sie die existentiellen Fragen nach Sinn, Schuld, Zufall, Endlichkeit deutet.
• Die visionäre Aufgabe der Theologie: sie weist auf das „Mehr“ des Glaubens hin, skiz-ziert anthropologische Leitbilder.
• Die kritische Funktion der Psychologie: Reflexion und Überprüfung der anthropologi-schen Leitbilder, damit sie nicht als unmenschliche Utopien zu einer „Sektenbildung“ zu führen. Die Psychologie kann
* visionäre Ideen in realistische Entwicklungsziele umformen helfen,
* objektivierbare Merkmale einer gelungenen Lebensgestaltung wie Lebenszufrie-denheit, Gesundheitsverhalten und Streßbewältigungsvermögen beschreiben,
* weltanschauliche Weisheiten auf ihre Alltagstauglichkeit hin prüfen.



Literatur:
Andritzky (1997) Alternative Gesundheitskultur. Eine Bestandsaufnahme mit Teilnehmerbefragung. Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung.

Bauriedl, T. (1988) Von der Relativität der eigenen Überzeugungen. In: Kutter, P, Páramo-Ortega, R, Müller, T (Hrsg) Weltanschauung und Menschenbild. Einflüsse auf die psychoanalytische Praxis. Van-denhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 103-142

Cremerius, J. (1995) Die Zukunft der Psychoanalyse. In: ders. (Hg.), Die Zukunft der Psychoanalyse (S. 9-55). Frankfurt: Suhrkamp.

Grawe, K., Donati, R., Bernauer, F. (1994) Psychotherapie im Wandel- Von der Konfession zur Profes-sion. Göttingen: Hogrefe.

Hampden-Turner, Ch. (1996). Modelle des Menschen. Ein Handbuch des menschlichen Bewußtseins. Weinheim: Beltz.

Horn, K. (1997) Die Erleuchtungsfalle.Vom Sinn und Unsinn spiritueller Suche. Niedertaufkirchen: Con-nection.

Ludwig, M., Plaum, E. (1998). „Gaubensüberzeugungen“ bei Psychotherapeutinnen /Psychotherapeuten. Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie 46(1), 58-83.

Mertens, W. (1996) Psychoanalyse. Eine Einführung. 6., aktualisierte Auflage. Stuttgart: Kohlhammer.

Petzold, H. (Hg.). (1992). Die neuen Körpertherapien. München: dtv.

Pohlen, M., Bautz-Holzherr, M. (1995) Psychoanalyse - das Ende einer Deutungsmacht. Reinbek: Ro-wohlt.

Schneider, E (1996). Wer bestimmt, was hilft? Über die neue Zahlengläubigkeit in der Therapiefor-schung. Paderborn: Junfermann.

Tschuschke, V., Heckrath, C., Tress, W. (Hg.) (1997). Zwischen Konfusion und Makulatur: Zum Wert der Berner Psychotherapiestudie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Utsch, M. (1999). Psychologie als Weltanschauung? Psychologie Heute 26(6), 27-31.

Utsch, M., Lademann-Priemer, G. (Hg.) (1999) Zwischen Himmel und Hölle. Wege aus spirituellen Kri-sen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Weis, H.-W. (1998). Exodus ins Ego. Therapie und Spiritualität im Sebstverwirklichungsmilieu. Düssel-dorf: Benziger.

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