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Vorgeburtliche Diagnostik und Leidbewältigung


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Rolf

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Vorgeburtliche Diagnostik und Leidbewältigung




Ulrich Eibach




Wieviel genetische Diagnostik können wir verantworten?


Neue technische Entwicklungen kommen im Kontext gesellschaftlicher Erwartungshaltungen zur Anwendung. Zugleich beeinflussen sie die Lebenseinstellungen in diesen Gesellschaften. Eine ethische Beurteilung neuer medizinischer Entwicklungen muß nicht zuletzt diese gegenseitige Beeinflussung von neuen Techniken und den Lebenseinstellungen der Menschen bedenken.

I. Der Wandel gesellschaftlicher Werte und die ärztliche Ethik

Der rapide Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse und Werteinstellungen in westlichen Industrieländern seit den 1960er Jahren wird als Freisetzung des einzelnen aus sozialen Vorgegebenheiten und Zuwachs an individueller Selbstverwirklichung gekennzeichnet . Deren Kern bildet das Streben nach Autonomie und Befriedigung individueller Bedürfnisse, vor allem des Bedürfnisses nach einem glücklichen Leben, für das Gesundheit und Leidfreiheit wesentlichste Voraussetzungen sind. Autonome Selbstbestimmung und individuelles Glück werden zu den einzigen konsensfähigen Werten in individualisierten Gesellschaften, so daß selbst in wesentlichen Grundfragen - z. B. der Geltung des Tötungsverbots - keine Einigkeit mehr zu erzielen ist.

Deshalb muß jeder selbst entscheiden, was seinem Glück dient. Das Streben nach autonomer Selbstbestimmung und individuellem Glück ist gepaart mit der Auffassung, das Leben müsse der Kontrolle des Menschen so unterworfen werden, daß es ganz nach seinen eigenen Vorstellungen planbar und gestaltbar wird. Die Wissenschaften, insbesondere die Medizin, haben durch ihre Erfolge in der Beherrschung der Natur und des Lebens viel zur Verstärkung der Fiktion beigetragen, das Leben sei nach eigenen Wünschen planbar , eine Welt ohne Krankheiten, Behinderungen, leidvolles Altern und Sterben sei "technisch" herstellbar. Die Folge ist einmal, daß die Bereitschaft und Fähigkeit schwindet, ein unerwünschtes schweres Geschick als "Verhängnis" oder als "Fügung" anzunehmen und zu tragen . Gleichzeitig sinkt die gesellschaftliche "Toleranz" gegenüber Menschen, die nicht den herrschenden Vorstellungen von einem normalen "glücklichen" Leben entsprechen und die für die Gesellschaft eine dauernde mehr oder weniger große Last darstellen.

Zum anderen führt die Überschätzung der Autonomie und des Strebens nach einem leidfreien glücklichen Leben zunehmend zu der Auffassung, ein Geschick, das dem Menschen keine autonome Selbstverfügung erlaube oder ihn dieser beraube, das er also nicht mehr frei wählen und gestalten kann, sondern "erleiden" muß, sei des Menschen unwürdig, sei ein "lebensunwertes" Leben.

Die Behauptung, daß all das, was heute über vorgeburtliche Diagnostik, Selektion, über Euthanasie usw. gesagt wird, nichts gemeinsam habe mit dem Gedankengut, das die geistige Grundlage für die Verbrechen von Medizinern im Deutschland der NS-Herrschaft bildete, entbehrt jeder Überzeugungskraft. Der NS-Staat hat nur praktiziert, was sozial-darwinistische und andere Theoretiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts als rational, ja naturwissenschaftlich (= evolutionistisch) begründete Ethik propagiert haben . Der theoretische Kern bestand erstens in der Aussage, daß der Einzelne den Wert eines zu schützenden Rechtsguts in dem Maße verliert, wie er für andere und die Gesellschaft zu einer dauernden Last wird und sein Leben nicht mehr selbst genießen kann; und zweitens in der Behauptung - mit der später NS-Ärzte ihre Verbrechen vor Gerichten verteidigten -, daß es angesichts begrenzter medizinischer, personeller und finanzieller Ressourcen nötig sei, diese auf diejenigen zu konzentrieren, deren Zustand so rehabilitierbar ist, daß sie anderen und der Gesellschaft nicht zur Last fallen. Diejenigen hingegen, bei denen diese Ziele nicht mehr zu erreichen seien, solle man von ihrem Dasein "erlösen", um die sinnlosen Ausgaben für sie denen zukommen zu lassen, die ihr Leben selbst noch genießen können und die für die Gesellschaft noch einen "Nutzen" darstellen. Dieses Gedankengut führte also zur Alternative von "Heilen" oder "Ausmerzen" (Vernichten) .

Der bedeutende Arzt V. v. Weizsäcker hat in seiner Auseinandersetzung mit der NS-Medizin zu Recht darauf hingewiesen, daß der ungeheure Kampf der Medizin gegen die Krankheiten und den Tod einerseits und die Vernichtung der "Unheilbaren" andererseits nur die zwei Seiten ein und derselben Medaillie seien, nämlich der Glorifizierung von Gesundheit und einem leidfreien diesseitigen Leben. Behinderte, unheilbar kranke und pflegebedürftige Menschen durchkreuzen den "Größenwahn", das Leben sei vollkommen nach unseren Plänen "machbar", eine heile Welt sei herstellbar, und auch die Fiktion eines ungebrochen selbstbestimmten Lebens. Wenn es aber nicht möglich ist, die Kranken und Behinderten von ihren Gebrechen zu befreien, so bleibt immer noch der Weg offen, daß man ihnen das Leben nimmt , um auf diese Weise mit dem Leben das Leiden zu beseitigen.

Die Ethik der absoluten Selbstverfügung über das eigene Leben und der Wahn, das Leben ganz nach seinen Plänen gestalten und beherrschen zu können, entspringen derselben geistigen Wurzel, der Selbsteinsetzung des Menschen als uneingeschränkten Herrn des Lebens. Beide leugnen die Tatsache der Geschöpflichkeit, der Endlichkeit, der bleibenden Abhängigkeit vom "Unverfügbaren", von der Natur und von Gott, und das Unterworfensein aller Kreatur unter die Macht der Krankheit und des Todes (vgl. Römer 8,18ff.). Sie kennen daher keine Ethik des Verzichts und des "Erleidens", sondern nur eine Ethik der aktiven Lebensgestaltung, des Machens, des Herrseins des Ichs über die Natur und das Leben, nur eine "Ethik der Macht", die auch die Ohnmacht gegenüber der Übermacht von Krankheit und Tod durch Macht zu überspielen versucht. Sie kennen keine Ethik des "Seinlassens", der inneren Annahme des "Verfügten" (Schicksal). Sie leugnen damit zutiefst, daß in dieser Weltzeit zuletzt nie die menschliche Freiheit und Macht, sondern die Entmächtigung des "Ichs" durch Krankheit und der Tod den Sieg davontragen.


II. Auswirkungen des Wertewandels auf medizinisches Handeln

In erster Linie ist es die Medizin, von der Menschen sich die Garantie eines leidfreien Lebens versprechen. Die Medizin wird zum Mittel, das Leben gemäß menschlichen Wünschen zu planen und zu beherrschen. Stellt sich z. B. ein Kind als "Naturereignis" ein, ist aber nicht gewollt und wird als Hindernis am eigenen Glück betrachtet, so wird von der Medizin erwartet, daß sie dieses bloße "Naturereignis", das ungewollte Kind, gefahrlos beseitigt. Wird ein Kind gewünscht, stellt sich aber nicht als "Naturereignis" oder als "Gottesgeschenk" ein, so muß es mittels medizinischer Technik (künstliche Befruchtung) "gemacht" werden . Stellen sich dann - wie es bei hormoneller Stimulation und bei Embryotransfer häufig der Fall ist - Mehrlingsschwangerschaften ein, die nicht gewollt sind, so kann eine - wie man euphemistisch sagt - "Reduktion" der Zahl der Föten vorgenommen werden.

Im Zuge der Individualisierung der Lebensauffassungen rechtfertigt man fast alle neuen medizinischen Angebote mit dem Argument, daß man diese neuen Verfahren (z. B. künstliche Befruchtung; pränatale Diagnostik; Präimplantationsdiagnostik und vielleicht auch das "Klonen") den interessierten Menschen nicht vorenthalten dürfe, zumal ja niemand genötigt werden solle, sie in Anspruch zu nehmen.

Diejenigen, die die neuen Verfahren nicht wünschen, hätten aber nicht das Recht, ihren Einsatz für die zu verhindern, die sie wünschen. Weil es aber für alle neuen Verfahren Interessenten gibt oder sich entsprechende Interessen erzeugen lassen (bis hin zum Klonen von Menschen), können alle neuen Verfahren als im Dienste individueller Interessen stehend gerechtfertigt werden. So braucht man auch die Frage nach den Zielen medizinischen Fortschritts überhaupt nicht mehr zu stellen, da die Ziele durch die individuellen Bedürfnisse der Menschen bereits hinreichend vorgegeben sind, und dies ist vor allem der Wunsch nach einem möglichst gesunden und glücklichen Leben. So wird die Medizin zum Anbieter von "Serviceleistungen", die dadurch hinlänglich gerechtfertigt erscheinen, daß sie machbar sind und daß es Interessengruppen an solchen Angeboten gibt.

Eine solche Medizin kennt letztlich keine ethischen Grenzen, weder in der Forschung noch in der Anwendung, denn die Bedürfnisse der Menschen nach Gesundheit, Wohlleben und Glück sind ebenso grenzenlos wie der wissenschaftliche Drang zur Lebensbemächtigung.

Eine medizinische Ethik, die kein inhaltlich gefülltes Ethos der Fürsorge für die Schwachen zur Grundlage hat, sondern sich zur Rechtfertigung ihres wissenschaftlichen und therapeutischen Handelns in erster Linie auf die Interessen autonomer Menschen beruft, setzt dem Forscherdrang und den Erwartungshaltungen an die Medizin letztlich keine Grenzen. Eine Ethik der Autonomie und der "Freiheit der Wissenschaft", die nicht eingebettet ist in eine Ethik der Fürsorge und des Lebensschutzes, bietet letztlich um so weniger Schutz für das Leben, je weniger die Menschen in der Lage sind, ihre Interessen selbsttätig geltend zu machen, und überhaupt keinen Schutz, wenn die Fähigkeit zur Durchsetzung eigener Interessen verlorengegangen ist oder nie vorhanden sein wird. Dann wird das Fehlen solcher Freiheit zur Bedrohung des Lebensrechts, denn dann entscheiden die Freiheitsbesitzer über das Lebensrecht und Leben der "Freiheitslosen". Es handelt sich also letztlich nur um eine Ethik der Starken und der starken Interessen, die zur Bedrohung des Lebensschutzes und Lebensrechts der Schwächsten wird .


III. Zur medizintechnischen Verhütung der Geburt behinderten Lebens

Die neuen Verfahren zur Verhinderung der Geburt kranker Kinder kommen in Gesellschaften zur Anwendung, in denen der Abbruch einer Schwangerschaft straffrei ist. Bei der Abtreibung geht es hauptsächlich um den Konflikt zwischen individueller Selbstverwirklichung und dem Schutz des Lebens. Nach deutschem Recht ist die Abtreibung straffrei, wenn das Leben mit einem Kind für die Schwangere eine Belastung darstellt, ihr nicht zugemutet werden kann. Die Basis bildet also eine Zumutbarkeitsethik , die letztlich den Lebensschutz des werdenden Kindes den Interessen der Erwachsenen opfert. Wenn schon das Leben mit einem gesunden Kind einen unzumutbaren Verzicht auf "Lebensqualität" darstellt, um wieviel mehr ist dann das Leben mit einem behinderten Kind eine nicht zumutbare Belastung. Grund für die gesetzlich nicht geforderte genetische Beratung ist daher fast immer die Sorge, ein behindertes Kind zu bekommen, und Ausgangspunkt der Beratung ist fast immer der Wunsch, die Geburt eines solchen Kindes zu vermeiden.

So wird verständlich, daß sich die beratenden Experten möglichst auf eine "wertneutrale", über medizinische Fakten informierende Beratung zurückziehen, sich eines ethischen Urteils möglichst enthalten, dies allein den betroffenen Eltern überlassen möchten . Mit einer derartigen Beratung kann der Berater einmal dem Verdacht entgegentreten, er selbst verfolge mit der Beratung präventiv-eugenische Ziele, zum anderen kommt er so dem gesellschaftlichen Trend zur autonomen Entscheidung entgegen. Was in der Gesellschaft und unter Ärzten nicht mehr konsensfähig entschieden werden kann, soll nun das betroffene Individuum "autonom" entscheiden. Kann man ihm verdenken, daß es überwiegend gemäß den eigenen Neigungen und den herrschenden gesellschaftlichen Erwartungen entscheidet? Die auch bei Beratern übliche Konzentration auf das Einzelschicksal stellt eine zumindest erheblich verkürzte ethische Perspektive dar, in der es nur um die Zumutbarkeit des Lebens mit einem behinderten Kind für die Eltern geht.

Bei einer ethischen Beurteilung kommt es aber darauf an, daß man nicht nur das Einzelgeschick, sondern auch den übergreifenden sozialen und wertmäßigen Kontext des Lebens in Blick nimmt, auf den neue medizinische Verfahren Einfluß nehmen, und dazu gehören im Falle genetischer und vorgeburtlicher Testmethoden zumindest auch die lebenden behinderten Menschen und die Einstellungen der Gesellschaft zu behinderten Menschen.

1. Genomanalyse und pränatale Diagnostik zwischen Schutz und Selektion des Lebens

In keinem anderen Bereich der Medizin klafft die Schere zwischen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten so weit auseinander wie im Bereich der vorgeburtlichen Diagnostik. Die Folge ist, daß wissentlich Diagnose ohne Therapiemöglichkeit für das diagnostizierte "Objekt" betrieben wird. Dies ist ein Novum in der Medizin, denn diagnostische Verfahren sind üblicherweise nur zu rechtfertigen, wenn auf ihrer Basis dem Wohl des diagnostizierten "Objekts" gedient werden kann. Die faktische Konsequenz der pränatalen Diagnostik von Krankheiten ist fast immer die Abtreibung, also nicht die Therapie des Trägers einer Krankheit, sondern seine Tötung.

Die vorgeburtliche Diagnostik einer nicht therapierbaren Krankheit fordert letztlich unabweislich dazu heraus, ein Urteil über den Lebenswert zu fällen, von dem das Leben eines Kindes abhängt. Dies ist die zweite grundsätzliche Neuheit dieser Methoden. Letztendlich geht es bei dieser Diagnostik ganz überwiegend darum, die Geburt kranker Kinder zu verhindern. Dies ist meist nur zu erreichen, indem man den Tod des Kindes verursacht . Solche Diagnosen würden sich im Grunde fast immer erübrigen, wenn die Bereitschaft bestünde, ein behindertes Kind anzunehmen. Diese ist aber überwiegend in unserer Gesellschaft nicht gegeben, so daß ein Bedarf nach "Diagnostik mit Todesfolge" besteht, der allerdings nicht zuletzt durch die bloße technische Möglichkeit einer entsprechenden Diagnostik geweckt wird und der in dem Maße zunimmt, in dem sich das Spektrum der diagnostizierbaren Krankenheiten ausweitet. Bestand die ethische Herausforderung bis zur Entwicklung solcher Methoden darin, ein unabänderliches Geschick hinzunehmen, so hat der Mensch nun eine Wahlmöglichkeit, die für das behinderte Menschenleben ganz überwiegend den Tod bringt, weil es für den Menschen schwer ist, eine angebotene Möglichkeit, ein schweres Geschick zu vermeiden, auszuschlagen.

Die Behauptung, es werde Diagnose ohne Therapiemöglichkeit betrieben, dann aufgrund der Diagnose ein Urteil über den Lebenswert gefällt und "Früheuthanasie" praktiziert, läßt sich vielleicht umgehen, indem man den Begriff des "therapeutischen Objekts" auf eine soziale Größe , die Eltern, die Familie oder auch die Gesellschaft als ganze ausdehnt und dann behauptet, es gehe bei der Diagnostik um die "Gesundheit" bzw. die Zumutbarkeit für diese soziale Größe, darum, ob ein behindertes Menschenleben für diese Größe tragbar ist oder nicht. Eine solche Ausweitung des Begriffs des "therapeutischen Objekts" stellt aber auch ein ethisches Novum in der Medizin dar, weil das therapeutische Objekt - von Ausnahmen abgesehen (z. B. Familientherapie) - in der Medizin immer ein individuelles Subjekt und keine soziale Größe ist.

Dennoch besteht eine gewisse Berechtigung, die Familie als therapeutisches Objekt zu betrachten, denn gerade der behinderte Mensch ist auf mitmenschliche Beziehungen und die Fürsorge der Familie dauernd angewiesen, und Ehe und Familie können an dieser Belastung auch zerbrechen. Um ihnen solches Leid zu ersparen, um dieser "Prävention" willen, wird eine Abtreibung durchgeführt. Dennoch bleiben erhebliche Bedenken, ob solche Belastungen eine Tötung ethisch rechtfertigen. Die größte Gefahr, die von einer Ausweitung des "therapeutischen Objekts" auf die Familie ausgeht, besteht darin, daß dann bald auch die "Gesellschaft" als therapeutisches Objekt betrachtet werden kann, der man die Belastungen des Lebens mit behinderten Menschen möglichst ersparen soll. In der Gesellschaft herrscht bereits heute die Meinung vor, daß es unverantwortlich sei, wissentlich die Geburt kranken Menschenlebens in Kauf zu nehmen, die Möglichkeiten genetischer Testung abzulehnen, unverantwortlich, weil die Gesellschaft die Folgelasten mitzutragen habe. Dies sei der Gesellschaft nicht "zumutbar". Damit wird der Lebenswert und das Lebensrecht wieder nach dem Nutzen bzw. Schaden für die Gesellschaft bemessen, verliert menschliches Leben den Wert eines zu schützenden Rechtsguts in dem Maße, wie aus Nutzen Schaden für die Gesellschaft wird .

Solche Begründungen für die "Selektion" von behinderten Menschen werden in dem Maße an sozialpolitischer Bedeutung gewinnen, wie der ökonomische Druck im Gesundheits- und Sozialwesen zunimmt und in der Gesellschaft immer unklarer wird, worin die Würde und der Lebenswert des schwerbehinderten und unheilbar kranken Menschenlebens besteht. Die Befürchtung besteht nicht zu Unrecht, daß die Diagnostik zur Diskriminierung und Selektion ganzer Menschengruppen führt, denen man - wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts - zunächst das Recht auf Fortpflanzung und dann auch das Recht auf Leben bestreitet. Im Zuge der Fortentwicklung genetischer und sonstiger Testmethoden kann es nicht ausbleiben, daß die letztlich inhumane Fiktion einer Welt ohne schwere Krankheiten und Behinderungen stetig zunimmt, daß die Toleranz der Gesellschaft gegenüber schwer behinderten und unheilbaren Menschen stetig abnimmt und daß der "Zwang zur Gesundheit" sich zur Bedrohung des Lebensrechts und zur Selektion der Schwächsten ausweitet .

2. Prädiktive Medizin - Prävention durch Selektion?

Die Genomanalyse ermöglicht nicht nur die Diagnose von Krankheiten und Behinderungen, die sich bereits vor, bei oder bald nach der Geburt manifestieren, sondern auch von Krankheiten, die sich erst im Laufe der Lebensentwicklung ausprägen. Sofern solche Krankheiten im Kindesalter auftreten (z. B. Muskeldystrophie), wäre eine Abtreibung noch mit der "Unzumutbarkeit" für die Eltern und die Familie zu rechtfertigen. Dies trifft aber nicht mehr für Krankheiten zu, die sich erst im höheren Lebensalter (z. B. Chorea Huntington) ausprägen. Die Selektion von Menschen mit solchen genetischen Anlagen kann nur mit dem Argument gerechtfertigt werden, daß dem betroffenen Menschen eine solche Krankheit oder daß der Gesellschaft die Pflege von Menschen mit solchen Krankheiten nicht zugemutet werden kann. Andere müssen dann über die Zumutbarkeit eines solchen Geschicks für den Betroffenen entscheiden. Einer solchen Entscheidung liegt eindeutig ein negatives Urteil über den Lebenswert zugrunde, das die Verweigerung des Lebensrechts rechtfertigen soll. Damit werden die gleitenden Übergänge von der Vermeidung von Leiden für konkrete Menschen zur Selektion von Menschen, deren Leben für lebensunwert erklärt wird, unverkennbar deutlich.

Durch die "prädiktive Medizin" ändert sich auch der Krankheitsbegriff . Krank ist nicht mehr erst der, bei dem sich die Krankheit als reale Störung des Körpergeschehens und des psychisch-geistigen Befindens manifestiert, sondern bereits der, der die genetische Anlage oder auch nur die genetische Disposition für eine Krankheit in seinem Erbgut trägt, die aber vielleicht in seinem Leben überhaupt nicht ausbrechen wird. Diese Verlagerung des Krankheitsbegriffs von der körperlich-organischen auf die genetische Ebene macht auf der körperlichen Ebene gesunde Menschen zu Kranken, kann dazu führen, daß auch ihr Leben schon als "minderwertiges" oder gar "lebensunwertes" Leben eingestuft wird. Der Zwang zur Gesundheit und zur Prävention von Krankheiten im Interesse der Gesellschaft führt damit zu einer noch nicht absehbaren ungeheuren Ausweitung derjenigen Gruppen von Menschen, deren Leben aufgrund schlechter genetischer Anlagen gesellschaftlich unerwünscht ist.


3. Präimplantationsdiagnostik

Wenn ein Kinderwunsch besteht, ein behindertes Kind aber nicht akzepiert wird, besteht heute die Möglichkeit einer "künstlichen Befruchtung" mit vorangegangener genetischer Testung und einer Einpflanzung nur von "gesunden" Embryonen. Auf diese Weise kann man einer Frau bzw. einem Paar die Belastungen einer "Schwangerschaft auf Probe" und der Abtreibung eines behinderten Kindes ersparen. Die Präimplantationsdiagnostik - die in Deutschland "noch" durch das Embryonenschutzgesetz verboten ist, um Manipulationen an Keimzellen und Embryonen zu verhindern - macht es also möglich, daß man am Wunsch nach einem gesunden Kind festhalten kann, ohne zugleich den Schmerz der Ungewißheit und der Abtreibung erleben zu müssen.

Dieser Schmerz fordert dann nicht mehr dazu heraus, den "Anspruch" auf ein gesundes Kind zu hinterfragen, sondern nur noch dazu, auch diesen Schmerz durch technische Verfahren zu vermeiden, ohne den Wunsch nach einem gesunden Kind aufgeben zu müssen. Man könnte auch sagen, daß diese neue Technik die Unfähigkeit bestärkt, mit einem Leid anders umzugehen, als es technisch zu beseitigen und zu überspielen.


4. Von der vorgeburtlichen Diagnostik zur "Euthanasie"

Die gleitenden Übergänge von der vorgeburtlichen Diagnostik zur "Früheuthanasie" werden ganz deutlich, wenn die Abtreibung ihren Zweck verfehlt und zur Geburt eines lebenden Kindes führt. Diese Situation tritt in Deutschland vermehrt auf, seit mit der Reform des 218 des Strafgesetzbuches (1996) die spezielle embryopathische Indikation zum Schwangerschaftsabbruch entfallen und sie der medizinischen Indikation zugerechnet worden ist. Diese, nicht zuletzt aufgrund des Drängens der Behindertenverbände durchgesetzte Regelung entspricht dem Grundgesetz (Art. 2), das eine Benachteiligung behinderter Menschen untersagt.

Sie sollte die als diskriminierend empfundene Sonderregelung für behindertes Leben beenden und gesunden wie kranken Kindern ein gleiches Recht auf Leben garantieren. Dies besagt praktisch, daß nicht mehr der Defekt des Kindes, sondern nur noch die "Zumutbarkeit" eines kranken Kindes für die Frau/Eltern für die Abtreibung ausschlaggebend sein darf. Die Einordnung dieser "Indikation" unter die medizinische Indikation verschleiert, daß es sich dabei in der Regel nicht um eine Gefährdung des physischen Lebens der Mutter handelt. Vor allem aber entfällt nun die bisher für die embryopathische Indikation geltende zeitliche Befristung (22./24. Woche) für den Abbruch einer Schwangerschaft, da die medizinische Indikation keine zeitliche Befristung kennt.

Die Folge der Neuregelung ist, daß vermehrt Kinder, die abgetrieben werden, lebend und nicht selten auch lebensfähig zur Welt kommen, man sie aber trotzdem unversorgt sterben läßt. Da die eigentliche Absicht einer solchen Handlung die Totgeburt (genauer: die Tötung) des Kindes ist, betrachten viele die "Lebendgeburt" als eine unerwünschte Nebenfolge der Abtreibung, gleichsam als eine "Komplikation". Diese "Komplikation" bedeutet eine schwerwiegende seelische und moralische Belastung, nicht nur für die Frau, die die Abtreibung wünscht, sondern ebenso auch für den mit dem Geschehen beruflich befaßten Personenkreis (Ärztinnen/Ärzte, Hebammen, Schwestern). Die "Komplikation" einer Lebendgeburt stellt ein juristisch noch ungeklärtes Problem dar, da solche Kinder nach deutschem Recht "Personen" sind, denen gegenüber an sich eine Behandlungspflicht besteht. Um diesen Problemen aus dem Wege zu gehen, ist man in einigen Kliniken dazu übergegangen, die Kinder vor der Entbindung im Mutterleib zu töten.

Andere haben große Bedenken gegenüber einer derartigen "aktiven" Tötung und bleiben beim "Sterbenlassen" durch Unterlassen lebenserhaltender medizinischer und pflegerischer Maßnahmen, also einer "Tötung durch unterlassene Hilfeleistung". Die ganze ethische Problematik dieses Vorgehens wird deutlich, wenn man in Betracht zieht, daß Säuglinge, die mit schweren gesundheitlichen Problemen im gleichen Alter und oft mit geringeren Chancen auf Überleben als Frühgeburt zur Welt kamen, auf Intensivstationen intensiv behandelt werden. Entscheidend für eine Behandlung oder ein Töten durch Verweigerung der Versorgung ist letztlich nur der Wille , ob ein Kind leben soll oder nicht leben soll. Im ersteren Fall stellt die Krankheit und die Frühgeburt des Kindes die "medizinische Komplikation" dar, im zweiten Fall die "Lebendgeburt". Damit werden die gleitenden Übergänge zwischen der vorgeburtlichen Tötung, der Tötung nach der Geburt ("Früheuthanasie"), der Kindstötung und der Tötung von Erwachsenen deutlich .

Auf dem Hintergrund einer "Zumutbarkeitsethik" ist es in der Tat - wie P. Singer und andere vor ihm darlegten - inkonsequent, das Recht auf Tötung auf die Zeit einer noch nicht gegebenen Lebensfähigkeit außerhalb des Uterus und den rechtzeitig diagnostizierten Defekt zu binden. Wenn "Unzumutbarkeit" ein Grund für Tötung ist, dann wird ein Geschick nicht dadurch zumutbar, daß eine bestimmte zeitliche Frist in der Lebensentwicklung überschritten ist. Indem Leben an seinem Beginn menschlicher Verfügung total unterworfen wird, sich die Gesellschaft mit der Begründung der "Unzumutbarkeit" an Formen der vorgeburtlichen Euthanasie und der Früheuthanasie gewöhnt hat, kann es nicht ausbleiben, daß auch andere Phasen des Lebens, insbesondere das Ende des Lebens, der Selbst- und Fremdverfügung zum Tode ausgeliefert werden. Entscheidend, ob Leben leben soll und darf, ist letztlich nur der "Wille" , der eigene Wille oder - und das mit wachsendem sozialen und ökonomischen Druck in Zukunft immer mehr - der Wille anderer, nicht zuletzt der gesellschaftliche Wille.

Um diesen Entwicklungen vorzubeugen, stellen sich viele deutsche Mediziner auf den Standpunkt, daß eine vorgeburtliche Diagnostik und eine Abtreibung nur solange in Frage kommen kann, wie eine Lebensfähigkeit des Kindes noch nicht gegeben ist. Es ist aber fraglich, ob diese Einstellung dem in andere Richtung gehenden gesellschaftlichen Druck und den internationalen und teils schon rechtlich legitimierten Tendenzen standhält, die Geburt kranker und behinderter Menschen mit allen Mitteln ohne zeitliche Begrenzung zu verhindern. Ohne eindeutige rechtliche Absicherung können solche Tendenzen kaum erfolgreich abgewehrt werden.




IV. Ethische Überlegungen




1. "Lebensunwertes" Leben?

Die hauptsächliche ethische Problematik der genetischen Beratung und vorgeburtlichen Diagnostik besteht nicht in der Abtreibung kranken Menschenlebens, sondern in der sich durch diese Methoden ausweitenden Lebenswertdiskussion . Die genetische Testung und vorgeburtliche Diagnostik fordern meist unabweislich dazu heraus, ein Urteil über den Lebenswert von nicht gesundem Leben zu fällen. Selbst dann, wenn man das Recht auf ein solches Urteil nur den betroffenen Eltern zubilligt, urteilen diese im Kontext von gesellschaftlichen Einstellungen, in denen Urteile über den Lebenswert anderer Menschen immer selbstverständlicher akzeptiert werden. Dabei wird vorausgesetzt, daß die Würde des Menschenlebens und mit ihr sein Lebenswert ein empirisch feststellbarer Sachverhalt ist.

Im Gefolge der angelsächsischen empiristischen Philosophie (John Locke u. a.) ist nicht nur nach Auffassung utilitaristischer Philosophen (P. Singer u. a.) Mensch im Sinne von Person ein biologisch gesehen von Menschen stammendes Leben nur, wenn es über empirisch feststellbare geistige Qualitäten (Freiheit, Selbstbewußtsein, bewußte Interessen usw.) verfügt. Das Personsein und die dementsprechende Würde wird mit diesen empirischen Qualitäten identifiziert, kommt also nicht dem Leben an sich zu . Wenn diese Qualitäten nicht entwickelt seien, entbehre das Leben der Würde, Person zu sein, ebenso, wie wenn es sie durch Krankheit und Versehrung verliert. Dann erlösche auch das Recht, als Person geachtet und behandelt zu werden. Die Tötung solchen Lebens sei keine Tötung einer Person und müsse deshalb kein Unrecht sein, wenn solches Leben anderen und der Gesellschaft zur Last werde und seine Tötung diese von dieser Last befreie und so deren Glück mehre .

Der entscheidende Fehler aller Befürworter der "Euthanasie" - der vorgeburtlichen, der Früheuthanasie, der Euthanasie bei Erwachsenen - besteht darin, daß sie die Würde und den Lebenswert als eine empirisch feststellbare Qualität betrachten, die nicht mit dem Leben zugleich gegeben ist und ihm zukommt, die deshalb auch durch Krankheit zerstört werden kann. Ein solches empiristisches Verständnis von Person und Personwürde fordert geradezu zu Lebenswerturteilen heraus.

Nach christlicher Sicht gründet die Würde, Mensch und zugleich Person zu sein, nicht in empirisch feststellbaren Qualitäten, sondern darin, daß Gott den Menschen zu seinem Ebenbild geschaffen und zu ewiger Gemeinschaft mit sich bestimmt hat . Diese Bestimmung wird nicht dadurch hinfällig, daß der Mensch ihr aufgrund einer pyschisch-geistigen Versehrung nicht oder nicht mehr entsprechen kann. Person ist der Mensch durch das, was Gott an dem Menschen und für ihn tut. Die Personwürde ist also eine "transzendente" Größe, die von Gott her jedem Augenblick des Lebens (also dem Organismus) bis zum Tod zugeordnet und zugeeignet ist und bleibt, daher nicht in Verlust geraten kann, wie versehrt auch immer Geist und Körper und damit die empirische Persönlichkeit sein mag. Entsprechend dieser unverlierbaren und - weil von Gott dem Leben zugeeigneten - unantastbaren Würde ist das gesamte Leben bis zum Tod zu achten und zu behandeln.

Nur wenn man - wie in der empiristischen und teils auch in der idealistischen Philosophie - die Person mit der Persönlichkeit identifiziert, kann man aus der mehr oder weniger großen Zerrüttung der Persönlichkeit schließen, daß es sich nicht mehr um ein menschenwürdiges und lebenswertes Leben handelt. Ein solches Urteil über den Lebenswert stellt eine tödliche Totalverfügung über das eigene oder das Leben anderer dar, die keinem einzelnen Menschen und erst recht nicht der Gesellschaft zusteht. Sie ist nicht befugt, ein Urteil über den Lebenswert zu fällen, dem Menschenleben Würde zu- oder abzusprechen, sondern nur aufgefordert, diese Würde und den Lebenswert als mit dem Leben selbst gegeben anzuerkennen und menschliches Leben entsprechend zu achten und zu behandeln.

In den wohlhabenden, rein auf das diesseitige Glück hin orientierten liberalen westlichen Gesellschaften besteht keine Klarheit mehr darüber, worin die Würde des schwer behinderten Menschenlebens und das Recht auf Leben und Fürsorge begründet ist. Dies hängt zutiefst mit der Säkularisierung unserer Denk- und Lebensweisen und der Ablehnung eines religiös begründeten Verständnisses vom Menschen zusammen. Wenn man nicht mehr akzeptiert, daß auch behindertes Menschenleben (nicht aber die Behinderung selbst) ebenso wie das "gesunde" Menschenleben von Gott geschaffen und zu seinem Ebenbild bestimmt ist und vollendet wird, dann kann es bei einer rein diesseitigen Betrachtung ohne Vollendung des irdischen Lebens zum ewigen Leben in der Tat "lebensunwertes" Leben geben. Welchen Sinn soll ein solches Leben haben, wenn nicht über seinem Leben ebenso wie über dem aller mehr oder weniger gesunden Menschen die Verheißung der Vollendung zum ewigen Leben und damit zugleich die der Einmaligkeit dieses von Gott geliebten irdischen Lebens steht?


2. Leidensfähigkeit und die Solidarität mit den Schwächsten

Diejenigen, die in unserer Gesellschaft den oft schweren Dienst an behinderten und pflegebedürftigen Menschen tun - die Eltern, die Angehörigen, die mit ihnen befaßten Berufsgruppen - sind darauf angewiesen, daß in der Gesellschaft Klarheit darüber besteht, worin die Würde, das Recht auf Leben und Fürsorge der von ihnen betreuten Menschen besteht, und daß ihre Tätigkeit eine gebührende und der Schwere der Aufgabe angemessene Wertschätzung erfährt. Nur auf diese Weise wird in unserer Gesellschaft eine menschenwürdige Fürsorge für die schwächsten Glieder der menschlichen Gemeinschaft zu gewährleisten sein. Es besteht die eindeutige Gefahr, daß die neuen medizinischen Methoden zur Verhütung der Geburt kranken Menschenlebens und der Zwang zur Gesundheit zunehmend zur Infragestellung des Rechts auf Leben ungeborener und geborener behinderter und chronisch kranker Menschen führt und daß dadurch auch das Ethos der Fürsorge für diese Menschen ausgehöhlt wird, daß die Betreuung und Pflege der "Unheilbaren" als "unnütze", "sinnlose" und gesellschaftlich "kontraproduktive" Tätigkeit und als überflüssige Vergeudung von personellen und finanziellen Ressourcen hingestellt wird.

Dies könnte sich zur Bedrohung des Rechts auf menschenwürdige Fürsorge, ja des Rechts auf Leben derjenigen Menschen ausweiten, die trotz einer immer perfekteren Prävention und Therapie doch mit Behinderungen geboren werden oder im Leben infolge von Krankheit, Unfall usw. unheilbar krank, schwerbehindert und pflegebedürftig werden.

Die Glorifizierung des autonomen, geistig hochstehenden (Philosoph) und des jugendlich vitalen Menschen (Athlet) war bereits in der Antike mit der wesentliche Grund für das fast völlige Fehlen eines Ethos der Barmherzigkeit und der Fürsorge für die schwächsten Glieder der Gesellschaft und für die Ausstoßung und Selektion der "Unheilbaren" und an Körper, Seele und Geist "Mißratenen" (vgl. Platon: Politeia 407.409 f.; Aristoteles: Politik VII,14). Gegen diese Ethik der Autonomie und Stärke vertrat die christliche Kirche - unter Berufung auf den "Christus medicus" - ein ausgesprochen antiselektionistisches Ethos der Barmherzigkeit, Solidarität mit und der Fürsorge für die Schwächsten der Gesellschaft.

Ein Menschenbild, das die Unheilbarkeit, das Siechtum, die Entmächtigung der Persönlichkeit nicht mitbedenkt, sondern nur an den höchsten geistigen und körperlichen Fähigkeiten, also nur an den Starken und ihrem Glück orientiert ist, stellt eine Gefahr für die schwächsten Glieder der Gesellschaft dar; denn es setzt als Gegenbild das Bild eines "glücklosen" und "lebensunwerten Lebens" aus sich heraus und macht unfähig, mit dem Leiden anders umzugehen, als es mit technischen oder "sozialtechnischen" Mitteln zu beseitigen - gegebenenfalls auch durch Ausmerzung der leidenden Menschen. Unsere Gesellschaft scheint in dem Maße unfähiger zu werden, Leiden anders als durch technische Beseitigung zu verarbeiten, in dem die Möglichkeiten der technischen Bekämpfung von Krankheit und Behinderungen zunehmen. Die Humanität einer Gesellschaft zeigt sich aber weniger daran, daß man die Leiden von Menschen "medizintechnisch" oder "sozialtechnisch" - z. B. durch präventive Selektion - beseitigt oder minimiert, als vielmehr daran, wie die Gesellschaft mit denen umgeht, die unheilbar krank, behindert und pflegebedürftig und die deshalb ins gesellschaftliche Abseits geraten sind. Sie entscheidet sich also daran, ob die Gesellschaft bereit und fähig bleibt zum einfühlenden und helfenden Mit-Leiden mit denen, die dem Lebensgenuß anderer scheinbar oder tatsächlich abträglich sind, die aber im Grunde zu einem tieferen Verständnis vom Sinn des Lebens und vom glückenden Leben herausfordern, zu dem auch die Fähigkeit zum Leiden und zum solidarischen "Mit-Leiden" gehört.

Was sich vordergründig als Hindernis für das Glück des Lebens darstellt, kann sich als Weg zu einem im tieferen Sinne gelingenden Leben erweisen. Die Achtung der Menschenwürde - insbesondere der behinderten und pflegebedürftigen Menschen - ist ein mindestens ebenso hochrangiges, wenn nicht gar höherrangiges Gut als die Gesundheit und das leidfreie Lebensglück. Wo der "Zwang zur Gesundheit" sich zur Bedrohung der Menschenwürde und der Fürsorge für die schwächsten Glieder der Gesellschaft zu entwickeln droht, müssen wir bereit sein, um der Wahrung der Menschenwürde und der Menschenrechte dieser Menschen willen auch auf therapeutische Fortschritte zu verzichten .


Zusammenfassung

Die neuen Methoden vorgeburtlicher, vor allem genetischer Diagnostik bestärken die Fiktion, ein Leben ohne Behinderungen sei planbar und technisch machbar, erzeugen den Anspruch auf ein gesundes Kind und mindern die Bereitschaft, ein behindertes Kind anzunehmen. Sie führen zusammen mit dem Streben nach einem von Leiden nicht behinderten glücklichen Leben zu einem "Zwang" zur Gesundheit und zur Selektion desjenigen Menschenlebens, das die einzelnen und die Gesellschaft am Erleben des höchstmöglichen "Lebensglücks" hindern, und zu dem Urteil, daß es "lebensunwertes" Leben gibt. Dem wird aus christlicher Sicht die Überzeugung entgegengestellt, daß die Würde und der Wert des Menschenlebens keine empirisch feststellbaren Qualitäten sind, die durch Krankheit und Behinderung zerstört werden können, und daß die Humanität einer Gesellschaft sich weniger an den technischen Möglichkeiten zur Verhinderung von Leiden als vielmehr daran zeigt, in welchem Maße sie zur Solidarität mit unheilbaren und schwer behinderten Menschen bereit ist.



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