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Schuld, Reue, Buße, Gnade


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Rolf

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Schuld, Reue, Buße, Gnade





Von Stefan Speicher


Stefan Chwin erzählt von Gott, dem Ich und einem sündenseligen Professor

Es ist eine aus den Fugen geratene Welt, in der Jakub aufwächst. Die Eltern, aus dem Osten Polens nach Danzig vertrieben, gelangten in eine verwüstete Stadt, die ihnen nicht zur Heimat wurde. Sie blieben die verwirrten Menschen, als die sie von weit her kamen. Dem neuen Frieden, der Wohnung, der stabilen Lebensmittelversorgung lernten sie nicht mehr zu trauen. Ihr Sohn hatte eine schöne Kindheit, doch las er gern, das dämpfte »den angeborenen Optimismus«. Dann, so heißt es, »fiel das Imperium«, für Jakub zur rechten Zeit. Er studiert mit Erfolg, bald lehrt er selbst Rechtsphilosophie. Er ist erfolgreich, aber verwunderlich bleibt sein Leben: »Für seine Worte bekam er eine bestimmte Anzahl von Banknoten, die man ihm jeden Monat höflich überreichte. Dafür konnte er sich Kefir, Eier, Obst, Gemüse, Fisch, Knöpfe, Hosen, Schuhe, eine Mütze und Ähnliches kaufen.«

Auch außerhalb seiner persönlichen Sphäre gerät alles ins Wanken. Kaum hat Jakub seine Lehrtätigkeit aufgenommen, entdeckt man in Labors, »dass der Mensch sich nicht wesentlich vom Radieschen oder der Fruchtfliege unterscheidet«; die Bulimie quält junge Frauen, »dünn wie Hostien«; in Afrika schlachten sich ganze Völker ab; die Monster »mit den weiblichen Namen Rezession, Inflation, Stagnation« gehen um.

Und doch spricht der Erzähler des Romans Der goldene Pelikan von einer Epoche der Ruhe, des Wohlstands und des Gleichgewichts – »alles in allem«. So sieht der Leser sein eigenes Leben ja wohl auch. Wie prekär dieses Gleichgewicht ist, erfährt Jakub, der Held des neuen Romans von Stefan Chwin, innerhalb von Wochen. Es ist ein heißer Sommertag, als er Aufnahmeprüfungen abzunehmen hat. In Reihen ziehen die Kandidaten vorbei, für jeden trägt er mit seinem goldenen Pelikan-Füller eine Note ein. Allein eine junge Frau beschwert sich am nächsten Tag, er habe ihr eine falsche Note gegeben, er wehrt sie kurz und unfreundlich ab. Wochen später schnappt er auf, es habe sich eine Studentin nach einer falschen Benotung umgebracht. Was er hört, ein Gerücht vorerst, reicht, ihn aus der Bahn zu werfen. Er gräbt die Akten der Polizei um, er fragt Pfarrer, Psychologen und Kollegen um Rat, Ruhe findet er nicht. Jedermann will begütigend einwirken, aber er lässt sich nicht begütigen. Er nimmt die Schuld auf sich, hartnäckig steuert er sein Lebensschiffchen in den Untergang. Mit Ladendiebstählen beginnt es, er überwirft sich mit seiner Frau, und als diese auszieht, gibt er seinen Beruf auf. Es folgt der Rauswurf aus der Wohnung. Jakub wird zum Stadtstreicher, obdachlos, hungrig, schmutzig, schutzlos unter anderen Obdachlosen, Irrender in einer fantastischen Unterwelt.

Aber es ist sein selbst gewähltes Schicksal. Der Leser wird wie Jakubs Ratgeber denken, dass dessen Verhalten unschön war, aber kein Mord. Er wird die Schuldgefühle übertrieben finden und die Bereitschaft, die bürgerliche Existenz als Buße hinzuopfern, sinnlos: Geholfen wird so niemandem. Immerhin könnte die Bereitschaft, eigenes Versagen als Schuld zu empfinden, Pflichtgefühl und Nächstenliebe stärken. Doch darum geht es dem Helden nicht. Im Schuldgefühl stellt er die Frage, wer er ist. Nacheinander spricht er mit drei Priestern, beichtet auch. Doch was er will, ist nicht die Absolution. Er will in der Schuld verharren, sein Handeln und seine Person ernst genommen wissen. Chwin lässt ihn Augustinus zitieren: »Ich bin es, nicht das Schicksal, nicht das Glück, nicht der Teufel.« Inmitten aller Relativierung durch Geschichte, Gesellschaft und Wissenschaft wird ein fester Punkt gesucht. Und der letzte feste Punkt ist das Subjekt, sei es auch im Untergang.

Doch der reuige Sünder ist Gott lieb. Am tiefsten Punkt erfährt Jakub das Erbarmen einer jungen Frau – richtig, es ist jene Studentin, deren Selbstmordversuch im letzten Moment entdeckt worden war. Ein zweites Mal ist unser Held schuldig geworden, doch muss er sich nicht mehr lange in dieser Welt quälen. »Eine leichte Helligkeit umgab ihn, voller Licht und Glanz«. Voller Licht und Glanz und dann nur eine leichte Helligkeit? Egal. Er sieht noch eine eiserne Waage vor sich, die Münze, die er hervorzieht, glänzt »wie eine Hostie«. Glänzt eine Hostie wirklich? Diese schon. Mit Tod und Verklärung endet Der goldene Pelikan.

Keine Frage: Das ist eine Heiligenlegende. Die Stationen sind überdeutlich: Aufstieg (mit Zeichen der Gefährdung) – Glück – Schuld – Reue – Buße – Gnade und Versöhnung mit Gott und den Menschen. Der Pelikan, das ist ein Schreibgerät, aber vor allem jener Vogel, der in der christlichen Ikonografie Christus symbolisiert, weil er sich die Brust aufhackt, um mit dem Blut seine Jungen zu nähren. Auch die Sprache in ihrer kalkulierten Schlichtheit, dem Erstaunen der Unschuld über die wirre Welt, gehört der Sphäre einfacher Erzählform an und dazu das Erzählen nach der zeitlichen Abfolge der Ereignisse.

Geht das heute noch? Die Frage liegt nahe, aber man muss sich von ihr nicht schrecken lassen. Sie setzt eine Geschichtsphilosophie voraus, die den historischen Prozess als Fortschritt versteht und im Alten immer schon Naivität, wenn nicht Reaktion vermutet. Wer darauf nicht vertraut, wird sich auch eine Legende erzählen lassen, unter bestimmten Voraussetzungen selbstverständlich. Dem Autor des Goldenen Pelikan ist das schon klar, er ist nicht umsonst Literaturwissenschaftler. So hat er manches getan, die Struktur der Legende mit den Erfahrungen der Gegenwart zu verknüpfen. Aber es zeigt sich, dass das nicht einfach ist.

Jakub erlebt Schuld als Gottferne. Von Gott angesehen zu werden, und sei es im Zorn, das ist seine Sehnsucht. Die umgekehrte Erfahrung der Nichtigkeit scheint wirklich modern zu sein; die Bilder Edward Hoppers haben darin ihre Größe (und Popularität). Immer wieder Menschen im Fenster, auf der Veranda oder einer Bühne vor leeren Stuhlreihen, Menschen, die sich zeigen vor niemandem, ein Schauspiel aufführen ohne Zuschauer. Herman Melvilles Schreiber Bartleby sitzt an einem Fenster, das auf eine drei Fuß entfernte Mauer hinausgeht.

Und so ist Jakub nicht von vornherein schon uninteressant oder lächerlich. Heikel ist allerdings bereits, dass nicht nur Qual und Leere (wie bei Melville), sondern die Erlösung gezeigt werden soll; da brauchte es, wenn es überhaupt gelingen kann, andere Kräfte als das Hinwerfen eines Wortes aus der Liturgie: Hostie. Der Punkt aber, an dem die Konstruktion des ganzen Romans scheitert, ist Chwins Technik, religiöses Erleben mit Alltagserfahrungen zu koppeln. Jakubs Sündenseligkeit ist der Versuch, sich im Schmerz seiner Seele zu vergewissern. Dies aber hat ein Vorspiel. Als Kind wurde er achtlos von seiner Mutter behandelt. In der Ehe macht er nun die gleiche Erfahrung, er und seine Frau leben nebeneinander her. Den Psychologen, der ihm den Zusammenhang erläutert, wehrt Jakub ab, er will sich sein metaphysisches Problem nicht weganalysieren lassen. Doch das rettet die Konstruktion nicht. Denn gerade weil die Eheszenen das Beste, Genaueste des Romans sind, wird der Zusammenhang von Ehekrise und Gottsuche unabweisbar. Von hier aus sieht man die Größe Melvilles: Bei aller Anschauung entfaltet sich das metaphysische Problem in der Abstraktion. Wir erfahren nicht viel über Bartleby, wie auch das Personal Hoppers ort- und geschichtslos im kalten Licht steht. Dort hat die Lage einen Ernst, der sich nicht aus individuellem Missgeschick ableitet. Die Dringlichkeit letzter Fragen wächst aus der Diskretion dieser Kunst heraus.

Chwin aber will Transzendenz durch Detailrealismus herbeischreiben. So wird Gott zum Trost in den Schrecken bürgerlicher Familienbeziehungen, ein Heilmittel der Psychopathologie. Und so funktioniert auch die Chwinsche Zeitkritik, die Verweise auf die Ungereimtheiten der Gegenwart wie bulimische Mädchen oder die Nähe von Mensch und Fruchtfliege in den Arbeiten der Mikrobiologen. Hier liegen Probleme, gewiss, aber sie haben Gründe. Wer davon nicht spricht und lieber gleich ins Metaphysische ausweicht, der hat von Gott offenbar die Meinung, er sei der Allzweckreiniger für die dunklen Stellen unseres Lebens. Mit dem »Kinder, was sind das für Zeiten«-Geseufze ist nichts über die Zeiten gesagt und über Religion nur, dass sie manchem ein Halt sein kann.

Stefan Chwin: Der goldene Pelikan

Roman; Hanser Verlag, 2005; 300 S., 19,90 €
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